VARIA: Feuilleton
Johannes Brahms: Frei, aber einsam


Mit 24 Jahren, 1830, war der Kontrabassist Johann Jakob Brahms wirtschaftlich soweit, an Familiengründung zu denken. Er heiratet die 41jährige, Johanna Henrike Christiane Nissen. Von drei Kindern war Johannes der zweite, geboren am 7. Mai 1833. Johannes erhält früh vom Vater Musikunterricht, wird in die ABC-Straße zur Schule geschickt, hat mit sieben Jahren einen speziellen Klavierlehrer, Cossel, und spielt schon mit zehn Jahren so umwerfend, daß ein geschäftstüchtiger Agent ihn nach Amerika mitnehmen will. Cossel kann das verhindern, indem er ihn zum bedeutendsten Klavierpädagogen Hamburgs, Eduard Marxsen, bringt, der ihn unentgeltlich fördert.
Beginn einer Karriere
Früh trägt Johannes Brahms zum Lebensunterhalt bei mit Klavierspiel. Ist die Schulbildung auch bescheiden, hat der Knabe doch großen Lesehunger, gibt Erspartes für Bücher aus; er liest, während er wie automatisch zum Tanz aufspielt; so kommt er schon mit 13 Jahren bis Bergedorf und Winsen. Die drei Klaviersonaten op. 1, 2 und 5 stammen alle noch aus der Frühzeit, aus Brahms’ 19., 20. und 21. Lebensjahr, also aus der Zeit kurz vor und während der Begegnung mit den Schumanns. Gerade die dritte, die f-Moll-Sonate, op. 5, die erst in Düsseldorf zu Ende geschrieben wurde, macht deutlich, wie ungeheuer rasch das junge Genie sich weiterentwickelte zu eigenständiger pianistischer Ausdrucks- kunst. Der Violinist Joseph Joachim kommt nach Düsseldorf hinzu und wird empfangen mit einer ihm dedizierten "F.a.e.-Sonate" - Joachims (und später auch Brahms’) Leitmotiv: "Frei, aber einsam". Brahms bleibt bis Anfang Oktober bei Familie Schumann.
Im Winter trifft man sich in Hannover, musiziert mit Joachim, und die Harmonie ist so groß, daß nichts die heraufkommende Tragödie mit Schumann ahnen läßt. Der rennt wenig später, am 27. Februar 1854, auf der Flucht vor gräßlichen Engels- und Teufelsstimmen, in den Rhein, wird herausgezogen und in die "Irrenanstalt" Endenich gebracht, aus der er lebend nicht wieder herauskommt. Aus Brahms’ Mitempfinden wächst eine tiefe Zuneigung zu der 14 Jahre älteren Clara. Die 34jährige Künstlerin und Mutter von sechs Kindern bleibt jedoch auf Distanz. Auf Drängen Claras entschließt sich Brahms endlich, in Konzerten aufzutreten. Im Herbst 1855 geht die Reise mit Clara und Joachim nach Danzig, Bremen, Leipzig, Hamburg - überall "enthusiastischer Beifall".
1857 wird Brahms Chordirektor am Detmolder Fürstenhof. Im Sommer zieht es ihn zurück nach Hamburg; er gründet dort einen Damenchor und verliebt sich 1858 heftig in Agathe von Siebold, Tochter eines Göttinger Arztes, ja, er verlobt sich gar. Clara besucht ihn in Göttingen und sieht auf einem Spaziergang ihren Johannes Arm in Arm mit Agathe. Noch am gleichen Tag reist sie ab. Brahms aber kann Claras Schatten nicht loswerden; sie bleibt die große seelische Begleiterin seines ganzen Lebens. Seine Verlobung mit Agathe von Siebold währt nur kurze Zeit.
