ArchivDeutsches Ärzteblatt PP10/2011Psychotherapie in Europa: Italien – Beliebig und wenig differenziert

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Psychotherapie in Europa: Italien – Beliebig und wenig differenziert

Sonnenmoser, Marion

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Psychotherapeuten werden in Italien kaum ernst genommen, und die Wirksamkeit von Psychotherapie wird allgemein angezweifelt. Fotos: Fotolia
Psychotherapeuten werden in Italien kaum ernst genommen, und die Wirksamkeit von Psychotherapie wird allgemein angezweifelt. Fotos: Fotolia

Etwa 35 000 Psychologische und ärztliche Psychotherapeuten sind in Italien tätig. Die Dichte variiert stark und ist meist von der Finanzkraft einer Stadt oder Region abhängig. Befriedigend ist die Versorgung nicht.

Die erste Psychoanalytikervereinigung Italiens, die Società Psicoanalitica Italiana, wurde im Jahr 1932 von Dr. Edoardo Weiss aus Triest zusammen mit Cesare Musatti und anderen Mitstreitern gegründet. Er gab die Zeitschrift Rivista Italiana di Psicoanalisi heraus und gilt seither als der erste qualifizierte Psychoanalytiker und als einer der Begründer der Psychotherapie in Italien. Weiss war ein Schüler Freuds und brachte nach seiner Rückkehr aus Wien die Psychoanalyse in ein Land, das sich heftig dagegen wehrte. „Die stärksten Gegenkräfte waren die katholische Kirche und die faschistische Partei – sie sorgten dafür, dass sich die Psychoanalyse kaum verbreiten konnte“, berichten die italienischen Psychologen Marco Gemignani (Universität Duquesne, USA) und Massimo Giliberto (Universität Padua, Italien). Weiss musste in die USA fliehen, Musatti verlor seinen Lehrstuhl, und die Psychoanalyse kam weitgehend zum Erliegen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen die Psychoanalyse und andere psychotherapeutische Verfahren in Italien wieder eine Chance. Das Interesse richtete sich jetzt aber vor allem auf kognitive und behavioristische Verfahren. Obwohl die Psychotherapie in den folgenden Jahrzehnten aufblühte, galt sie dennoch bis in die 80er Jahre hinein als unwissenschaftlich und war gesetzlich nicht geregelt. Das änderte sich erst 1989, als eine Berufsordnung für Psychologen (Gesetz Nr. 56, sogenannte Ossicini-Gesetz) verabschiedet wurde. Sie schuf eine gesetzliche Grundlage und gab Standards für Ausbildung und Berufsausübung vor. Heutzutage ist die Psychotherapie in Italien ein etabliertes Behandlungsverfahren. Allerdings dominiert nicht wie in anderen europäischen Ländern eine bestimmte therapeutische Orientierung oder Schule, sondern es wird eine große Bandbreite an Verfahren praktiziert, die offenbar als gleich bedeutsam angesehen werden und auch nicht miteinander konkurrieren.

Um in Italien den Beruf des Psychotherapeuten ausüben zu können, bedarf es eines abgeschlossenen Medizin- oder Psychologiestudiums. Das Psychologiestudium dauert fünf Jahre (drei Jahre Grundstudium, zwei Jahre Laurea). Ihm schließen sich ein einjähriges Praktikum (post lauream) und eine Staatsprüfung an. Nach dem Studium folgt eine vierjährige Zusatzausbildung, die entweder an einer Hochschule oder an einem privaten, staatlich genehmigten Institut absolviert werden kann. Die Ausbildung erfolgt üblicherweise in anerkannten psychotherapeutischen Verfahren wie psychodynamischer Psychotherapie, kognitiv-behavioraler Psychotherapie, Verhaltenstherapie, klientenzentrierter Psychotherapie oder Familientherapie. In den vergangenen Jahren sind jedoch viele weitere Verfahren in den Ausbildungskanon aufgenommen worden. Zurzeit gibt es in Italien circa 300 Institute, die Zusatzausbildungen und Fortbildungen in allen erdenklichen psychotherapeutischen Schulen und Verfahren anbieten und die, sobald sie die Lehrerlaubnis erworben haben, allerdings kaum einer Regulierung oder Überwachung unterliegen.

Jeder Psychotherapeut ist obligatorisches Mitglied entweder der Ärzte- oder der Psychologenkammer, da es keine eigenständige Psychotherapeutenkammer gibt. Außerdem ist er verpflichtet, sich in eines der beiden Psychotherapeutenregister eintragen zu lassen, das von der Ärzte- und Psychologenkammer gemeinsam verwaltet wird.

In Italien sind etwa 35 000 Psychotherapeuten tätig. 7 000 praktizieren im nationalen Gesundheitswesen, alle anderen sind niedergelassen oder an Privatkliniken tätig. Zwei Drittel davon sind Psychologen, ein Drittel Ärzte. Die Psychotherapeutendichte variiert stark und hängt in erster Linie von der Finanzkraft einer Stadt oder Region ab. Die psychotherapeutische Versorgung ist daher in einigen Gegenden gut, in anderen hingegen verbesserungsfähig. Nach Einschätzung von Dr. Pierangelo Sardi, Psychologischer Psychotherapeut und Repräsentant der italienischen Psychologenvereinigung in Rom, reicht die momentane Anzahl an Psychotherapeuten allerdings nicht aus, um von einer befriedigenden Versorgungslage sprechen zu können. Hinzu kommt, dass die Zahl psychischer Erkrankungen in den vergangenen Jahren zugenommen hat und der Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungen deutlich gestiegen ist. Die momentane wirtschaftliche Lage in Italien lässt jedoch befürchten, dass junge Psychologen und Psychotherapeuten sich beruflich in naher Zukunft eher ins Ausland orientieren und nicht für die dringend benötigte Bedarfsdeckung zur Verfügung stehen.

