ArchivDeutsches Ärzteblatt14/1998Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Außerhalb der wissenschaftlichen Medizin stehende Methoden der Arzneitherapie

THEMEN DER ZEIT

Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Außerhalb der wissenschaftlichen Medizin stehende Methoden der Arzneitherapie

Müller-Oerlinghausen, Bruno; Lasek, Rainer; Haustein, Knut-Olaf; Höffler, Dietrich

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LNSLNS Der folgende Beitrag ist das Ergebnis einer Diskussion im Rahmen der letzten Plenarsitzung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, einem Fachausschuß der Bundesärztekammer, im Dezember 1997. Er gibt in einer Zeit, die durch Qualitätssicherung, beleggestützte Medizin und knappe finanzielle Ressourcen gekennzeichnet ist, die Meinung der Arzneimittelkommission zu sogenannten alternativen arzneitherapeutischen Methoden wieder.
Situation
In einer Zeit, in der im Gesundheitswesen Fragen der Qualitätssicherung und Finanzierbarkeit zunehmend an Bedeutung gewinnen, ist eine rationale, das heißt wissenschaftlich fundierte Nutzung der zur Verfügung stehenden Mittel zu fordern. Dies ist bereits seit langem im Sozialgesetzbuch V (§ 70 Abs. 1) formuliert: "Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Die Versorgung der Versicherten muß ausreichend und zweckmäßig sein, darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muß wirtschaftlich erbracht werden." Die moderne Medizin wird im Rahmen der Qualitätssicherung das gesamte Spektrum diagnostischer und therapeutischer Methoden an diesen Kriterien messen müssen, um Überflüssiges und Veraltetes zu vermeiden. Hierbei kann die beleggestützte Medizin ("Evidence Based Medicine") einen wertvollen Beitrag leisten.
Im Widerspruch hierzu stehen Bemühungen verschiedener Interessengruppen, nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Behandlungsverfahren in der Öffentlichkeit einzuführen und gesetzlich zu verankern. Unterstützt wird diese Entwicklung durch
1 Krankenkassen, die, um die Gunst ihrer Klienten ringend, die Kosten für derartige Methoden zu Lasten der wissenschaftlich begründeten Therapie erstatten, Regelungen, die von einigen Kassenärztlichen Vereinigungen geduldet werden (1),
1 Ärzte, die sich dieser Verfahren annehmen und dabei den Boden ihrer wissenschaftlich geprägten Ausbildung unbewußt oder bewußt verlassen,
1 Politiker, die aus Furcht vor dem Verlust von Wählerstimmen diese Behandlungsverfahren fördern und für hoffähig erklären (Sonderstellung der "besonderen" Therapierichtungen im Arzneimittelgesetz, sog. Binnenanerkennung, Sozialgesetzbuch V, § 135 Abs. 1), aus mangelnder Sachkenntnis diesen Methoden vertrauen oder aus Kostenüberlegungen auf geringere Ausgaben hoffen (2), und das
1 Marketing der entsprechenden pharmazeutischen Unternehmer, die ein direktes ökonomisches Interesse am Umsatz "alternativer" Therapeutika haben.
Die Arzneimittelkommission ist sich bewußt, daß "alternative" therapeutische Verfahren zahlreiche Anhänger in der Bevölkerung haben. Dies zeigen auch Umfragen, die aber eher den von vielfältigen Interessen beeinflußten Zeitgeist erkennen lassen als die medizinische Bedeutung dieser Verfahren beweisen. Die zunehmende Akzeptanz "alternativer" Heilmethoden in der Bevölkerung gleichzusetzen mit einer neu erworbenen Mündigkeit (3) würde bedeuten, die Popularität zur Bemessungsgrundlage der Mündigkeit zu machen.
