THEMEN DER ZEIT: Aufsätze
Leitlinien in Klinik und Praxis: Welche Anforderungen sollten moderne Leitlinien erfüllen? Welche Strategien zur Entwicklung, Verbreitung und Implementierung haben sich bewährt? Welchen Beitrag können Leitlinien zur Qualitätsförderung in der Medizin leisten?
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An Leitlinien in der Medizin werden die Erwartungen geknüpft, ärztliche Alltagsroutinen wirksam zu verändern, eine effektivere und wirtschaftlichere Versorgung zu ermöglichen sowie den Gesundheitszustand der Patienten zu verbessern. Der internationale Erkenntnisstand wird anhand einiger Schlüsselaspekte wiedergegeben: Anforderungen an moderne Leitlinien, geeignete Strategien der Entwicklung, Verbreitung und Implementierung sowie der Beitrag von Leitlinien zur Qualitätsförderung in der Medizin.
Key words: guidelines, quality of health care
Guidelines in medical practice are supposed to be a powerful means of changing daily practice, of increasing
effectiveness and rational resource allocation, and of improving the quality of patient care. However,
international experience shows that the complex process of development, implementation, and dissemination of
guidelines must be designed purposefully to attain impact on the quality of care. Important requirements for
guidelines are proposed in the context of the German health care system. The role of guidelines in quality
improvement policies is further discussed.
Nachdem vor allem in den USA, Kanada und Großbritannien schon seit vielen Jahren Leitlinien in der Medizin
zum Einsatz kommen, sind in Deutschland erst in den letzten Jahren vermehrte Anstrengungen zu ihrer
Erstellung erkennbar. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat sich in
seinen Gutachten wiederholt für die Erstellung von Leitlinien ausgesprochen (zum Beispiel 37, 38). Ihre
Notwendigkeit für die Medizin wird dabei vorrangig mit dem Ziel einer "Vermeidung von Überfluß und
Defiziten", um "das Notwendige zu ermöglichen", begründet. Adressat dieses Wunsches war dabei in erster
Linie die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, AWMF, die
inzwischen rund fünfhundert Leitlinien der angeschlossenen Fachgesellschaften präsentierte (siehe aktualisierte
Darstellung im Internet: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF).
Einen Überblick über Richtlinien und Leitlinien der ärztlichen Körperschaften gibt die Bestandsaufnahme der
Aktivitäten auf dem Gebiet der Qualitätssicherung in der Medizin zwischen 1955 und 1995 (6). Während
Leitlinien entscheidungsunterstützende Funktion für Ärzte und Patienten haben (Tabelle 1) und in diesem Sinne
auch als ein "shared decision-support system" bezeichnet werden (24), beinhalten Standards quantifizierte und
damit restriktivere Aussagen über Qualitätsziele. Der Begriff "Richtlinie" stellt hingegen eine deutschsprachige
Besonderheit dar, in der definiert wird, wonach sich nachgeordnete Organisationen und Personen nolens volens
zu "richten" haben.
Anforderungen an Leitlinien
Da die Beeinflussung von ärztlichem Routinehandeln ein äußerst anspruchsvolles Vorhaben ist (34) und darüber
hinaus auf diesem Wege eine Verbesserung des Gesundheitszustandes von individuellen Patienten erreicht
werden soll, müssen Leitlinien besonderen Anforderungen genügen. Auf der Basis langjähriger Erfahrungen und
eingehender wissenschaftlicher Auseinandersetzung hat eine Arbeitsgruppe des amerikanischen Institute of
Medicine Anforderungen an Leitlinien formuliert (Tabelle 2).
Inzwischen existieren in verschiedenen Ländern inhaltlich ähnliche "guidelines for guidelines" (zum Beispiel 8).
Für Deutschland haben die Vorstände von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung im Juni 1997 weitgehend deckungsgleiche Beurteilungskriterien für Leitlinien beschlossen (7).
