ArchivDeutsches Ärzteblatt36/2011Angeborene Stoffwechselkrankheiten: Langzeitstudie belegt Nutzen des Neugeborenenscreenings

MEDIZINREPORT

Angeborene Stoffwechselkrankheiten: Langzeitstudie belegt Nutzen des Neugeborenenscreenings

Bördlein, Ingeborg

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Die frühzeitige Identifikation und adäquate Behandlung eröffnet betroffenen Kindern die Chance auf eine normale körperliche und geistige Entwicklung. Ein biochemischer Test auf Mukoviszidose bietet sich als Alternative zur Gendiagnostik an.

Fersenblutentnahme für das Neugeborenenscreening: Eine Filterpapierkarte wird in vorgegebenen Feldern vollständig mit Blut durchtränkt und anschließend eine Stunde bei Zimmertemperatur getrocknet. Foto: USAF Photographic Archives
Fersenblutentnahme für das Neugeborenenscreening: Eine Filterpapierkarte wird in vorgegebenen Feldern vollständig mit Blut durchtränkt und anschließend eine Stunde bei Zimmertemperatur getrocknet. Foto: USAF Photographic Archives

Bis 1999 konnten nur drei angeborene Stoffwechselstörungen frühzeitig erkannt werden: die Phenylketonurie, der Biotinidasemangel und die Galaktosämie. Inzwischen ist die Zahl der möglichen Testuntersuchungen auf circa 40 gestiegen. Im Rahmen des „erweiterten Neugeborenenscreenings“ werden seit 2005 mittels Tandem-Massenspektroskopie regelhaft zwölf Stoffwechselkrankheiten sowie zwei endokrinologische Erbleiden erfasst (siehe auch: Dtsch Ärztebl 2011; 108[1–2]: 11–22), die ohne Therapie bereits in den ersten Lebenswochen zu schweren Stoffwechselentgleisungen mit Enzephalopathie und Koma führen.

Die Tandem-Massenspektrometrie ermöglicht es, aus einer Blutprobe, die in der Regel am zweiten Lebenstag entnommen wird, in einem Arbeitsgang Störungen des Aminosäurestoffwechsels, des Stoffwechsels organischer Säuren und des Fettsäureabbaus zu identifizieren. Seit 2005 ist dieses Screening eine Regelleistung der Krankenkassen. Doch hat diese Maßnahme die Entwicklung betroffener Kinder verbessert, konnten körperliche und/oder geistige Behinderungen tatsächlich vermieden werden? Durch eine Langzeitstudie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Heidelberg liegen nun erstmals weltweit valide Ergebnisse zur körperlichen und geistigen Entwicklung von Kindern mit angeborenen Stoffwechselstörungen vor.

Wie Prof. Dr. med. Georg Friedrich Hoffmann kürzlich in Heidelberg berichtete, wurde das Blut von mehr als einer Million Säuglingen zwischen 1999 und 2009 im Screeningverbund Süd-West (mit den Bundesländern Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland) untersucht. Auf diese Weise konnten 345 Kinder präsymptomatisch identifiziert werden. Das entspricht einer Prävalenz von fast 1 : 3 000. Bei den Kindern wurden regelmäßig Symptome, Krankheitsschübe, das Wachstum und die Intelligenzentwicklung überprüft. Das Ergebnis: 80 Prozent der Kinder waren im Alter von dreieinhalb Jahren körperlich gesund, und 92 Prozent zeigten eine normale Intelligenz (IQ über 85).

Beispielhaft führte Hoffmann die MCAD-Mangelkrankheit (Medium-Chain-Acyl-Coenzym-A-Dehydrogenase) an. Kinder mit dieser Störung der Fettsäurenoxidation sind in der Neugeborenenperiode meist klinisch unauffällig. Bei Belastungssituationen indes wie Infekten, Impfungen oder Durchfallerkrankungen im Baby- und Kleinkindalter kommt es infolge einer Nahrungsverweigerung zu einer hypoketotischen Unterzuckerung.

