POLITIK
Versorgungsstrukturgesetz: Gesetzentwurf auf dem Prüfstand


Das Versorgungsstrukturgesetz wurde in den vergangenen Wochen intensiv diskutiert. Nun hat die parlamentarische Beratung begonnen. Mehr als 110 Änderungsanträge liegen von Bundesrat und aus den Regierungsfraktionen vor. Ein Überblick
Die Debatte dauerte zwei Stunden. An großen Worten gab es dabei keinen Mangel. „Diese Regierung hat gehandelt“, sagte Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr am 23. September in der ersten Lesung des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes (VStG) im Bundestag. „Wir haben das Problem angepackt, weil wir die Sorgen der Menschen vor Ort ernst nehmen.“ Die Opposition war anderer Ansicht. „Der Gesetzentwurf ist handwerklich gescheitert“, erklärte der gesundheitspolitische Sprecher der SPD, Dr. med. Karl Lauterbach. Und die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Birgitt Bender, sprach von einer „politischen Bankrotterklärung“. „Sie wissen genau“, adressierte der gesundheitspolitische Sprecher der Union, Jens Spahn, an die Opposition, „dass Sie das, was wir mit dem Versorgungsstrukturgesetz angehen, in den vergangenen Jahren längst hätten tun müssen. Es wurmt Sie, dass wir das jetzt tun.“
Jenseits des Theaterdonners auf der Bühne des Bundestages geht die Feinarbeit an dem Gesetzesvorhaben weiter. So haben Bundesrat und Regierungsfraktionen eine Vielzahl an Änderungsanträgen eingebracht, die das Versorgungsstrukturgesetz noch substanziell ändern könnten. Wichtigste Änderungsvorschläge auf einen Blick:
Abbau von Überversorgung – Unzureichend finden die Länder die Instrumente zum Abbau von Überversorgung. Sie fordern deshalb, diese in überversorgten Regionen verpflichtend einzusetzen. So sollen beispielsweise Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) einen Praxissitz aufkaufen müssen, wenn der Zulassungsausschuss feststellt, dass dieser für eine ausreichende Versorgung nicht mehr notwendig ist. Darüber hinaus schlägt der Bundesrat vor, in überversorgten Gebieten Sitze nur noch befristet zu vergeben.
Im Gegenzug sollen Maßnahmen gegen Unterversorgung, wie Zuschüsse und Ausnahmen von der Abstaffelung des Regelleistungsvolumens, möglich sein, bevor eine Region akut von Unterversorgung bedroht ist. Hierzu fordert der Bundesrat, dass Länderausschüsse von den Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses für unterversorgte Gebiete abweichen können.
Arzneimittel – Das von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der ABDA-Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände erstellte Arzneimittelkonzept soll in einem KV-Bezirk erprobt werden. Union und FDP wollen, dass die KV mit den Landesverbänden der Kassen einen Medikationskatalog auf Wirkstoffbasis erstellen kann. Darin sollen für alle wichtigen Indikationen Vorgaben zur wirtschaftlichen Auswahl von Wirkstoffen enthalten sein, die dann vom Arzt statt spezifischer Präparate verordnet werden.
Überschüsse aus dem Modell „sind in Teilen an die Leistungserbringer weiterzuleiten“, heißt es in dem Antrag, Mehraufwendungen sind den Krankenkassen hingegen auszugleichen. Das Modellvorhaben soll wissenschaftlich evaluiert werden, „um Erkenntnisse für eine spätere flächendeckende Umsetzung zu gewinnen“. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung soll jedoch nicht abgeschafft werden, so wie es das KBV/ABDA-Modell vorsah.
Ärztenetze – Die KVen sollen nach dem Willen von Union und FDP bei der Verteilung der Gesamtvergütung die Möglichkeit erhalten, Ärztenetze finanziell zu fördern, indem sie ihnen ein eigenes Honorarvolumen zuweisen. Die Netze könnten dann eigenständig entscheiden, wie sie das Geld an die teilnehmenden Ärzte verteilen. Die Netze müssen jedoch zuvor von der KV als besonders förderungswürdig anerkannt worden sein.
Ausbildung – Der Bundesrat kritisiert, dass die Reform der Approbationsordnung nicht wie vorgesehen mit dem VStG umgesetzt wird. Die Länder hatten sich für eine Stärkung der Allgemeinmedizin während des Studiums und der Weiterbildung ausgesprochen. Das Gesundheitsministerium hat jedoch angekündigt, dies in einem eigenen Gesetz zu regeln. Nach Ansicht der Länder dient dieser Aufschub nur dazu, die Zustimmungspflicht des Bundesrats zum VStG zu umgehen.
Budgetvorgaben – Kritisch sehen die Länder die zum Teil engen Vorgaben für die regionale Honorarpolitik. So dürfen die KVen einerseits regionale Gebührenordnungen erstellen; andererseits sind sie dabei aber an bundesweite Vorgaben gebunden. Ähnliches sieht das Gesetz bei der Förderung von besonderen Leistungen oder Leistungserbringern vor. Der Bundesrat sieht darin einen Widerspruch zu einer regionalen Steuerung der Bedarfsplanung. Er fordert deshalb, dass in den Ländern von den bundesweiten Vorgaben abgewichen werden kann, wenn es der Sicherstellung der Versorgung dient.