Eine besondere Problematik verbirgt sich hinter dem Anspruch an die Validität jeder einzelnen
Leitlinienempfehlung. Schätzungen des Institute of Medicine zufolge ist für weit weniger als die Hälfte der
Gesundheitsdienstleistungen ihre Wirksamkeit in kontrollierten Studien nachgewiesen (12). Da evidenzbasierte
Empfehlungen aufgrund dieses Forschungsdefizites eher die Ausnahme als die Regel darstellen, wird heute die
Forderung erhoben, bei zentral erstellten Leitlinien jeder einzelnen Empfehlung den zugrundeliegenden "level of
evidence" beziehungsweise eine sich daraus ergebende "strength of recommendation" zuzuordnen
(12, 9). Bei der Adaptation beziehungsweise Modifikation einzelner Empfehlungen durch Anwender vor Ort ist
auf diese Weise eine wesentlich verbesserte Einschätzung der Leitlinieninhalte und ihrer Flexibilität in der
Anwendung möglich.
Die Erstellung effektiver Leitlinien für die praktische Medizin umfaßt weit mehr als die Zusammenfassung
aktuellen Fachwissens. Ihre Entwicklung, Verbreitung, Umsetzung und Evaluation stellt ein sehr aufwendiges
Unterfangen dar, das kontinuierliche, auf viele Personen verteilte, zeit- und ressourcenintensive Anstrengungen
voraussetzt3.
Entwicklung, Verbreitung, Umsetzung, Evaluation
In viel beachteten Übersichtsarbeiten (16, 17) geben Grimshaw et al. auf der Basis von 91 Einzelstudien für
unterschiedliche Strategien zur Entwicklung, Verbreitung und Umsetzung von Leitlinien den Grad der
Wahrscheinlichkeit an, mit der eine Effektivität der Leitlinien hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzung erwartet
werden kann (Tabelle 3).
Betrachtet man zunächst die verschiedenen Entwicklungsstrategien, so wird deutlich, daß insbesondere eine
interne Entwicklung von Leitlinien durch die späteren Anwender die Wahrscheinlichkeit einer hohen Effektivität
der Leitlinien begründet. Die geringste Effektivität kann erwartet werden, wenn auf nationalem Niveau Experten
ohne Beteiligung derjenigen, für die diese Leitlinien bestimmt sind, mit der Entwicklung betraut sind.
Leitlinien können somit am sinnvollsten "aus der Praxis heraus für die Praxis" entwickelt werden. Insbesondere
die erforderliche Akzeptanz und Alltagstauglichkeit der Leitlinien können hierdurch offenbar erhöht werden.
Dieses Ergebnis entspricht nicht nur der allgemeinen Lebenserfahrung, daß die eigene Auseinandersetzung mit
den konkreten Inhalten die Akzeptanz und spätere Umsetzung fördert. Es konnte auch in vielen Untersuchungen
eindrucksvoll bestätigt werden. Rationale Einsicht und theoretische Überzeugung allein bleiben anscheinend für
das Handeln unter Praxisbedingungen oft folgenlos.
So ergab die "North of England Study of Standards and Performance in General Practice", eine randomisierte,
über einen zweijährigen Zeitraum laufende Studie, an der 92 Allgemeinärzte teilnahmen, daß Leitlinien in
nennenswertem Umfang oft nur von denjenigen angewendet wurden, die an der Bearbeitung der Leitlinien selbst
beteiligt waren (35, 36). Kinder mit spastischer Bronchitis, welche von Hausärzten behandelt wurden, die in
Qualitätszirkeln zu diesem Krankheitsbild eigene Leitlinien aufgestellt hatten, zeigten hier weniger Atemnot und
bronchiale Spastik als solche, die von Ärzten behandelt wurden, die zwar identische Leitlinien von ihren
Kollegen übernommen hatten, diese jedoch nicht selbst mitformuliert hatten.
Die Übersicht in Tabelle 3 zeigt weiter, daß hinsichtlich der Verbreitung von Leitlinien die Veröffentlichung in
Fachzeitschriften oder auch das gezielte Anschreiben einer Zielgruppe lediglich eine geringe oder
unterdurchschnittliche Effektivität erwarten läßt. Dieses Ergebnis wird durch eine spezielle Review bestätigt, die
zu dem Schluß kommt, daß gedruckte Materialien ohne relevanten Einfluß auf das ärztliche Handeln bleiben
(13). "Konventionelle" Fortbildungsveranstaltungen schneiden etwas besser ab. Spezifische, interaktive und
problembezogene Fortbildungsangebote zur Vermittlung der Leitlinieninhalte zeigten die höchste Effektivität.