Ein Viertel der Kinder stirbt dar- an, ein Drittel überlebt mit schweren neurologischen Schäden. Sei der Enzymdefekt bekannt, so müsse lediglich darauf geachtet werden, diesen Kindern im Erkrankungsfall ausreichend Kohlenhydrate zuzuführen – notfalls auch intravenös, betont Hoffmann.

Unbehandelt verläuft die Glutarazidurie folgenschwer

In der Heidelberger Studie waren 91 Prozent der Kinder, bei denen im Rahmen des Neugeborenenscreenings ein MCAD-Mangel (n = 32) frühzeitig diagnostiziert werden konnte, im mittleren Alter von 3,5 Jahren körperlich völlig unauffällig und 97 Prozent (n = 31) normal intelligent.

Kinder mit einer Phenylketonurie (PKU) waren in 86 Prozent der Fälle (n = 50) körperlich und 92 Prozent (n = 49) geistig normal entwickelt.

Ein weiteres Beispiel für die Effizienz des Screenings ist die sehr seltene, jedoch dramatisch verlaufende Glutarazidurie Typ I (GA I). Diese Stoffwechselkrankheit mit einer Prävalenz von 1 : 100 000 ist charakterisiert durch einen Defekt der Glutaratdehydrogenase. Es kommt dadurch zu einer Anhäufung der Glutar- und 3-Hydroxy-Glutarsäure infolge eines gestörten Abbaus der Aminosäuren Lysin und Tryptophan. Zunächst zeigen sich keine spezifischen Symptome.

Im Verlauf stellt sich bei den meisten Kindern eine Entwicklungsverzögerung ein. Bis zum dritten Lebensjahr kann es etwa durch banale fieberhafte Infekte zu einer enzephalopathischen Krise mit schwersten dystonen Bewegungsstörungen und geistiger Behinderung kommen.

Wird durch eine präsymptomatische Diagnose eine entsprechende präventive Therapie eingeleitet wie eine lysinreduzierte Diät, die Substitution von L-Carnitin und bereits bei banalen Infekten eine intensive stationäre Behandlung mit intravenöser Gabe von Glukose und L-Carnitin sowie bei fieberhaften Infekten eine intensivierte Notfallbehandlung, so können dramatische Folgen verhindert werden.

Nach einer prospektiven Studie von Kölker et al. (2007) konnten durch das Neugeborenenscreening bei 38 betroffenen Kindern (89 Prozent) enzephalopathische Krisen vermieden werden. Ein postinfektiöses dystones Syndrom trat nur in einem von 13 Fällen auf. Ohne diese Maßnahmen stirbt die Hälfte der Kinder an ihrem Erbleiden, bei den gescreenten Kindern gab es nach dieser Studie nur in jedem zehnten Fall einen letalen Verlauf.

Biochemischer Test mit hoher Sensitivität und Spezifität

Ein an der Universitätskinderklinik entwickelter Screeningtest auf Mukoviszidose (zystische Fibrose) ist nach Studienergebnissen sensitiver als der im Ausland angewandte Gentest, der Mutationen im CFTR-Gen (Cystis Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator) erfasst. Das biochemische Screeningverfahren wurde in einer Studie bei circa 100 000 Neugeborenen überprüft: War die Konzentration des immunreaktiven Trypsin im Blut erhöht (oberhalb der 99. Perzentile), hat man als Zweittest das pankreasassoziierte Protein bestimmt.

Dabei betrug die Sensitivität 92,8 Prozent gegenüber 71,4 Prozent mit dem Gentest. Die Spezifität lag in beiden Fällen bei 99,9 Prozent. „Bei 19 der getesteten Kinder konnte damit eine zystische Fibrose frühzeitig festgestellt werden“, sagt der Leiter des Heidelberger Mukoviszidose-Zentrums, Prof. Dr. med. Marcus Mall.