1857 vollendet Brahms sein erstes Klavierkonzert op. 15; daraus läßt sich seine ganze Zerrissenheit, aber auch die Festigung seiner Persönlichkeit heraushören. Über den "glänzenden Durchfall" mit der Erstaufführung seines d-Moll-Klavierkonzertes in Leipzig, Januar 1859, schreibt Brahms an Clara: ". . . Aber das Zischen - war doch zuviel." Stolz und hart macht ihn die Erfahrung von Leipzig; in Hamburg hat er schon im März großen Erfolg; und er verspricht dem Freund Joseph Joachim, er werde ein zweites schreiben. Es wird Jahrzehnte dauern bis zur Einlösung dieses Versprechens.
1860 zieht Brahms von Detmold wieder nach Hamburg. Drei Jahre später übernimmt er die Leitung der Wiener Singakademie, hält das aber permanenter Querelen und Mißerfolge halber nur ein Jahr durch. Schon in den letzten Hamburger Jahren hatte Brahms sich intensiv der Variationskunst zugewandt und eine Reihe von Zyklen geschrieben. Er ist 28 Jahre alt und schon recht berühmt, als ihn 1862 in Wien die Nachricht erreicht, daß seine Vaterstadt Hamburg die Leitung der Philharmonischen Konzerte nicht ihm, sondern seinem Freund, dem Sänger Stockhausen, übertragen hatte. Diese Kränkung vergißt Brahms den Hamburgern nie; sie wird mit ausschlaggebend dafür, daß er schließlich 1869 definitiv in Wien Fuß faßt.
Die Wiener Jahre
In Brahms’ ersten Wiener Jahren entstanden, in sehr engem Kontakt mit dem Klaviervirtuosen Karl Tausig, die faszinierenden Paganini-Variationen op 35: das letzte Klavierwerk des jungen Brahms. Danach, mit 33 Jahren, wandte er sich stärker der Vokalkomposition zu und der Kammermusik, bis er sich stark genug fühlte, an Sinfonien heranzugehen. Erst im Alter folgen wieder Klaviersolowerke: zwei Rhapsodien op. 79, acht Klavierstücke op. 76 sowie die Intermezzi und Phantasien op. 116, 117, 118 und 119.
Bedrückender als seine Zurücksetzung im Hamburger Musikleben war die Zerrüttung der elterlichen Ehe für den großen Sohn. Es kommt zur Trennung; ein Jahr später, 1865, stirbt seine Mutter an einem Schlaganfall. Brahms vollendet seine Arbeit am Deutschen Requiem, das vielen als sein Hauptwerk gilt.
1872 bezieht er die Wohnung in der Karlsgasse 4. Bis zu seinem Tod bleibt er hier Untermieter der Schriftstellerswitwe Celestine Truxa. 1872 wird er "artistischer Direktor" der "Gesellschaft der Musikfreunde", das bedeutet Leitung der Wiener Philharmoniker. Er setzt sich durch - aber ihm liegen Organisation, Intrigen, Querelen überhaupt nicht. Statt sich um Termine für die kommende Saison zu kümmern, ist er im Sommer irgendwo im Schwarzwald, um zu komponieren, zu wandern und das einfache Leben zu genießen - nicht erreichbar. Der Vertrag wird nach immerhin drei Jahren aufgelöst. Finanziell längst unabhängig, liebt er das Leben als freier Künstler. Als Komponist, Konzertpianist und Dirigent gleichermaßen gefragt, unternimmt er weite Konzertreisen, beginnend Mitte der siebziger Jahre, auf denen er überwiegend eigene Werke aufführt. 1879 wird ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Breslau verliehen; zum Festakt bringt Brahms seine "Akademische Festouvertüre" mit - und einen Vollbart.
Freundschaften
Brahms’ großes Hauptwerk aus der Mitte des Lebens ist das 2. Klavierkonzert B-Dur op. 83. Bei der Uraufführung in Budapest saß Brahms am Flügel, um selbst den bis dato längsten Klavierpart der Musikgeschichte zu spielen - es wurde ein grandioser Erfolg.
