ArchivDeutsches Ärzteblatt PP10/2011Jugend im Nationalsozialismus: Bewältigung als lebenslanger Begleiter

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Jugend im Nationalsozialismus: Bewältigung als lebenslanger Begleiter

Rudolf, Gerd

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Andreas Ploeger hat ein Buch geschrieben, das sich mit der Situation von Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus bis zum Kriegsende beschäftigt. Entstanden ist ein vielschichtiges Werk, das in sehr spezieller Weise die Persönlichkeit des Autors widerspiegelt. Ploeger ist ein erfahrener Psychotherapeut, der sich dafür interessiert, was Menschen in ihrer Entwicklung geprägt hat. Er hat sich lange vor der heutigen Faszination von dem Thema Trauma therapeutisch und wissenschaftlich mit Menschen beschäftigt, die Extremsituationen überlebt haben: zum Beispiel die Bergleute von Lengede oder die Passagiere der Flugzeugentführung von Mogadischu. In dem Buch gibt er nun der wissenschaftlichen Traumathematik eine neue, sehr persönliche Note.

Mit psychologisch-wissenschaftlichen Engagement macht sich der Autor daran, die Lebensbedingungen von Jugendlichen in einem totalitären Regime zu analysieren und zu beschreiben, wie sie ab früher Jugend systematisch indoktriniert und zu militärischem Gehorsam erzogen werden, um dann als 17-jährige Luftwaffenhelfer und schließlich als Rekruten der Wehrmacht eingesetzt zu werden. Es ist von Anfang an deutlich, dass der Autor dabei seine persönlichen Erfahrungen aufgreift, ohne dass dadurch so etwas wie ein „Betroffenenbericht“ entsteht. Wenn der nun über 80-Jährige seine Situation als 18-Jähriger reflektiert, ist es ihm besonders wichtig, die gesellschaftlichen Bedingungen jener Zeit in allen Einzelheiten darzustellen und ihre Auswirkungen auf die davon betroffenen Kinder und Jugendlichen teils beschreibend, teils psychologisch interpretierend deutlich werden zu lassen. Sein besonderes Augenmerk richtet er dabei auf die Sprache der Epoche und des Systems.

Man fühlt sich an Sternberger erinnert, der in seinem „Wörterbuch der Unmenschen“ zeigte, wie tief das nationalsozialistische Denken in den alltäglichen Sprachgebrauch eingedrungen war und unreflektiert selbstverständlich weiterverwendet wurde. Ploeger verdeutlicht mit Hilfe der sprachlichen Auffälligkeiten das Faktische und Unausweichliche, das die damalige gesellschaftliche Struktur für die Jugendlichen besaß: die selbstverständliche Einbindung in das Jungvolk, die Hitlerjugend, anschließend in den Reichsarbeitsdienst und die Wehrmacht, wodurch die Kinder und Jugendlichen in endlos sich wiederholenden Ritualen geformt, indoktriniert und kollektiviert werden. Als Ziel all dieser Maßnahmen wird die Bereitschaft der Jugendlichen beschrieben, sich letztlich als „Kanonenfutter“ zur Verfügung zu stellen, das heißt freiwillig als unerfahrene, schlecht ausgebildete Soldaten gegen einen weit überlegenen Gegner anzutreten, der zu jener Zeit den Krieg längst gewonnen hatte.

Da berührt die zentrale Erfahrung des Autors, der bei der ersten Begegnung mit den gegnerischen Truppen erleben musste, dass seine gesamte Gruppe aufgerieben, fast alle Kameraden getötet wurden, während er selbst sich mit von MG-Salven zerfetzten Kleidern unverletzt retten konnte. Diese traumatische Situation wird im Anfangsteil des Buches kurz erwähnt. Man ist dennoch geneigt, sie beiseitezustellen und zu vergessen, angesichts der darauf folgenden fast 300 Seiten, die sehr sachlich engagiert und in vielen wissenschaftlichen Exkursen die Persönlichkeitsentwicklung von Adoleszenten unter den Bedingungen einer streng ideologischen Sozialisation darstellen. Wenn dann am Ende des Buches das traumatische Thema wieder aufgegriffen wird, ist es wie ein Einbruch des Furchtbaren und emotional Überwältigenden in die Welt der ideologischen Versachlichung und Verleugnung. Bis zum Ende des Buches bleibt der Autor auf dieser emotionalen und zunehmend persönlichen Ebene, wenn er beschreibt, wie er sich nach vielen Jahrzehnten nun als älterer Mensch dem traumatischen Jugendereignis räumlich und gefühlsmäßig annähert, wie er unterstützt wird, wie er den Kontakt zu Augenzeugen und Zeitgenossen sucht, um sich mit ihnen auszutauschen und gemeinsam ein Verständnis des sinnlosen Geschehens zu erarbeiten. Spätestens hier und angesichts der gesammelten Dokumente wird spürbar, dass es sich bei dem Buch auch um die persön-liche Bewältigung einer Traumaerfahrung handelt. Gerd Rudolf

Andreas Ploeger: „Kanonenfutter“. Die Verführung der Hitler-Jugend in den Tod. Zur Psychologie des „totalen Krieges“. Pabst Science Publisher, Lengerich 2011, 392 Seiten, kartoniert, 35 Euro

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