Für eine Umsetzung von Leitlinien, also eine Verhaltensänderung in der täglichen Praxis, erwiesen sich
allgemeine Hinweise auf bestehende Leitlinien oder Erinnerungen daran als wenig effektiv. Ideal sind den
Untersuchungen zufolge jedoch patientenspezifische, konkrete problembezogene Hinweise zum Zeitpunkt der
Konsultation, die in den Praxisalltag integriert werden (zum Beispiel durch eine entsprechende Meldung der
Praxis-EDV oder Checklisten). Im Rahmen einer Metaanalyse von 16 randomisierten kontrollierten Studien
konnte etwa gezeigt werden, daß computergestützte Erinnerungssysteme die Rate vieler präventiver Maßnahmen
(Impfungen, Früherkennungsuntersuchungen) in der Praxis wirkungsvoll erhöhen können (40).
Die Entwicklung von Leitlinien durch die hierzulande oft favorisierten nationalen Konsensuskonferenzen mit
Veröffentlichung des Konsenses in Fachzeitschriften und dem regelmäßigen Hinweis, man möge doch bitte
diese Leitlinien in die Praxis umsetzen, hat - zumindest nach internationalen Studien - gerade keinen relevanten
Einfluß auf das ärztliche Handeln. Das amerikanische National Institute of Health (NIH) hatte schon 1977
begonnen, eine Serie von Konsensuskonferenzen zu unterschiedlichsten Themen durchzuführen (32). Es gelang,
methodische Maßstäbe für eine sachgerechte Durchführung zu setzen, doch zeigten exemplarische Evaluationen,
daß die Empfehlungen in der Regel keinen Effekt auf das praktische Handeln amerikanischer Ärzte hatten (27).
Wenngleich Leitlinienentwicklung auf zentraler Ebene immer auch Konsensbildungsprozesse einschließt, kann
das Ergebnis nicht ausschließlich auf einer Übereinkunft unter Experten beruhen. Die Prüfung vorhandener
wissenschaftlicher Evidenz, Praktikabilität und Akzeptanz muß unabhängig davon sichergestellt werden.
Da in Deutschland mehr als 1 600 vertragsärztliche Qualitätszirkel mit etwa 19 000 potentiellen Anwendern aller
Fachrichtungen arbeiten (15), die eine Reihe dezentraler Leitlinien entwickelt haben (unter anderem 43), wird
vorgeschlagen, deren Erfahrungspotential und pragmatische Problemlösungsansätze zu nutzen (14, 42).
Befürworter einer zentralen Leitlinienproduktion wenden gegen dezentrale Strategien
ein, daß kaum ein Qualitätszirkel oder eine lokale Arbeitsgruppe in der Lage sei, evidenzbasierte Leitlinien zu
erstellen; auch müsse das "Rad nicht ständig neu erfunden werden". Schließlich wird ein "Wildwuchs"
unterschiedlichster Leitlinien, die sich womöglich widersprechen, befürchtet.
Die Gegenüberstellung der potentiellen Vor- und Nachteile einer zentralen beziehungsweise dezentralen
Leitlinienentwicklung in Tabelle 4 zeigt, daß es keine einzig richtige Strategie geben kann. Infolge langjähriger
Erfahrungen und wissenschaftlicher Evaluationsstudien sowie nach Abwägung dieser Vor- und Nachteile haben
führende Arbeitsgruppen und Autoren verschiedene, oft kombinierte Strategien zur Entwicklung, Verbreitung
und Implementierung wissenschaftlich fundierter, praktikabler, akzeptabler und evaluierter Leitlinien
beschrieben.
Eine Auswahl der am häufigsten genannten Aspekte findet sich in der nachfolgenden Zusammenstellung:
l Aufgrund des enormen logistischen Aufwandes ist in der Regel zunächst eine zentrale Erstellung von Leitlinien
erforderlich (1, 11, 12, 46).
l Die so entwickelten Leitlinien sollten den in Tabelle 2 genannten Anforderungen genügen (7, 11, 12, 45).
l Besonderer Wert wird dabei auf eine evidenzbasierte Leitlinienentwicklung und die Angabe des Grades
wissenschaftlicher Evidenz, in der Spannbreite zwischen bloßem Expertenkonsens und übereinstimmenden
Ergebnissen mehrerer randomisierter kontrollierter Studien, für die jeweiligen Empfehlungen gelegt (11, 12, 16,
45, 46).