"Öffentliche Diskussion ist ein wichtiges Element gelingenden Lebens, aber sie ist weder die Quelle sittlicher Verpflichtung, noch ist Konsens ein Wahrheitsbeweis. (. . .) Auch wenn wir uns leichtfertig über das Falsche verständigen, dann bleibt es doch das Falsche." (4)
Die Reflexion über Bedürfnisse am Markt, über die Gründe der Zuwendung zur "anderen" Medizin oder über das wahre Spektrum der Wünsche eines Kranken kommt oft zu kurz. Die Arzneimittelkommission, ein unabhängiges Gremium der verfaßten Ärzteschaft und daher der Vermittlung einer objektiv bestmöglichen Pharmakotherapie zum Wohle der Patienten verpflichtet, sieht im Grundsätzlichen Handlungsbedarf und Anlaß zur Kritik an Methoden, die sich einer wissenschaftlichen Analyse entziehen, aber gleichwohl dem Kranken als "gleichberechtigt" entgegentreten.
Mahnungen
Die Politik mißachtet Mahnungen aus Wissenschaft und verfaßter Ärzteschaft.
In der Vergangenheit hat es nicht an sachlich begründeten kritischen Stellungnahmen zu den sogenannten alternativen Therapierichtungen gefehlt, wie zum Beispiel die "Marburger Erklärung" von 16 Professoren als auch von wissenschaftlichen Gesellschaften, so
1 der Deutschen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie,
1 der Kommission für klinische Pharmakologie der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde,
1 der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie und der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie mit einer gemeinsamen Stellungnahme,
1 der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde,
1 der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), des Dachverbandes aller medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften
sowie von Gremien der verfaßten Ärzteschaft wie
1 des Deutschen Ärztetages und
1 des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer (5-20).
In seinem Entschließungsantrag zu diesem Punkt formulierte der 100. Deutsche Ärztetag 1997 in Eisenach: "Diese Verfahren (gemeint sind die besonderen Therapierichtungen) halten einer Prüfung auf Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit nicht stand und sprengen somit die Grenzen des ohnehin bis an den Rand der Leistungsfähigkeit strapazierten Sozialversicherungssystems. . . . Die Finanzierung dieser Wünsche kann jedoch nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung gehen, wenn man nicht die Grundlagen einer wissenschaftlich orientierten Medizin in Frage stellen will" (15). Mit großer Mehrheit verwarf das Europäische Parlament die im sogenannten Lannoye-Bericht (21) geforderte Finanzierung alternativer Therapiemethoden durch die Sozialsysteme (22). Deutsche Politiker hingegen mißachteten den Sachverstand der oben genannten Gremien und der gesamten medizinischen Wissenschaft, indem sie der "Binnenanerkennung" sogenannter alternativer Therapierichtungen zustimmten.
Besonders in Zeiten der knappen Kassen und drohender Rationierung ist auch zu überdenken, ob Mittel, die in die Erforschung alternativer Therapierichtungen investiert werden*, nicht bei Verwendung zur Erforschung ernsthafter und kostenträchtiger Erkrankungen, wie zum Beispiel von Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, der Demenz, von immunologisch oder infektiös bedingten Erkrankungen, effektiver angelegt wären und einem humaneren Ziel dienen würden als die nach Maßstäben der wissenschaftlichen Medizin fragwürdige Suche nach einem wissenschaftlichen Beleg für die Wirksamkeit paramedizinischer Methoden.
Die in Deutschland existierende Integration alternativer Therapieverfahren in Aus- und Weiterbildung (zum Beispiel Zusatzbezeichnung "Homöopathie") ist nur historisch und berufspolitisch zu erklären, nicht aber wissenschaftlich zu begründen. Freilich spiegeln sich darin unleugbar auch bestehende Defizite in der Vermittlung und praktischen Ausübung der wissenschaftlichen Medizin.
Beispiel Homöopathie
Die Homöopathie ist die heute am meisten verbreitete Behandlungsrichtung außerhalb der wissenschaftlichen Medizin. Auch wenn in ihre Konzepte und Erklärungen Aspekte moderner physikalischer Theorien, wie zum Beispiel der Quantentheorie, aufgenommen wurden, basiert sie auch heute noch auf den Vorstellungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts: auf dem Vitalismus (Krankheit und Heilung sind immaterielle Prozesse) und einer mit modernen biologischen Konzepten schwer kompatiblen Definition des Krankheitsbegriffs (Krankheiten sind Regulationsstörungen, wobei nicht zwischen Symptomen und Krankheit unterschieden wird). Nachprüfungen an Gesunden ergaben, daß homöopathische "Arzneimittel" die ihnen früher zugeschriebenen Symptome beziehungsweise Wirkungen ("Arzneimittelbilder") häufig gar nicht zeigen (23). Der mehrfach und kürzlich nochmals wiederholte Schlüsselversuch von Hahnemann mit Chinarinde war nicht zu reproduzieren (24).
