MEDIZIN: Zur Fortbildung
Das neurovaskuläre Kompressionssyndrom der oberen Thoraxapertur: Eine wichtige Differentialdiagnose für Beschwerden im Bereich der oberen Extremität
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Das neurovaskuläre Kompressionssyndrom der oberen Thoraxapertur (Thoracic-outlet/inlet-Syndrom, TOS/TIS) stellt eine wichtige Differentialdiagnose für sämtliche Erkrankungen zwischen Halswirbelsäule und Hand dar. Aufgrund der Vielfältigkeit der Symptome müssen profunde Kenntnisse über die jeweiligen anatomischen Gegebenheiten und die vorhandenen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten bei allen beteiligten medizinischen Fachkollegen vorhanden sein. Angesichts der besonderen anatomischen Gegebenheiten im Bereich der oberen Thoraxapertur drohen bei Fehldiagnose und invasiver Therapie schwere Komplikationen.
Key words: neurovascular compression syndrome,
thoracic outlet syndrome, transaxillary resection,
cervical rib
The accurate diagnosis of the neuro-vascular compression-syndrome of the upper thoracic aperture (thoracic
outlet/ inlet syndrome TOS/TIS) is challenging because of the
wide range of presenting symptoms. It is characterized above all by compression of the brachial plexus and by
accompanying vascular damage. Diagnosis of thoracic outlet/inlet syndrome requires a multidisciplinary
approach as well as an accurate knowledge of the relevant anatomy, diagnostic and therapeutic modalities.
Unter dem Terminus des neurovaskulären Kompressionssyndroms der oberen Thoraxapertur ("Thoracicoutlet/inlet-Syndrom") werden fünf Einzelsyndrome zusammengefaßt, die alle durch eine Kompression der
Leitungsbahnen im Bereich der oberen Thoraxapertur eine vielgestaltige Symptomatik auslösen. Unter
Einbeziehung des Kompressionsmechanismus und der Art der Symptome (neural, arteriell oder venös) können
die Einzelsyndrome gut gegeneinander abgegrenzt werden.
Beim Halsrippensyndrom kann sowohl eine Affektion der Arteria subclavia und/oder des Plexus brachialis, nie
aber eine Affektion der Vena subclavia gefunden werden (Abbildung 1a). Bei Kompression zwischen dem
Musculus scalenus anterius und medius kann die Diagnose eines Scalenus-anterior-Syndroms gestellt werden
(Abbildung 1b). Eine Sonderform dessen stellt das Scalenus-minimus-Syndrom dar, das durch den
gleichnamigen Muskel verursacht wird, der die enge Scalenuslücke zusätzlich verengt (Abbildung 1c). Wird der
Gefäß-Nervenstrang beim Heben des Armes durch den Ansatz der Sehne des Musculus pectoralis minor am
Processus coracoideus abgewinkelt und komprimiert, wird dies als Pectoralis-minor- oder
Hyperabduktionssyndrom bezeichnet (Abbildung 1d).
Beim kostoklavikulären Syndrom wird der Gefäß-Nervenstrang zwischen Klavikula und erster Rippe eingeengt.
Hierbei ist auch eine Beteiligung der Vena subclavia möglich (Thoracic-inlet-Syndrom) (Abbildung 1e).
Auch durch angeborene Fehlbildungen wie Exostosen und Fusionen zwischen Rippen oder durch in Fehlstellung
oder mit überschießender Kallusbildung verheilte Klavikulafrakturen kann ein Kompressionssyndrom ausgelöst
werden.
Symptomatik
Der Patient zeigt, abhängig vom vorliegenden Kompressionsmechanismus, neurologische und/oder vaskuläre
Symptome. In vielen Fällen führt erst die jeweilige Komplikation zu richtungweisender Diagnostik.
Irritation des Plexus führt zu Schmerzen, Dysästhesien und Muskelschwächen bis hin zu Lähmungen. Bei
Kompression der Arterie kommt es vor allem bei Elevation des Armes zu Pulsverlust der A. radialis. Außerdem
tritt Kältegefühl an der Hand bis hin zur Zyanose in Verbindung mit Kraftverlust auf.
Auf dem Boden einer Stenose kann es zu poststenotischer Aneurysmabildung mit Bildung von Thromben und
davon ausgehend zu arteriellen Embolien kommen. Die Kompression der Vene führt zu venöser
Stauungsproblematik mit Schweregefühl und Schmerzen bis hin zur Ausbildung einer akuten
Axillarvenenthrombose. Lungenembolien sind dagegen äußerst selten.
Diagnostik
Klinische Untersuchung
Die Anamnese prüft das Vorliegen der typischen Symptome. Im Rahmen einer ausführlichen klinischen
Untersuchung können unter bestimmten Provokationsstellungen eventuell Stenosegeräusche in der Axilla
auskultiert werden. Der alleinige Pulsverlust über der A. radialis bei Elevation des Armes hat ohne
entsprechende Klinik keinen Krankheitswert.
Die klinische Untersuchung alleine kann das Vorliegen eines TOS/TIS nicht beweisen, sondern lediglich die
Verdachtsdiagnose erhärten; diese muß dann durch bildgebende Verfahren weiter abgeklärt werden.
Bildgebende Verfahren
Eine konventionelle Röntgenaufnahme kann das Vorliegen von Halsrippen beweisen; häufig sind diese als
Zufallsbefund auf Röntgenthoraxaufnahmen zu erkennen (Abbildung 2a). Steht eine arterielle Symptomatik im
Vordergrund, kann eine Angiographie in Neutralstellung (Abbildungen 2b und c) und Provokationsstellung
(Abbildung 2d) das TOS beweisen. Bei vorherrschender venöser Symptomatik oder Thromboseverdacht (TIS)
sollte eine Phlebographie durchgeführt werden.
