ArchivDeutsches Ärzteblatt34-35/2011Initiative gegen überflüssige Operationen: Zweitgutachten per Fernberatung

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Initiative gegen überflüssige Operationen: Zweitgutachten per Fernberatung

Siegmund-Schultze, Nicola; Hibbeler, Birgit

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Die Zahl der Operationen in Deutschland steigt. Gerade bei elektiven Eingriffen werden offenbar die Indikationen zum Teil weit gestellt. Nun bieten Ärzte über ein Online-Portal Zweitgutachten an. Es gibt Zustimmung, aber auch Bedenken.

Als die Barmer-GEK im vergangenen Jahr ihren Krankenhausreport vorstellte, waren selbst Experten überrascht. Zwischen 2003 und 2009 war die Rate der Erstimplantationen von Hüftgelenkendoprothesen um neun Prozent gestiegen, die der Kniegelenkendoprothesen sogar um 43 Prozent – die demografischen Änderungen

jeweils berücksichtigt. Zugleich hatte sich die Rate der Revisionseingriffe bei Hüftendoprothesen um 41 Prozent und bei Knieendoprothesen um 117 Prozent erhöht, auch dies bereits altersbereinigte Zunahmen.

Es gibt Hinweise darauf, dass in Deutschland zu viel operiert wird. Das meinen Prof. Dr. med. Hans-Peter Bruch, Uniklinik Lübeck, Präsident des Berufsverbandes Deutscher Chirurgen, und Prof. Dr. med. Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Eine weitgestellte Indikation für die Operation ist nicht unbedingt zum Wohl des Patienten: Er trägt das Risiko des Eingriffs, bei häufig fraglichem Nutzen.

Eine Gruppe von Ärzten, bislang vor allem aus dem Bereich der orthopädischen Chirurgie, möchte dem entgegenwirken. Initiiert von dem Heidelberger Chirurgen Prof. Dr. med. Hans H. Pässler haben die Ärzte das Internetportal „Vorsicht Operation“ eingerichtet (www.vorsicht-operation.de). Darüber sollen sich Patienten nun eine Zweitmeinung einholen können. Sie beantworten online Fragen zu Beschwerden und Anamnese und senden Röntgenbilder und kernspintomographische Aufnahmen elektronisch an die Gutachter. Die Honorare liegen zwischen 200 und 600 Euro. Einige Krankenkassen prüfen, die Kosten dafür zu tragen.

Überflüssige OPs vermeiden

„Die Idee des Portals ist ein richtiges Signal, um das Bewusstsein in der Öffentlichkeit, aber auch in unserer eigenen Profession dafür zu stärken, dass wir unnötige Operationen vermeiden müssen“, sagte Bauer im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Auch Hans-Peter Bruch hält die Intention für richtig, eine ärztliche Zweitmeinung sei ein „wichtiger Baustein einer transparenten und ausgewogenen Patienteninformation“. Sie sei allerdings schon gängige Praxis und werde von den Krankenkassen bezahlt – bei deutlich günstigeren Honoraren.

Wie sinnvoll sind Gutachten per Fernberatung? „Das große Problem eines Online-Portals sehe ich darin, dass der direkte Kontakt mit dem Patienten fehlt“, erklärte Bruch. Es sei für jede ärztliche Beratung wichtig, dass der Arzt selbst untersuche, dass er die Person, ihre Wünsche, das soziale Umfeld kenne und bei der Indikationsstellung berücksichtige. Nur in Ausnahmefällen werde von dieser Praxis abgewichen. „Vor allem bei einem weiten Ermessensspielraum für eine Indikation sollte man sich sehr vorsichtig ausdrücken, wenn man den Patienten nicht kennt“, sagte Bruch.

