THEMEN DER ZEIT: Berichte
Berufsgenossenschaften: Präventionsauftrag soll erweitert werden


Die Berufsgenossenschaften", klagte Dr. Walter Eichendorf vom HVBG, "werden oft als Rentenquetschen
bezeichnet. Diskutiert wird aber zumeist, ohne daß der rechtliche, statistische und volkswirtschaftliche
Hintergrund hinreichend geklärt wäre." Berufskrankheiten hätten sich daher zu einem Reizthema entwickelt,
meinte der Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des HVBG bei der Vorstellung der neuesten Daten zu
Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen im Jahr 1995. Die Daten der Arbeits- und Wegeunfälle stellten die
Berufsgenossenschaften vor ein Rätsel. Während die Arbeitsunfälle um 4,6 Prozent niedriger ausfielen und die
davon tödlich ausgehenden Unfälle (1 204) um 3,7 Prozent sanken, erhöhte sich die Quote der Unfälle auf dem
Weg von und zur Arbeit um 7,8 Prozent auf 206 385. Eine schlüssige Erklärung dafür gebe es bis jetzt noch
nicht.
Anerkennungsquote unverändert
Eine erfreuliche Tendenz seien die abermals rückläufigen Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit um 6,6
Prozent gegenüber dem Vorjahr auf nunmehr 78 348. Von 80 465 entschiedenen Fällen habe sich bei 28 096
der Verdacht einer Berufskrankheit bestätigt. Dies entspreche einer auch im Vorjahr erreichten
Anerkennungsquote von rund 35 Prozent. In 6 724 Fällen sei eine Berufskrankheitenrente bewilligt worden.
Eichendorf unterstrich, daß "die Rentenzahlung nicht das Thema der Berufsgenossenschaften sein kann". Die
Berufsgenossenschaften seien für die möglichst optimale Rehabilitation der Erkrankten zuständig. Dies reiche
von der medizinischen Behandlung bis hin zur beruflichen Wiedereingliederung. Wenn beispielsweise ein
Frisör an einer beruflich verursachten Hauterkrankung leide und seinen Beruf aufgeben müsse, finanziere die
Berufsgenossenschaft notwendige Weiterbildungen oder Umschulungen. Zudem hob Eichendorf hervor, daß
die Berufsgenossenschaften nur eine beratende Funktion im Ärztlichen Sachverständigenbeirat hätten und
nicht darüber entscheiden würden, welche Erkrankungen in die Berufskrankheiten-Liste der Bundesregierung
aufgenommen werden.
Die Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten sind nach Ansicht von Dr. Helmut Blome vom
Berufsgenossenschaftlichen Institut für Arbeitssicherheit oft sehr kompliziert und schwer zu durchschauen. So
bereite die Beurteilung einer Erkrankung Probleme, wenn schädigende Einwirkungen Jahrzehnte zurückliegen
und Arbeitsverfahren längst von der technischen Entwicklung überholt worden seien. Auch die
"multifaktorielle Verursachung" von Erkrankungen führe dazu, daß außerberufliche Ursachen nicht immer
ausgeschlossen werden könnten. Daher bemühten sich die Berufsgenossenschaften um beschleunigte
Feststellungsverfahren, indem sie zum Beispiel Arbeitsplätze rekonstruieren oder Arbeitsverfahren nachstellen.
Blome dazu: "In einer Gießerei wurde in den 60er Jahren eine besondere Art des Formtrocknens angewendet.
Die Verfahren wurden jetzt nachgestellt und dabei hohe Konzentrationen krebserzeugender polyzyklischer
aromatischer Kohlenwasserstoffe festgestellt. Betroffene Mitarbeiter wurden daraufhin schnell entschädigt."
Definition von "Faserjahren"
Des weiteren würden die Berufsgenossenschaften Expositionstabellen und Gefährdungskataster erstellen, wenn
es um Dosismaße als Grenzwerte gehe. Ein Beispiel hierfür sei die Festlegung exakter Definitionen von
"Faserjahren" oder "Staubjahren", die der an Lungenkrebs oder chronischer Bronchitis Erkrankte aufweise. Im
Falle von asbestverursachten Krebserkrankungen ließen sich so Faserjahre durch das Produkt aus der
Asbestfaserkonzentration und der Dauer der Faserexposition genau errechnen. Dadurch würden die rechtlichen
Voraussetzungen für die Anerkennung präzisiert.
Präventionsauftrag nicht zum "Nulltarif"
Derzeit beraten die parlamentarischen Gremien über einen Regierungsentwurf, der die gesetzliche
Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch VII eingliedern soll. "Damit hätten wir dann wieder eine
einheitliche Grundlage für das Sozialversicherungsrecht", begrüßte der Hauptgeschäftsführer des HVBG, Dr.
Günther Sokoll, den Gesetzentwurf. Er sei zwar nicht mit einer grundlegenden inhaltlichen Reform verbunden,
doch sehe er durchaus bedeutende Neuregelungen vor. So soll der berufsgenossenschaftliche Präventionsauftrag
auf die Abwehr aller arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren ausgedehnt werden. Dadurch könnten die
Berufsgenossenschaften rechtlich auch präventive Maßnahmen ergreifen. "Der bisherige Präventionsauftrag,
der nur auf Arbeitsunfälle und die eng definierten Berufskrankheiten bezogen ist, greift zu kurz.
Vorsorgemaßnahmen müssen getroffen werden, auch wenn die Gefahr einer Berufskrankheit noch nicht
nachgewiesen werden kann." Als Beispiel führte Sokoll die Gesundheitsgefahren an einem
Bildschirmarbeitsplatz an. Auf die Frage, ob die Neuregelung mit einer Beitragssteigerung in der
Unfallversicherung verbunden sei, antwortete der Hauptgeschäftsführer: "Die Finanzierung der
Unfallversicherung steht auf einem stabilen Fundament. Ein erweiterter Präventionsauftrag kann nicht zum
Nulltarif ins Leben gerufen werden. Er würde jedoch nur zu unwesentlichen Beitragssteigerungen führen."
Dr. Sabine Glöser
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