ArchivDeutsches Ärzteblatt44/2011Menschen mit Autismus: Barrierefreier Zugang zur Versorgung

THEMEN DER ZEIT

Menschen mit Autismus: Barrierefreier Zugang zur Versorgung

Sappok, Tanja; Dern, Sebastian

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Denken, Wahrnehmung und Kommunikation weisen bei Menschen im Autismus-Spektrum häufig Besonderheiten auf. Diese zu berücksichtigen, erleichtert Ärzten die Behandlung und den Betroffenen den Zugang zum Gesundheitssystem.

Menschen im Autismus-Spektrum brauchen einen möglichst barrierefreien Zugang zum Gesundheitssystem, denn sie leiden häufiger als die Durchschnittsbevölkerung zusätzlich an psychischen oder körperlichen Krankheiten. Nach aktuellen Studien können ein bis zwei Prozent der Bevölkerung als Autisten bezeichnet werden (1, 2, 3). Bei Menschen mit zusätzlicher geistiger Behinderung zeigt sich eine autistische Symptomatik in bis zu 25 Prozent der Fälle (4). Nach der aktuellen Datenlage ist jedoch nicht nur das Wissen von Allgemeinärzten über Autismus unzureichend, Autisten haben auch Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen (5, 6). Aus psychiatrischer Sicht findet man eine Häufung depressiver Erkrankungen und Angststörungen (4, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13). Die meisten Menschen im autistischen Spektrum sind normal intelligent, einige überdurchschnittlich, und bei einem Teil besteht zusätzlich eine geistige Behinderung. Auch verschiedene körperliche Erkrankungen, wie zum Beispiel Epilepsien, treten vermehrt auf und erfordern eine adäquate Behandlung (14, 15, 16).

Denk- und Wahrnehmungsbesonderheiten bei Autismus

Nach den aktuellen Diagnosesystemen (ICD-10; DSM-IV) handelt es sich bei Autismus um eine phänomenologisch basierte Summationsdiagnose, die eine Störung in den Bereichen der sozialen Interaktion, der Kommunikation und dem reduzierten Spektrum an Handlungen und Interessen sowie dem Festhalten an Routinen und Ritualen beinhaltet (17). Es ist wichtig, die Besonderheiten im Denken und Wahrnehmen von Menschen mit Autismus zu kennen, um das beobachtbare Verhalten dieser Menschen besser zu verstehen:

  • Sensorische Besonderheiten (häufig Überempfindlichkeit wie auch Unempfindlichkeit auf visuelle, auditive, olfaktorische und taktile Reize)
  • Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einzelne Interessen, verbunden mit der Schwierigkeit, eine Vielzahl von Interessen beachten zu können (Monotropismus)
  • Schwierigkeiten mit Veränderungen und dem Abwägen von Alternativen
  • Wortwörtliches Sprachverständnis, Schwierigkeiten mit Ironie und Metaphern
  • Präzision und Genauigkeit, verbunden mit Schwierigkeiten, zu generalisieren und Veränderungen zu antizipieren
  • Schwierigkeit, die Perspektive anderer zu erkennen und zu verstehen („Theory of Mind“, mentalisieren)
  • Schwierigkeiten, eigene Gemütszustände zu erkennen, zu benennen, zu verstehen und zu bewerten (zum Beispiel auf einer Skala von null bis zehn).
  • Handlungsplanung und -steuerung (Exekutivfunktionen beziehungsweise Motorik) sind erschwert.

Daraus resultieren eine Überforderung, insbesondere bei Veränderungen und sensorischer Überstimulierung (Overload), eine erhöhte Ablenkbarkeit und eine verlängerte Verarbeitungszeit. Berücksichtigen Ärzte die Denk-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsbesonderheiten im Umgang mit Autisten, kann deren medizinische Versorgung deutlich verbessert werden.