l Zur Abwägung von Vor- und Nachteilen, die mit der Umsetzung einzelner Empfehlungen verbunden sein
können, wird ein "explizites" Verfahren empfohlen. Durch eine Gegenüberstellung von Chancen und Risiken
oder Kosten und Wirkungen (in sogenannten "balance sheets") soll die Entscheidungsfindung zwischen
möglichen Alternativen unterstützt werden (10, 12, 31, 45, 46).
l Anwender betroffener Fachdisziplinen und Berufsgruppen sowie Patienten sollten in verschiedenen Stadien der
Entwicklung, Verbreitung, Umsetzung und Evaluation von Leitlinien beteiligt werden (11, 12, 28, 46).
l Zur Verbreitung von Leitlinien sollten deren Inhalte integraler Bestandteil von Aus-, Weiter- und
Fortbildungsmaßnahmen werden, wobei ein fall- und problemorientiertes Training der empfohlenen Strategien
angestrebt werden sollte (19, 22).
l Praxen oder Kliniken sollten die Empfehlungen an ihre institutionseigenen Bedingungen und Abläufe
adaptieren und gegebenenfalls modifizieren (11, 12, 24, 25, 44). Je nach Ausmaß der zugrundeliegenden
Evidenz bestehen dabei größere oder geringere Spielräume. Personelle, räumliche und technische Möglichkeiten,
spezifische Kompetenzen und Fertigkeiten oder der Zugang zu spezialisierten Abteilungen müssen dabei
berücksichtigt werden.
l Um das Handeln der Zielgruppe tatsächlich zu beeinflussen, sollten Implementierungsstrategien und
leitlinienbasierte Werkzeuge ("tools") entwickelt werden (46; Tabelle 5).
l Ein frühzeitiger Praxistest der Leitlinien vor ihrer Breiteneinführung sollte angestrebt werden, damit rechtzeitig Erkenntnisse insbesondere zur Anwendbarkeit, Praktikabilität
und Wirksamkeit gewonnen werden können (16, 45, 46).
l Es ist sinnvoll, mögliche Barrieren explizit zu benennen, da so Maßnahmen zur Überwindung von Hindernissen
von vornherein als Bestandteil der Implementierungsstrategie berücksichtigt werden können (34, 45, 46).
l Leistungsanreize (zum Beispiel Vergütungssysteme) können die Umsetzung von Leitlinien wirksam behindern
und müssen daher überprüft und modizifiert werden (45, 46).
l Unverzichtbar zur Abschätzung von Folgen und Wirkungen unterschiedlicher Strategien ist eine begleitende
Evaluation (2, 11, 12, 16, 19, 28, 45, 46). Als relevante Fragestellungen gelten dabei etwa: "Werden Leitlinien
von den potentiellen Anwendern akzeptiert? Sind sie praktikabel? Verändern sie das ärztliche Handeln? Welchen
Einfluß haben Leitlinien auf die Ergebnisqualität der Versorgung?"
Beitrag von Leitlinien zur Qualitätsförderung
Leitlinien sind kein zwangsläufiger Bestandteil einer systematischen Qualitätsförderung in der Medizin. Über die
Art ihres angemessenen Einsatzes und ihren potentiellen Beitrag zu einer kosteneffektiven Qualitätsverbesserung
der Versorgung
bestehen durchaus unterschiedliche Auffassungen (zum Beispiel 16).
Leitlinien können sich auf die Versorgungsqualität zunächst durch ihre entscheidungsleitende Funktion in der
Behandlungssituation selbst auswirken. Ärzte und Patienten werden in ihrer Entscheidungsfindung unterstützt,
indem diagnostische und therapeutische Alternativen aufgezeigt und nach ihrer Effektivität bewertet werden.
Entscheidungen über eine sinnvolle gesundheitliche Versorgung im Einzelfall werden jedoch nicht allein durch
Leitlinien determiniert, sondern beruhen in der Regel auf drei verschiedenen Säulen:
¿ den Leitlinienempfehlungen
À der medizinischen (ärztlichen) Beurteilung der Bedingungen des Einzelfalls ("clinical judgement" oder
"clinical reasoning")
Á den Präferenzen des Patienten ("patient preferences").
Soweit Patienten durch entsprechende Materialien ebenfalls über Leitlinieninhalte informiert sind, kann die
Kommunikation von Arzt und Patient über den Behandlungsverlauf informierter, transparenter und oftmals für
den Patienten überzeugender verlaufen. Als übergeordnetes Qualitätsziel und Maß der Versorgung gilt dabei in
erster Linie die im Einzelfall erreichte Angemessenheit ("appropriateness") auf der Basis eines "informed
consent".