Pro Jahr werden in Deutschland mehr als 13 Millionen Operationen vorgenommen (Bundesamt für Statistik 2010). Von 2005 bis 2008 stieg ihre Zahl um circa 1,5 Millionen. Am Bewegungsapparat wird am häufigsten operiert. Führend sind die arthroskopischen Interventionen (circa 600 000): am Gelenkknorpel, an den Menisken, an der Synovialis und in Form der arthroskopischen Gelenkrevision.

Die Datenlage spricht nach Meinung einiger Ärzte bei einem Teil der Therapien gegen die Indikation. So hatte eine randomisierte Studie 2002 ergeben, dass die arthroskopische Lavage oder das Debridement bei Patienten mit Knieschmerzen und Gelenkarthrose nicht effektiver war als eine Scheinoperation (NEJM 2002; 347: 81–8). Eine spätere randomisierte Studie bestätigte: Die Wirksamkeit einer arthroskopischen Intervention kombiniert mit einer konservativen Therapie war bei Osteoarthritis am Knie nach sechs und 24 Monaten nicht höher als bei konservativer Therapie alleine (NEJM 2008; 359: 1097–107). „Die Zahl der arthroskopischen Eingriffe dürfte über dem medizinisch Sinnvollen liegen“, sagte Bauer.

Auch bei Vertebroplastien ist die Effektivität strittig. Zwei im Jahr 2009 publizierte randomisierte Studien konnten keinen signifikanten Effekt auf Schmerz und Wirbelsäulenfunktion durch Injektion von Knochenzement bei osteoporotisch bedingten Wirbelfrakturen finden (NEJM 2009; 361: 557–68 und 569–79). „Die Europäische Kommission hat angefragt, warum in Deutschland achtmal so viele Vertebroplastien pro Million Einwohner vorgenommen werden wie in Frankreich“, berichtete Bauer. „Wir konnten die Frage nicht beantworten. Uns fehlen Patientendaten, die Befunde und Indikationen ausweisen.“ Hier könne das geplante Versorgungsstrukturgesetz Abhilfe schaffen, indem Daten der Patientenversorgung in anonymisierter Form den relevanten Forschungsinstitutionen und den Fachgesellschaften zur Verfügung gestellt würden. Gründe für den Zuwachs an Operationen gerade bei elektiven Eingriffen sieht Prof. Dr. med. Peer Eysel, Uniklinik Köln, in geringer Leidensbereitschaft der Patienten bei hoher Technologiegläubigkeit und in der Vergütung. Auch Eysel gibt Zweitmeinungen nur nach persönlicher Beratung und Untersuchung ab. „Für standardisierte Eingriffe sollten Fachgesellschaften Leitlinien zur Indikation erstellen“, meint Eysel. „Es gibt zum Beispiel für die Wirbelsäulenchirurgie degenerativer Erkrankungen keine einheitlichen Indikationsschemata. Dasselbe Röntgenbild führt bei zehn Ärzten zu zehn unterschiedlichen Ratschlägen.“

Ökonomischer Druck, die Finanzierung der stationären Versorgung über Fallpauschalen, aber auch Mindestmengenregelungen zur Qualitätssicherung könnten Fehlentwicklungen fördern. „Wenn sich eine Klinik ein Segment erhalten möchte und es fehlt Ende Dezember noch genau eine Knieendoprothesenimplantation, kann man sich schon vorstellen, dass im Einzelfall eine Indikation weit gestellt wird“, sagte Bruch. Aber das sei sicher die Ausnahme. Mit dem Slogan des Portals „Vorsicht Operation“ würden Ärzte unter Generalverdacht gestellt: „Das könnte ein prinzipielles Misstrauen hervorrufen und das Arzt-Patienten-Verhältnis stören. Die meisten Kollegen verhalten sich korrekt.“ Das Landessozialgericht Berlin hält den Mindestmengenbeschluss vom Gemeinsamen Bundesausschuss für die Knieendoprothesen für nicht zulässig. Das erst kürzlich gefällte Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig (dazu auch Seite eins).