Während in den USA, Großbritannien, Frankreich und Australien ein genbasiertes Neugeborenenscreening auf zystische Fibrose durchgeführt wird, erlaubt das deutsche Gendiagnostikgesetz dies nur unter strengen Auflagen. Hoffmann plädiert aufgrund der hohen Sensitivität des biochemischen Tests dafür, diesen für das Mukoviszidosescreening in Deutschland regulär einzuführen. Dies sei auch im Hinblick auf sich abzeichnende präventive Behandlungskonzepte sinnvoll.

Werde eine zystische Fibrose frühzeitig diagnostiziert, so führen entsprechende symptomatische Therapien wie die Gabe von Pankreasenzymen, eine Substitution von Vitaminen, eine frühzeitige schleimlösende Inhalationstherapie und bei Bedarf Antibiotika zu einem besseren Gedeihen der Säuglinge, zu weniger Lungenschäden und zu einem längeren Überleben, erklärt Hoffmann.

Eine kausale Therapie zur Verhinderung der Folgeschäden bei einer CF steht indes bislang noch nicht zur Verfügung. Jedoch legen erfolgreiche Tierversuche der Heidelberger Wissenschaftler die Möglichkeit einer präventiven Inhalationstherapie mit dem Wirkstoff Amilorid nahe. Der Wirkstoff ist in der Lage, die hyperaktiven Natriumkanäle, die durch eine verstärkte Salz- und Wasseraufnahme in den Schleimhäuten getriggert werden, zu hemmen. Bei Mäusen mit Mukoviszidose konnten dadurch Pneumonien verhindert werden.

Ingeborg Bördlein

Pulsoxymetrie als Screening nur bedingt geeignet

Eine steigende Zahl von deutschen Geburtsstationen setzt die Pulsoxymetrie zur Früherkennung von Herzfehlern ein. Eine britische Studie im Lancet (2011; doi: 10.1016/S0140- 6736[11]60753-8) zeigt, dass die Pulsoxymetrie das bisherige Screening ergänzen kann. Die Sensitivität ist jedoch gering. Auch zusammen mit anderen Maßnahmen zur Früherkennung wird nur etwa jedes zweite Kind mit einem Herzfehler erkannt. 

Ob ein landesweites Screening sinnvoll ist, hat das britische National Institute for Health Research Health Technology Assessment in einer Studie bei 20 055 Neugeborenen am rechten Arm und am rechten Bein untersuchen lassen. Eine Sauerstoffsättigung unter 95 Prozent oder ein Unterschied zwischen den beiden Werten um mehr als zwei Prozent hatte eine klinische Untersuchung zur Folge. Wie Andrew Ewer von der Universität Birmingham berichtet, kamen 53 Kinder mit einem schweren Herzfehler (Prävalenz 2,6/1 000 Lebendgeburten) zur Welt, der unbehandelt in den ersten zwölf Lebensmonaten zum Tod führen würde. Von den 53 Kindern wurden allerdings nur 26 durch das Pulsoxymetriescreening erkannt (richtigpositiv). Die anderen 27 Kinder (falschnegativ) wurden erst zu einem späteren Zeitpunkt entdeckt. Bei 169 Kindern schlug die Pulsoxymetrie einen Alarm, der durch spätere Untersuchungen ausgeräumt werden konnte (falschpositiv). Bei 19 833 Kindern erkannte das Screening, dass die Kinder keinen schweren Herzfehler haben (richtignegativ). Die Pulsoxymetrie ist damit nicht sehr zuverlässig (Sensitivität: 49,6 Prozent, Spezifität: 99,16 Prozent).

Trotz der alles andere als idealen Ergebnisse wird sich das – kostengünstige – Verfahren wohl als Screening durchsetzen. Die Editorialisten William Mahle (Emory University, Atlanta) und Robert Koppel (Cohen Children’s Medical Center, New York) raten aber, die Mehrbelastungen zu beachten, die sich durch die falschpositiven Ergebnisse ergeben. Während die Pulsoxymetrie kostengünstig und durch einen technischen Assistenten durchgeführt werden kann, erfordert die Echokardiographie immer einen Facharzt. Rüdiger Meyer

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