Das derzeitige Aufleben der Homöopathie im Umfeld anderer "naturgerechter" Behandlungsverfahren ist nicht ohne Beispiel in der Geschichte. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die "Alternativmedizin" intensiv gefördert. In Berlin wurde ein Lehrauftrag für Homöopathie vergeben, in Stuttgart ein homöopathisches Krankenhaus, in Leipzig eine homöopathische Poliklinik gegründet (25-27). Das Rudolf-Heß-Krankenhaus in Dresden erhielt die Aufgabe, "Schul-" und Außenseitermedizin zu integrieren (26). Dort wurde unter anderem versucht, die Syphilis mit Saftfasten zu kurieren (28). Es sollte eine "Neue Deutsche Heilkunde" etabliert werden (26, 27, 29). Die vom Reichsgesundheitsamt verordnete Testung zahlreicher homöopathischer Verdünnungen verlief niederschmetternd, so daß die Homöopathen seinerzeit gegen die Fortführung der Untersuchungen beim Reichsgesundheitsführer intervenierten. Die Ergebnisse wurden bis heute nicht veröffentlicht (23, 26). Die homöopathische "Forschung" stagnierte nach 1945 über 40 Jahre.
Sie bedient sich nunmehr bei der Deutung des Wirkungsmechanismus von bis zur Wirkstofffreiheit verdünnten homöopathischen Lösungen andernorts nicht reproduzierbarer Versuchsanordnungen (30) oder physikalischer Thesen von der "Einführung des Wassergedächtnisses" (30) bis hin zur Bemühung quantenphysikalischer Erklärungen (31-34). Alle derartigen Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus sind hier, wie auch in der wissenschaftlichen Medizin, nicht geeignet, die therapeutische Wirksamkeit zu belegen. !
Wirksamkeit
Die in allen hochindustrialisierten Ländern erfolgreich praktizierte Arzneimitteltherapie als eines der tragenden Therapieangebote in der Medizin basiert auf der wissenschaftlichen Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten (Arzneimittel-Rezeptor-Wechselwirkungen, Dosis-Wirkungs-beziehungen, Nachweis der Beeinflussung biochemischer bis hin zu psycho-physiologischen Regulationsstörungen) und der Prüfung ihrer Wirksamkeit anhand international akzeptierter klinisch-pharmakologischer und biometrischer Methoden.
Der "Goldstandard" zur Überprüfung der therapeutischen Wirksamkeit von Arzneimitteln ist der kontrollierte klinische Versuch mit einer ausreichenden Patientenzahl (35). Die nicht wissenschaftlich fundierten Therapierichtungen machen in der Regel Besonderheiten geltend, um sich der wissenschaftlichen Prüfung ihrer Hypothesen zu entziehen. Dies gilt für die im Arzneimittelgesetz explizit erwähnten Formen wie "Homöopathie", anthroposophisch begründete Heilverfahren und für die Therapie mit sogenannten traditionellen Phytopharmaka ebenso wie für die Vielzahl heterogener Methoden von Ayurveda bis zur Bach-Blüten-Therapie. Alle diese Verfahren haben einen gemeinsamen Nenner: Trotz jahrzehnte- bis jahrhundertelanger Anwendung derartiger Methoden liegen bislang für diese keine den modernen arzneitherapeutischen Heilmethoden vergleichbaren Wirksamkeitsnachweise vor. Seltene Ausnahmen, zum Beispiel im Rahmen der Phytotherapie, sollten Anregung zur Herstellung chemisch definierbarer Präparate sein und sind nicht als Beleg für diese Therapierichtung zu werten.