Voraussetzung für die entscheidungsorientierende Funktion einer medizinischen Leitlinie ist jedoch oftmals, daß
die Leitlinie nicht von einer bereits gesicherten Diagnose (zum Beispiel "Myokardinfarkt"), sondern vom
Patientenanliegen oder Behandlungsanlaß ("Brustschmerz") ausgeht. Insbesondere in der ambulanten
(hausärztlichen und spezialistischen) Versorgung muß von noch wenig selektierten Patientenanliegen
ausgegangen werden, bei denen die ersten Abklärungsschritte oft weichenstellende Bedeutung haben. Erst bei
Berücksichtigung dieser Überlegungen wird der Gefahr "optimaler Prozesse bei falschen Problemen"
entgegengewirkt.
Leitlinien im Sinne der dargestellten Anforderung stellen ein handlungsrelevantes und auf wissenschaftliche
Evidenz kritisch geprüftes Kondensat medizinischen Wissens dar. In dieser Hinsicht können Leitlinien zur
Festigung der professionellen Autonomie sowie zur Abgrenzung und Koordination an den Schnittstellen
zwischen verschiedenen ärztlichen Tätigkeitsgebieten und Versorgungsstufen, etwa zwischen haus- und
fachärztlicher oder ambulanter und stationärer Versorgung, beitragen. Die Anpassung zentraler Leitlinien an die
Gegebenheiten einzelner Einrichtungen eröffnet die Möglichkeit, Versorgungsprozesse zu definieren,
Verantwortlichkeiten zu klären, den Ressourceneinsatz zu planen und die Organisation besser auf ihre
Versorgungsaufgaben auszurichten. Im Rahmen von vernetzten Strukturen, wie etwa "Praxisnetzen", können
Leitlinien zentrale Bedeutung für das Funktionieren arbeitsteiliger Versorgungsprozesse erlangen.
Da von verschiedenen Seiten in der Gesellschaft (Politik, Kostenträger et cetera) mehr Transparenz des
Mitteleinsatzes und der Qualität medizinischer Versorgung gefordert wird (26), können medizinische Leitlinien
hier beitragen, das medizinisch für unverzichtbar oder notwendig Gehaltene zu definieren, ärztliche
Qualitätsziele zu begründen und dadurch den medizinischen Versorgungsaufwand rational zu rechtfertigen.
Es kann erwartet werden, daß sich die Variationsbreite zwischen unterschiedlichen Behandlern verringert (18)
und die Patienten in einem gewissen Umfang vor einer Überversorgung geschützt werden. Angesichts der
Schwierigkeiten einer Umsetzung von Leitlinieninhalten in ärztliches Handeln können Leitlinien jedoch
keineswegs als eine Art "Grundordnung" eines ärztlichen Gebiets oder einer Behandlungsform gesehen werden.
Je nach Art ihrer Entwicklung sowie ihres Einsatzes (etwa
extern/"top down" oder intern/"bottom up") können mit Leitlinien begrenzte, unterschiedliche Ziele angestrebt
und erreicht werden. Die Mehrzahl der Autoren sieht Leitlinien daher eher als "Werkzeuge".
Eine spezifische Bedeutung können Leitlinien als Hilfsmittel zur Evaluation medizinischer Versorgung haben.
Für zahlreiche medizinische Verfahren gibt es heute noch keine allgemein akzeptierten, auch für eine
quantifizierte Ergebnisfeststellung geeigneten Indikatoren und Kriterien, was dazu beiträgt, daß eine Evaluation
unterbleibt. Aus Leitlinienempfehlungen können Kriterien entwickelt werden, die zur Beurteilung der
Versorgungsqualität geeignet sind. Die Formulierung von Kriterien und Zielgrößen der Versorgungsqualität geht
über die bloße Benennung von Qualitätsindikatoren hinaus und erlaubt es, im Verlauf der Evaluation den
Zielerreichungsgrad und den damit verbundenen Aufwand zu bewerten. Auf diesem Gebiet hat sich die Agency
for Health Care Policy and Research besondere Verdienste erworben und detaillierte Strategien erarbeitet, die
eine Evaluation medizinischer Versorgung auf der Basis von Leitlinien ermöglichen (1). Ähnliche Überlegungen
zum Verhältnis von Evaluationskriterien und Leitlinien werden auch in anderen Ländern angestellt (3).