Im Bereich der nichtinvasiven bildgebenden Diagnostik kommt zunehmend die Doppler- oder
Duplexsonographie zum Einsatz. Neue Magnetresonanztomographie-Techniken bieten bereits die Möglichkeit
der Angiographie ohne Kontrastmittelgaben und werden sicher in Zukunft die diagnostischen Möglichkeiten
weiter verbessern.
Differentialdiagnostik
Angesichts der vielgestaltigen Symptomatik müssen entsprechend viele Differentialdiagnosen aus
verschiedenen Fachbereichen bedacht und in die Untersuchung mit einbezogen werden. Bei neurologischen
Symptomen müssen sämtliche Störungen zwischen spinaler zervikaler Nervenwurzel und peripherem Nerv als
mögliche Differentialdiagnosen bedacht werden (Radikulopathie C8/Th1, Plexopathie, Sulcus-ulnaris-Syndrom,
Karpaltunnelsyndrom), außerdem kommen auch neurologische Systemerkrankungen, wie beispielsweise
Multiple Sklerose, in Betracht. Die Möglichkeit der Koinzidenz eines TOS/TIS mit einem Karpaltunnelsyndrom,
welches in der Literatur auch als sogenanntes "double crush syndrome" bezeichnet wird, sollte den Untersucher
bei jedem nachgewiesenen Karpaltunnelsyndrom an ein TOS/TIS denken lassen. Venöse Symptomatik, in der
Hauptsache einseitige Schwellung des Armes, erfordert den Ausschluß einer Thrombose aus anderer Ursache
und den Ausschluß eines Ödems auf dem Boden einer Lymphabflußstörung. Beim Vorliegen einer arteriellen
Symptomatik können Durchblutungsstörungen anderer Genese verursachend sein; bei akuten Embolien müssen
kardiale Emboliequellen ausgeschlossen werden.
Therapie
Konservativ
Bei leichter bis mittelschwerer Symptomatik ist ein konservativer Therapieversuch gerechtfertigt, der durch
krankengymnastische Übungsbehandlung eine Beschwerdebesserung erzielen soll. Die konservative Therapie
verhindert im Einzelfalle aber nicht die Entstehung vaskulärer Komplikationen.
Operativ
Bei schwerer Symptomatik und beim Auftreten von Komplikationen (vor allem vaskuläre Komplikationen)
besteht die Indikation zur Operation. Dringliche Operationsindikation besteht auch ohne vorhergehende
Komplikationen beim Vorliegen von knöchernen Anomalien der oberen Thoraxapertur, da diese das Auftreten
von vaskulären Komplikationen begünstigen. Das Operationsprinzip besteht in einer Erweiterung der oberen
Thoraxapertur durch Resektion der ersten Rippe und eventuell bestehender Halsrippen, meist über einen
transaxillären Zugang, unter sorgfältiger Schonung des Gefäß-Nerven-Stranges und der benachbarten Pleura.
Erfahrungen im Diakonissenkrankenhaus Karlsruhe-Rüppurr mit über 80 transaxillären Resektionen zeigten in
84,5 Prozent gute bis zufriedenstellende Ergebnisse, in 15,5 Prozent ein ungenügendes Resultat. Bei zwei
Patienten zeigten sich im Verlauf andere Diagnosen als ursächlich für die Symptomatik (Multiple Sklerose,
Nucleus-pulposus-Prolaps). Die Komplikationsrate war mit 46,3 Prozent relativ hoch, nur selten waren aber die
Komplikationen schwer, so daß etwa jede zehnte der Komplikationen einen nachteiligen Einfluß auf das
Endergebnis hatte.
Resümee
Das neurovaskuläre Kompressionssyndrom der oberen Thoraxapertur ist durch seine bunte Symptomatik gegen
zahlreiche Differentialdiagnosen aus den verschiedenen Fachbereichen abzugrenzen (7, 8, 10, 11, 18, 19). Bei
Patienten mit leichten bis mittelschweren Symptomen ist ein konservativer Therapieversuch mittels
Krankengymnastik gerechtfertigt (2, 7, 8, 11). Bei schweren Symptomen und Komplikationen gilt die
chirurgische, meist transaxilläre Resektion als Therapie der Wahl (1, 2, 3, 6, 7, 12, 13, 14, 15, 16). In der
internationalen Literatur der letzten Jahre sind über 3 000 Fälle von transaxillären Resektionen aufgeführt. Die
Ergebnisse von 81,4 Prozent gut bis zufriedenstellend (50 bis 93 Prozent) lassen sich gut mit unserem Ergebnis
(84,5 Prozent gut bis zufriedenstellend) vergleichen. Bei falscher Indikationsstellung drohen zum Teil schwere
Komplikationen (4, 5, 9, 10, 11, 17), die sich aufgrund der besonderen anatomischen Gegebenheiten im Bereich
der oberen Thoraxapertur ergeben. In unserem Patientengut war retrospektiv bei zwei Patienten die Indikation
zur Operation falsch gestellt worden (MS, NPP), was die Wichtigkeit zum Ausschluß der verschiedenen
Differentialdiagnosen (2, 11, 19) und die Forderung nach einer hohen Diagnosesicherheit (8, 10) unterstreicht.
Da aufgrund der vielfältigen Symptome viele Disziplinen in Diagnostik und Therapie eingebunden sind, müssen
profunde Kenntnisse bei allen beteiligten Fachkollegen vorhanden sein.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-736-739
[Heft 13]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Wolfram Wenz
Stiftung Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg
Abteilung Orthopädie II -
Schwerpunkt Rehabilitationsmedizin
Schlierbacher Landstraße 200 a
69118 Heidelberg
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