Der viel zitierte Satz "Wer heilt, hat recht" ist spätestens seit der 1932 erschienenen "Methodenlehre der therapeutischen Untersuchungen" von Paul Martini (36) um die Beweispflicht für die Wirksamkeit nach wissenschaftlichen Prinzipien zu ergänzen. Erst mit dem Instrumentarium der wissenschaftlichen Medizin ist eine in ihrer Wirksamkeit gesicherte Behandlung ernsthafter Erkrankungen, wie der arteriellen Hypertonie (zum Beispiel mit Betarezeptorenblockern, Diuretika oder ACE-Hemmern), von Stoffwechselerkrankungen wie dem Diabetes mellitus (mit Insulin) oder von Infektionskrankheiten (mit Antibiotika), möglich geworden. Ihren therapeutischen Wert haben große Studien belegt, was für Homöopathika nicht zutrifft (37).
Die Arzneimittelkommission stellt sich nicht gegen den berechtigten Anspruch, daß Begrifflichkeit und Qualität von Gesund- oder Kranksein in einem umfassenden Sinne immer wieder neu definiert werden müssen, und sie verschließt sich nicht gegenüber neuen theoretischen Zugängen, die den Menschen als biopsychosoziales Wesen begreifen. Jedoch kann dies nicht bedeuten, den Boden klinisch-pharmakologischer Bewertungskriterien für die Wirksamkeit von Behandlungsmethoden zu verlassen, wenn es um deren Stellenwert innerhalb der Solidargemeinschaft der Versicherten geht.
Prinzipiell müssen auch "alternative" Therapieverfahren als mit moderner biometrischer Methodik überprüfbar angesehen werden (38), wie zum Beispiel die für Aurum D8 beziehungsweise Aconitum D8 reklamierte Senkung des Blutdruckes (39). In einer Entschließung des Europäischen Parlaments zur nichtkonventionellen Medizin wird im Gegensatz zu dem Kriterienkatalog der Aufbereitungskommissionen E und C des ehemaligen BGA (40) eine "Beurteilung mit Hilfe der in jeder Humantherapie üblichen Methoden" gefordert, "das heißt der Methoden, die sich auf die jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse, insbesondere der Biologie und Statistik, gründen" (41). Daß dies in praxi möglich ist, belegt zum Beispiel eine sauber geplante und durchgeführte plazebokontrollierte, doppelblinde Studie zur Behandlung chronischer Kopfschmerzen in einer homöopathischen Praxisgemeinschaft in München, bei der die Randomisierung unter Einbeziehung eines Notars erfolgte. Das Ergebnis wurde 1997 in der in Oslo erscheinenden Zeitschrift "Cephalalgia" publiziert und zeigt keinen Unterschied zwischen der homöopathischen Behandlung und der Plazebomedikation (42).
Unkontrollierte Untersuchungen, wie zum Teil von Krankenkassen initiiert und gefördert (43), sind zum Nachweis der Wirksamkeit nicht geeignet.
Neuere Metaanalysen oder Reviews (44-46) zur Wirksamkeit der homöopathischen Therapie geben Auskunft über die mangelnde Qualität der zugrundeliegenden Studien oder erregen Verdacht auf nicht publizierte Studien mit negativem Ergebnis (Publikationsbias). Sie sind aber keinesfalls geeignet, einen Beleg für die Wirksamkeit der Homöopathie zu liefern. Gegen die Aussagefähigkeit dieser Metaanalysen spricht auch, daß zur Auswertung die verschiedensten Anwendungsgebiete unter Verzicht auf einen gemeinsamen Wirksamkeitsparameter zusammengefaßt werden. Daher fehlen in diesen Studien Erkrankungen, die anhand einer exakt reproduzierbaren Größe (zum Beispiel Blutdruck, Blutzucker, Entzündungsparameter) zu kontrollieren sind. Die verglichenen Ergebnisse stammen zum Teil von der gleichen Arbeitsgruppe. Da über 140 Jahre Existenz von und Erfahrungen mit Homöopathie einschließlich der Auswertung ihrer Ergebnisse mit modernen Metaanalysen nicht in der Lage waren, ihre Wirksamkeit wahrscheinlich zu machen, erregt es sogar kritische publizistische Aufmerksamkeit, und es ist bedenklich, wenn dennoch immer weitere kostenträchtige Studien gefordert werden anstatt Konsequenzen aus dem bisherigen Wissensstand zu ziehen (47, 48).
Komplementäre Therapie?