Regionale Bedarfsplanung – Positiv beurteilen die Länder, dass die Bedarfsplanung wieder in die Regionen verlagert werden soll. Allerdings geht ihnen das Gesetz an vielen Stellen nicht weit genug. So fordert der Bundesrat beispielsweise, die Arbeitszeiten der Vertragsärzte und Psychologischen Psychotherapeuten anhand der Abrechnungsdaten genauer zu erfassen. Außerdem sollen Niedergelassene ihrer KV melden, in welchem zeitlichen Umfang sie außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung Leistungen erbringen. Diese Maßnahmen sollen dazu dienen, das Versorgungsgeschehen genauer zu erfassen und die Bedarfsplanung zu verbessern.
Darüber hinaus setzen sich die Länder dafür ein, die Bedarfsplanung künftig an Morbidität und Sozialstruktur der Region zu orientieren. Dies gelte insbesondere für die Verhältniszahlen in der psychotherapeutischen Versorgung, die nach Ansicht des Bundesrats derzeit weit unter dem Bedarf liegen würden. Als Grundlage für die Berechnungen sollen die Daten der Abrechnungen und des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs dienen sowie Daten aus unabhängigen epidemiologischen Morbiditätsstudien. Dafür ist nach Meinung des Bundesrats eine korrekte Kodierung durch die Ärzte unabdingbar. Deshalb will er an der verpflichtenden Einführung der Allgemeinen Kodierrichtlinien festhalten und diese nicht, wie geplant, mit dem VStG aufheben.
Spezialärztliche Versorgung – Deutliche Kritik übt der Bundesrat an den Plänen zur spezialärztlichen Versorgung: Der Gesetzentwurf enthalte noch zu viele Regelungslücken und setze Fehlanreize. Im spezialärztlichen Versorgungsbereich sollen Behandlungen von hochspezialisierten und seltenen Erkrankungen, von Krankheiten mit besonderen Verläufen sowie ambulante Operationen zusammengefasst werden. Nach dem Motto „Wer kann, der darf“ dürfen sowohl stationär als auch ambulant tätige Ärzte Leistungen im Rahmen der spezialärztlichen Versorgung erbringen – vorausgesetzt, sie verfügen über die notwendigen Qualifikationen. Das Besondere daran: Es soll weder eine Mengenbegrenzung bei der Abrechnung der Leistungen noch eine Bedarfsplanung geben.
Der Bundesrat bemängelt, dass Mechanismen fehlen, um eine medizinisch nicht indizierte Mengenausweitung zu vermeiden. Das Risiko für zusätzliche Kosten liege bei den Kassen, was sich direkt in höheren Zusatzbeiträgen für die Versicherten niederschlagen werde. Zudem kritisieren die Länder, dass keine Bedarfsplanung vorgesehen ist. Dies greife stark in die Länderkompetenzen ein und konterkariere die durch das VStG neu geschaffene Möglichkeit, Gremien für eine sektorübergreifende Bedarfsplanung zu schaffen. Der Bundesrat schlägt deshalb vor, die spezialärztliche Versorgung zurückzustellen und in einem eigenen Gesetz zu regeln.
Stationärer Bereich – Im GKV-Finanzierungsgesetz wurde im Hinblick auf das erwartete Milliardendefizit der gesetzlichen Krankenversicherung festgelegt, dass der Landesbasisfallwert im Jahr 2012 nur in Höhe einer um 0,5 Prozent verminderten Grundlohnrate steigen darf. Da der Gesundheitsfonds nun jedoch statt des Defizits ein Plus verzeichnet, fordert der Bundesrat, diese Absenkung zu streichen, damit der Landesbasisfallwert um die volle Grundlohnrate steigen kann. Zudem fordern die Länder gestaffelte Abschläge auf die Mehrleistungen, die Krankenhäuser und Kassen für das kommende Jahr festlegen. Wenn ein Krankenhaus zum Beispiel mehr als zehn Prozent Mehrleistungen erbracht hat, sollen die vereinbarten Mehrleistungsabschläge nicht von dem vereinbarten Basiswert abgezogen werden (100 Prozent), sondern von 110 Prozent.
In der Folge eines Urteils des Bundessozialgerichts sollen niedergelassene Ärzte gemäß Union und FDP zudem künftig an Krankenhäusern ambulante Operationen durchführen dürfen, auch wenn sie dort nicht als Belegarzt tätig sind.
Wartezeiten – KVen sollen künftig nach dem Willen von Union und FDP dafür Sorge tragen, die „angemessene und zeitnahe Zurverfügungstellung der fachärztlichen Versorgung“ sicherzustellen. „Vermeidbare Wartezeiten in der fachärztlichen Versorgung“ sollen auf diese Weise reduziert werden. Die KVen und die Landesverbände der Krankenkassen sollen dabei regeln, welche Zeiten im Regelfall und im Ausnahmefall eine zeitnahe fachärztliche Versorgung darstellen.
Dr. rer. nat. Marc Meißner, Falk Osterloh