Barrierefreiheit meist nur für körperlich Behinderte

Auch Personen im Autismus-Spektrum mit durchschnittlicher und überdurchschnittlicher Intelligenz und teilweise beachtlichen Sonderbegabungen können in ihren alltagspraktischen Fähigkeiten stark eingeschränkt sein. Nach den 2009 ratifizierten Behindertenrechtskonventionen der Vereinten Nationen besteht für alle Menschen ein Recht auf Selbstbestimmung, gesellschaftliche Teilhabe, einen angemessenen Lebensstandard und gesellschaftliche Wertschätzung. Der daraus erwachsende, gesamtgesellschaftliche Auftrag nach „Barrierefreiheit“ sollte gerade in der medizinischen Versorgung erreicht werden. Entsprechende Maßnahmen berücksichtigten bisher allerdings in erster Linie körperlich behinderte Menschen (Blinde, Gehörlose, Rollstuhlfahrer). Auch Personen mit kognitiven, psychischen oder durch Autismus bedingten Behinderungen sollte der Zugang zum Gesundheitssystem erleichtert werden.

Ein partnerschaftliches Projekt von Erwachsenen mit Autismus und Forschern in Berlin zeigte in einer Fragebogenstudie, dass Allgemeinmediziner nicht signifikant mehr über das Autismus-Spektrum wissen als die Durchschnittsbevölkerung (5). In einem weiteren partizipativen Forschungsprojekt berichten autistische Erwachsene in den USA im Vergleich zu Erwachsenen ohne Behinderungen über größere „Barrieren zur Gesundheitsversorgung“, ein geringeres „psychisches Wohlbefinden“ sowie eine geringere „Selbstwirksamkeit“ (6). Seit 2006 finden unter anderem in Berlin regelmäßig Autisten-Fachkräfte-Treffen statt, wo Autisten und Menschen, die beruflich mit ihnen arbeiten, sich auf gleicher Ebene themenbezogen austauschen. Dort wurden die Barrieren in der medizinischen Versorgung thematisiert und auch Empfehlungen für Ärzte und medizinisches Personal zum Umgang mit autistischen Menschen entwickelt (Tabelle).

Autismusspezifische kommunikative, interaktionelle und sensorische Besonderheiten erschweren den Betroffenen eine adäquate medizinische Versorgung. Bei vielen Menschen im autistischen Spektrum besteht eine Intelligenzminderung (4). Aufgrund der eingeschränkten verbalen und intellektuellen Fähigkeiten können diese Patienten weder ihre Beschwerden schildern, noch auf spezifische, in der Tabelle genannte Schwierigkeiten hinweisen. Viele zeigen ihre Not und Überforderung durch Stresszeichen und zum Teil schwerwiegende Verhaltensauffälligkeiten. Autisten ohne Intelligenzminderung können ihre Probleme auch nicht immer angemessen äußern, und unter Umständen werden ihnen die Schwierigkeiten nicht geglaubt, da ihnen die Schwere der Beeinträchtigung nicht anzusehen ist.

Werden die Besonderheiten berücksichtigt, erleichtert dies den Arztbesuch oder die Aufnahme im Krankenhaus (18), um zusätzliche oder assoziierte Erkrankungen behandeln zu lassen. Auch bei Nervenärzten und Psychiatern sollten die Kenntnisse um die besonderen Belange von Menschen im Autismus-Spektrum, mit und ohne geistige Behinderung, verbessert werden, um deren Versorgung in Kooperation mit Hausärzten befriedigender zu gestalten (19). Das Wissen über und das Verständnis für gesunde autistische Patienten tragen dazu bei, Erkrankungen dieser Patienten identifizieren zu können, die sonst unter Umständen als autistisches Verhalten gewertet werden. Erst wenn zusätzliche psychische oder körperliche Erkrankungen erkannt werden, sind sie auch spezifisch therapierbar. Die autistische Informationsverarbeitung hingegen begleitet den Patienten über die Lebensspanne. Während der Behandlung hilft die Aufrechterhaltung dieser differenzierten Sichtweise, um Komplikationen beziehungsweise Nebenwirkungen zu erkennen und den Therapieerfolg sicherzustellen.

Dr. med. Tanja Sappok, Sebastian Dern Vorstandsmitglied der Aspies e.V.

Dr. med. Tanja Sappok, Oberärztin am Berliner Behandlungszentrum für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung, Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge, Herzbergstraße 79, 10365 Berlin, t.sappok@keh-berlin.de

@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4411

Informationen

  • Barrieren der medizinischen Versorgung für Erwachsene im Autismus-Spektrum: www.aekwl.de/fileadmin/akademie/Materialien/2010/Autismus/05_Dern.pdf
  • Autismus-Forschungskooperation: autismus-forschungs-kooperation.de/infomaterial
  • Aspies e.V. – Menschen im Autismusspektrum:
    www.aspies.de/as.php
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