Einige Vertreter der Homöopathie oder anderer "besonderer" Therapierichtungen argumentieren, ihre Arzneimittel seien nur komplementär zur Unterstützung der Behandlung gedacht. Es erscheint nicht sehr überzeugend, einerseits bei ernsthaften Erkrankungen wie Tumorleiden und Infektionskrankheiten die Errungenschaften der modernen Medizin in Anspruch zu nehmen, andererseits aber deren Bedeutung zu relativieren. Da den wissenschaftlich begründeten und den allein von persönlichen Überzeugungen getragenen Behandlungsverfahren Paradigmen zugrunde liegen, die sich gegenseitig ausschließen, erscheint eine "ökumenische Gemeinschaft" beider undenkbar und alles Beschwören von "Gemeinsamkeit", "Ergänzung", "Komplementarität" oder "Erweiterung", wie zum Beispiel im Lannoye-Bericht (21), zwar politisch opportun, aber wissenschaftstheoretisch unhaltbar (49). Dies ist eigentlich auch eine originär von der Homöopathie vertretene Auffassung: "Es gibt nur zwei Haupt-Curarten: . . . die . . . homöopathische, und . . . die . . . allöopathische. . . . nur wer beide nicht kennt, kann sich dem Wahne hingeben, daß sie sich je einander nähern könnten oder wohl gar sich vereinigen ließen, kann sich gar so lächerlich machen, nach Gefallen der Kranken, bald homöopathisch, bald allöopathisch in seinen Curen zu verfahren; dieß ist verbrecherischer Verrath an der göttlichen Homöopathie zu nennen!" (50)
Wissenschaftliche Medizin und Paramedizin sind in ihren Konzepten unvereinbar. Dieser Aussage steht die Toleranz eines aufgeklärten Bürgers zum Beispiel verschiedenen Glaubensrichtungen gegenüber nicht entgegen. Die seitens der Politik eingeräumte Sonderstellung der besonderen Therapierichtungen entbehrt nicht nur jeder wissenschaftlichen Grundlage, sondern bedeutet außerdem, daß Wirksamkeit mit zweierlei Maß gemessen wird. Sie transferiert Konzepte des individuell oder staatlich praktizierten Wertepluralismus fälschlicherweise in die Bewertung der von wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten bestimmten modernen Arzneitherapie.
Recht auf wirksame Therapie
Therapiefreiheit bedeutet nicht Therapiebeliebigkeit. Jeder Patient hat Anspruch darauf, mit nachweislich wirksamen Arzneimitteln behandelt zu werden, wie umgekehrt der Arzt die Pflicht hat, auch die Richtigkeit seines Tuns unter Beweis zu stellen (51). "Anhänger von medizinischen Außenseitermethoden und Neulandbehandlungen müssen darüber hinaus die konkurrierenden Verfahren der Schulmedizin sowie die wissenschaftlichen Grundlagen der eigenen Heilmethode kennen. Die Sachkunde über die Schulmedizin muß sogar so weit gehen, daß der Arzt genau zu wissen hat, wie die Schulmedizin den Kranken im konkreten Einzelfall behandeln würde. Der Patient, der sich der Behandlung eines medizinischen Außenseiters anvertraut, muß alle Umstände seines Falles kennen." (52) . . . "Je angefochtener oder umstrittener eine gewählte medizinische Methode, je stärker der Arzt von eingeführten oder als anerkannt geltenden Heilverfahren abweichen möchte, das heißt von dem, was der Patient erwarten darf, und je tiefer der Arzt in Neuland vorstoßen will, desto weiter reichen die Informationspflichten. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Therapiewahl und Aufklärungspflicht." (53)
So erscheint der Einsatz von unter Umständen äußerst kostspieligen Verfahren mit unbewiesener Wirksamkeit anstelle gesicherter therapeutischer Methoden im Rahmen der Krebstherapie prinzipiell unethisch. Der bewußte Einsatz sogenannter alternativer Arzneimittel als Plazebo oder Pseudoplazebo in Einzelfällen ist nicht mit der Ausübung der entsprechenden "alternativen" Therapierichtung gleichzusetzen. Hier hat der verordnende Arzt, gerade bei der Behandlung von Befindlichkeitsstörungen, Raum für eine der individuellen klinischen Situation angemessene Entscheidung, die aber wie jegliche arzneitherapeutische Entscheidung zu begründen ist. Gerade bei der Behandlung von Befindlichkeitsstörungen mag es hinsichtlich des fehlenden Wirksamkeitsbelegs auch Berührungsflächen zwischen "schulmedizinischen" und "alternativen" Therapiemethoden geben. In derartigen Situationen muß der Arzt aber wissen, daß er sich auf wissenschaftlich ungesichertes Gelände begibt, und auch den Patienten darüber aufklären; er darf keine erforderlichen Therapien unterlassen, und er darf weder den Patienten noch das Sozialsystem ungebührlich belasten.