Sinnvolle Debatte angestoßen

Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, sieht nicht, dass in Krankenhäusern zu viel operiert wird. Finanzielle Gründe spielten bei einer OP keine Rolle. „Die Entscheidung zur Operation fällt allein aufgrund der medizinischen Indikation“, betonte Baum. Gerade bei langwierigen Krankheitsverläufen wie Hüft- oder Knieleiden werde die Entscheidung nicht leichtfertig getroffen.

Der GKV-Spitzenverband begrüßt, dass mit „Vorsicht Operation“ eine Diskussion über Fehlentwicklungen in Gang gekommen sei. „Die Initiative zeigt, dass sich auch innerhalb der Ärzteschaft die Erkenntnis durchsetzt, dass es immer wieder auch unnötige Operationen gibt“, teilte Verbandssprecher Florian Lanz auf Anfrage mit. Dass die Krankenkassen die Beratung im Internet bezahlen, kann sich Lanz aber nicht vorstellen. „Wenn wir Online-Zweitmeinungen regelhaft bezahlen würden, dann würden wir akzeptieren, dass die Qualität bei der medizinischen Diagnose und Beratung so schlecht ist, dass dies notwendig wird“, erklärte Lanz. Es gelte, dafür zu sorgen, dass solche Portale, so hilfreich sie im Einzelfall sein könnten, insgesamt nicht notwendig seien.

Der Medizinrechtler Dr. jur. Albrecht Wienke aus Köln hat berufsrechtliche Bedenken: Die Teilnahme deutscher Ärzte am Portal mit Sitz in der Schweiz könnte gegen die (Muster-)Berufsordnung verstoßen. Dort heiße es in § 7 Absatz 3, dass Ärztinnen und Ärzte individuelle Behandlung, insbesondere auch Beratung, weder ausschließlich brieflich noch in Zeitungen oder Zeitschriften noch ausschließlich über Kommunikationsmedien oder Computerkommunikationsnetze durchführen dürften. Die Ärztekammer Nordrhein etwa habe diesen Passus unverändert in die Berufsordnung übernommen. Da eine Beratung ohne Patientenkontakt nicht ausnahmsweise, sondern systematisch angeboten würde, sei sie berufsrechtlich bedenklich, sagte Wienke.

Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze

Dr. med. Birgit Hibbeler

3 Fragen an . . .

Prof. Dr. med. Hans H. Pässler (71), Chirurg und Unfallchirurg, Initiator von www.vorsicht-operation.de

Primum nil nocere – dem Patienten nicht schaden: Haben die Ärzte diesen Grundsatz vergessen?

Pässler: So ist es. Das liegt aber nicht an den Ärzten selbst, sondern daran, dass unsere Medizin sehr kommerzialisiert ist. Da wird dann schon einmal die eine oder andere Indikation gestellt, die nicht notwendig wäre. So ufern die OP-Zahlen aus. Das ist ein Systemfehler. Die Ärzte werden da hineingelockt und sind darin gefangen.

Wie sind die Reaktionen auf Ihr Internetportal? Gibt es auch Kollegen, die Sie als Nestbeschmutzer sehen?

Pässler: Bisher sind die Reaktionen positiv. Es haben sich sogar noch weitere Kollegen gemeldet, die auch gern mitmachen wollen. Von Patientenseite ist das Interesse wahnsinnig groß. Wir hatten schon Tage mit mehr als 100 000 Klicks.

Geht es Ihnen um die Zweitmeinung in Einzelfällen oder wollen Sie eine grundlegende Debatte anstoßen?

Pässler: Sicher ist eine grundlegende Debatte notwendig. Im Krankenhaus haben wir die leidigen DRGs und Mengenvereinbarungen, die man nicht unterschreiten will. Auch ambulante Operateure stehen unter wirtschaftlichem Druck. Für uns Experten im Ruhestand geht es aber bei unserem Angebot zur Online-Zweitmeinung auch darum, eine schöne und sinnvolle Aufgabe zu haben.

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