Aufgrund verbreiteter Mißverständnisse muß davor gewarnt werden, die Existenz zentraler Leitlinien bereits mit
einem Qualitätsmanagement innerhalb einer Versorgungseinrichtung zu verwechseln. Moderne Systeme des
umfassenden, kontinuierlichen Qualitätsmanagements im Gesundheitsbereich beruhen auf Prinzipien wie
interner partizipativer Organisationsentwicklung, Schwachstellenanalyse sowie konsequenter
Patientenorientierung und streben sogenannte Null-Fehler-Ziele an. Qualitätsziele in Praxen und Kliniken zu
realisieren setzt komplexe Lern- und Veränderungsprozesse voraus, zu deren Gelingen Leitlinien beitragen
können, aber nicht unabdingbar sind (4, 5). Zusammenfassend betrachtet, können evidenzbasierte und praxisadäquate Leitlinien hilfreiche "Werkzeuge" für die Erreichung und Evaluation definierter Qualitätsziele in der
medizinischen Versorgung darstellen. Im Rahmen der Leitlinienerstellung und -umsetzung werden traditionelle
Wissensbestände hinterfragt und Prozesse verändert - eine Entwicklung, die auch in Deutschland begonnen hat.
Da nur konkret verändertes Handeln in Kliniken und Praxen auch zu Qualitätsverbesserungen führt, sind letztlich
Praktikabilität und Akzeptanz von Leitlinien sowie die Lernfähigkeit und -bereitschaft von Institutionen, vor
allem aber jedes einzelnen, ausschlaggebend - "Qualität beginnt im Kopf".
Eine der eindrucksvollsten Studien zur Wirkung von Leitlinien wurde bereits 1989 unter dem Titel "Do practice
guidelines guide practice?" im New England Journal of Medicine veröffentlicht (29):
Da die Sektio-Rate mit 20,4 Prozent in Ontario/
Kanada, insbesondere bei vorausgegangener Sektio oder Steißlage, etwa doppelt so hoch war wie in England und
Wales, entwickelte die kanadische Fachgesellschaft der Geburtshelfer eine nationale Konsensus-Leitlinie. Ziel
war eine rasche Senkung der als stark überhöht angesehenen Sektio-Rate. Besonderer Wert wurde im Rahmen
des sehr sorgfältigen Konsensusprozesses vor allem auf die wissenschaftliche Evidenz der einzelnen
Empfehlungen gelegt. Die Leitlinie wurde breit publiziert. Es folgten wiederholte Erinnerungen in
Fachzeitschriften und Fortbildungsveranstaltungen sowie gezielte Mailings. Auch Patientenorganisationen
wurden informiert.
Die Evaluation ergab einen hohen Bekanntheitsgrad der Leitlinie (nach einem Jahr: 94 Prozent) und
weitgehende inhaltliche Zustimmung unter den befragten Geburtshelfern (82,5-85%) sowie gute
Detailkenntnisse (nach einem Jahr 67 Prozent richtige Antworten). 33% der Befragten gaben noch nach zwei
Jahren an, daß sie ihre Sektio-Rate signifikant gesenkt hätten. Der Vergleich der Sektio-Raten im Zeitraum von
jeweils 72 Monaten vor und nach Leitlinienverbreitung ergab jedoch, daß die tatsächlichen Sektio-Raten um 15
bis 49 Prozent höher lagen als von den Befragten selbst eingeschätzt (insgesamt nur 0,13 weniger SchnittEntbindungen pro 100 Geburten pro Jahr).
Als Ursachen ("barriers to implementation") für die fehlgeschlagene Leitlinienumsetzung wurden diskutiert:
c Angst vor straf- und haftungsrechtlichen Konsequenzen
c teilweise unzureichende Fertigkeiten zur Durchführung einer vaginalen Steißlagen-Geburt
c Anreize für eine elektive Sektio (Honoraranreize, "planmäßige" Geburt et cetera)
c Erwartungen der Mütter, die potentiell schmerzhafte Vaginalentbindung durch eine Sektio vermeiden zu
können.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-1014-1021
[Heft 17]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Ferdinand M. Gerlach, MPH
Abteilung Allgemeinmedizin
Arbeitsbereich Qualitätsförderung
Medizinische Hochschule Hannover
30623 Hannover
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