Die Arzneimittelkommission verkennt nicht, daß eine Vielzahl realer oder vermeintlicher Gründe den Patienten zum "alternativen" Therapeuten führt, wie zum Beispiel Situationen krankheitsbedingter existentieller Not, das jedem Menschen innewohnende Maß an Irrationalität, aber auch Defizite in der ärztlichen und mitmenschlichen Zuwendung, die mangelnde Beachtung von Befindensstörungen, die scheinbare, unerläuterte Dominanz technischer Untersuchungen oder "chemischer Therapien", die Suche nach weiteren therapeutischen Möglichkeiten, der Wunsch nach aktiver Teilnahme am Heilungsprozeß oder einfach nach einer zusätzlichen Meinung. Diese Anlässe, sich sogenannten alternativen Therapieverfahren zuzuwenden, können jedoch eine Kritik am Wesen der wissenschaftlichen Medizin nicht begründen. Sie sind aber gegebenenfalls als Kritik an der praktischen Umsetzung der Medizin als "Anwendungs- und Handlungswissenschaft" ernst zu nehmen und sollten für jeden Arzt Herausforderung und Verpflichtung zugleich sein, derartige Defizite nicht erst entstehen zu lassen, um damit unter Respektierung der Wünsche und möglicher Ängste von Patienten eine für sie wirksame und das Überflüssige in Diagnostik und Therapie vermeidende Therapie zu gewährleisten. Gegenüberstellungen wie "menschliche" versus "wissenschaftliche" oder "Apparatemedizin", "chemische" versus "sanfte" Medizin, wie auch im sogenannten Lannoye-Bericht (21), werden ohne Sachkenntnis und oft mit dem Versuch der bewußten Diskriminierung der "Schulmedizin" vorgenommen. Die wissenschaftliche Medizin ist Grundlage für eine humane Medizin und - von ärztlichem Ethos bestimmt - immer auch eine Medizin für den ganzen Menschen. Auch die wissenschaftliche Medizin ist fehlbar. Ihr Erkenntnisstand ist vorläufig und bedarf der ständigen Verbesserung. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft dient dieser Selbstkontrolle. Sie prüft ständig, ob der Einsatz "schulmedizinischer" Mittel hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit den wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird, und muß, auch unter Umständen gegen den Widerstand von Kommerz und Lobbygruppen, stets auf rational begründete therapeutische Strategien dringen. Den besonderen Therapierichtungen fehlt ein vergleichbares Kontrollsystem. An diesem Mangel sind sie erkennbar.
Forderung
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft wendet sich mit dieser Aufforderung an Ärzte, Krankenkassen, Politiker und Patienten, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Medizin zu achten, Bemühungen um eine rational fundierte Therapie zu fördern und so Qualität und Bezahlbarkeit des Gesundheitswesens zu sichern. Eine solidarisch finanzierte Krankenbehandlung kann sich nur auf das nachweislich Wirksame stützen. Wollen Patienten wegen Befindlichkeitsstörungen oder aus anderen Beweggründen ergänzend mit alternativen Methoden behandelt werden, so ist das zu respektieren. Diese Kosten können aber nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft gehen, weil diese sich zunehmend außerstande sehen wird, schon die Behandlung akut auftretender und schwerwiegender chronischer Erkrankungen noch hinreichend zu finanzieren (15). Auch Aus- und Weiterbildung müssen sich an den Kriterien einer wissenschaftlichen Medizin orientieren.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-800-805
[Heft 14]


Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.


Anschrift für die Verfasser
Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft
Aachener Straße 233-237
50931 Köln
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