Für italienische Patienten gibt es verschiedene Zugänge zur Psychotherapie. Sie können unterteilt werden in staatliche und private Angebote. Alle Angebote, die vom nationalen Gesundheitssystem angeboten werden, sind für die Patienten kostenfrei. Alle privaten Angebote müssen hingegen selbst bezahlt werden. Bei letzteren übernehmen manchmal private Versicherungen die Behandlungskosten, allerdings sind solche Versicherungen rar und stehen nur bestimmten Berufsgruppen offen.

Das nationale Gesundheitssystem bietet in erster Linie stationäre Behandlungen an. Darüber hinaus können sich Patienten an staatliche Ambulanzen oder Kliniken wenden, die teilweise auf Ess- und Angststörungen oder Drogensucht spezialisiert sind. Außerdem gibt es Zentren für Gesundheit und soziale Dienstleistungen, die sich in erster Linie mit Familienplanung befassen, aber auch psychologische Beratung und psychotherapeutische Behandlung anbieten. Die Therapien sind meistens befristet. Zum Einsatz kommen hauptsächlich psychoanalytische-psychodynamische Verfahren, kognitiv-behaviorale Therapie und Familientherapie, wobei der Trend zu Kurzzeittherapien geht.

Viele Unannehmlichkeiten

Für die Nutzung des nationalen Gesundheitssystems müssen Patienten zwar nichts bezahlen, allerdings lässt die Qualität der Angebote nach Meinung der Psychologin Ginevra De Bellis von der Universität Rom in vielen Bereichen zu wünschen übrig. Patienten müssen zum Beispiel damit rechnen, dass sie den Therapeuten nicht wechseln können, dass die Therapiesitzungen fast jedes Mal in einem anderen Raum stattfinden, dass Sitzungstermine häufig geändert werden oder dass die Patienten abgelehnt werden, weil eine Ambulanz nur Notfälle behandelt. Wer solche Unannehmlichkeiten vermeiden will, sollte sich daher besser zu einem niedergelassenen Psychotherapeuten begeben. Hier haben italienische Patienten freie Auswahl, denn das Angebot ist groß, und es gibt weder Einschränkungen durch Indikation, Setting oder Verfahren noch eine zeitliche Befristung der Behandlungsdauer.

Aufklärung ungenügend

Herrschen in Italien also paradiesische Zustände im Bereich der Psychotherapie? Laut De Bellis ist dies nicht der Fall. Denn niedergelassene Psychotherapeuten spezialisieren sich meistens nicht, klären nicht genügend über ihr Angebot auf, grenzen sich zu wenig von anderen Anbietern und Angeboten ab und bieten in der Regel gleich mehrere Therapieverfahren an. Dementsprechend behandeln sie eklektisch, das heißt, sie wenden an, was ihnen richtig erscheint. Auch andere Institutionen klären Patienten nicht über die Besonderheiten und Unterschiede oder über Vor- und Nachteile einzelner therapeutischer Schulen und Verfahren auf, so dass Patienten oft irritiert sind und sich hilflos fühlen, wenn es darum geht, eine geeignetes Verfahren auszuwählen. „In den Augen vieler Patienten sind alle Psychotherapien gleich“, berichtet De Bellis und bedauert, dass die scheinbare Beliebigkeit, die fehlende Aufklärung sowie die mangelnde Differenzierung und Orientierung zu einer Rufschädigung geführt haben: Psychotherapeuten werden kaum noch ernst genommen, und die Wirksamkeit von Psychotherapie wird allgemein angezweifelt. Nicht nur in diesem Punkt muss sich in Italien also noch einiges tun.

Dr. phil. Marion Sonnenmoser

1.
De Bellis G: The Italian approach to professionalisation of psychotherapy. European Journal of Psychotherapy and Counselling 2009; 11(2): 151–9.
2.
Gemignani M, Giliberto M: Counseling and psychotherapy in Italy: A profession in constant change. Journal of Mental Health Counseling 2005; 27(2): 168–84.
3.
Psychologenkammer der Provinz Bozen: Berufsordnung der Psychologen, Gesetz
Nr. 65. Bozen 1989; www.psibz.org.
4.
Sardi P: Italy. In: Bundespsychotherapeutenkammer: Psychotherapy in Europe – Disease management strategies for depression. Berlin 2011: 30–1.
1.De Bellis G: The Italian approach to professionalisation of psychotherapy. European Journal of Psychotherapy and Counselling 2009; 11(2): 151–9.
2.Gemignani M, Giliberto M: Counseling and psychotherapy in Italy: A profession in constant change. Journal of Mental Health Counseling 2005; 27(2): 168–84.
3.Psychologenkammer der Provinz Bozen: Berufsordnung der Psychologen, Gesetz
Nr. 65. Bozen 1989; www.psibz.org.
4.Sardi P: Italy. In: Bundespsychotherapeutenkammer: Psychotherapy in Europe – Disease management strategies for depression. Berlin 2011: 30–1.

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