1867 wurde Theodor Billroth nach Wien berufen. Ein Glücksfall für die Wiener Chirurgie, ein Glücksfall auch für das musikalische Leben in Wien, das noch einmal eine Glanzzeit erleben sollte, in deren Zentrum die legendäre Freundschaft zwischen Billroth und Brahms stand, die, nicht ohne Trübungen, über 20 Jahre anhalten sollte bis zu Billroths Tod 1894. 1873 widmet Brahms dem Freund Streichquartette, unter anderem das in a-Moll mit dem "Heurigen-Adagio", aus dem Billroth, versiert im (besten eigenen) Abschneiden, die erste Zeile benutzte zum Schmuck seines Ordinationszimmers.
Billroths Tod im Jahr 1894 hat Brahms tief berührt und seine Stimmung von Herbst und Vergänglichkeit verstärkt. Sechs Tage später stirbt Bülow in Kairo. War der gewandte und vermögende Mäzen Billroth in Wien sehr förderlich gewesen, so war es in viel höherem Maß Bülow für die Verbreitung Brahmsscher Musik in Deutschland.
Bis zu seinem 63. Lebensjahr äußerte Brahms gern, niemals krank gewesen zu sein. Es stimmt nicht ganz. Masern soll er gehabt haben, einen bleibenden Stimmschaden davongetragen haben. Im Alter von zehn Jahren ist er auf dem Schulweg von einer Pferdedroschke überfahren worden, mit seinem Brustkorb unter ein Rad geraten; der kleine Brahms soll sechs Wochen schwer bettlägerig gewesen sein. 1880 befiel ihn während der Ferien in Bad Ischl ein Tubenkatarrh. Die damit verbundene Hörstörung ließ ihn Taubheit befürchten. Sofort reiste er nach Wien, wurde schon auf dem Bahnhof von Billroth empfangen und einem HNO-Spezialisten zugeführt, der die Sache schnell kurierte.
Nach seinem 50. Geburtstag, 1883, nahm Brahms allmählich seine wuchtige Statur an. Doch immer noch: Übergewicht und Qualmerei haben ihn lang nicht gehindert, ausgedehnte Wanderungen und auch größere Bergtouren zu unternehmen. Ende 1889 grassierte in Wien die Grippe. Der Freund Kahlbeck berichtet, er habe Brahms in "hitzigstem Fieber" angetroffen. Von Arzt, Arznei oder Bettruhe wollte Brahms nichts hören. Seinen Trotz hatte er mit einem Rückfall zu bezahlen.
Es mag scheinen, als ob Brahms’ eigene Lebenskraft abnehmen sollte, als das irdische Leben seiner großen geistigen Gefährtin Clara Schumann, Mitte Mai 1896 erlosch. Kaum war er von der Beerdigung in Bonn zurück, da schreibt der Musiker Richard Heuberger (5. Juni 1896): "Brahms kam mir heute etwas anders, nämlich weit magerer vor. Als ich ihm gegenüber eine derartige Bemerkung machte, sagte er ,Unsinn! Ich bin immer gleich dick, trage immer dieselben Kleider. Sie bilden sich das nur ein.'" Am 15. Juni war Brahms in Wien, zur Silberhochzeit von Dr. Fellinger - welcher, Generaldirektor bei Siemens, persönlich für elektrische Beleuchtung in Brahms’ Wohnung gesorgt hatte. Hier konnten verschiedene Freunde nicht mehr umhin, seine "leise ins Gelblich-Graue spielende" Gesichtsfarbe zu bemerken. Aber niemand wagt, Brahms darauf anzusprechen. Bis es endlich am 7. Juli in Bad Ischl Heuberger doch tut. Nach sonstigen Beschwerden befragt, habe Brahms von "einigen Unregelmäßigkeiten" gesprochen, über deren Art Heuberger rücksichtsvoll schweigt. Und dann, auf die Möglichkeit, einen Arzt zu konsultieren, angesprochen, blieb Brahms, so Heuberger, "den Hut in der Hand und mich mit merkwürdigem Blick ansehend, wie angewurzelt stehen: ,Ich bin kein Hypochonder, beobachte mich gar nicht. Kein Mensch hat mir gesagt, daß ich mich verändert habe. Ich danke Ihnen herzlich. Sie wissen, ich mag mit den Ärzten nichts zu tun haben, aber wenn es was Ernstliches ist, so heißt’s dazu schauen. Aber es ist ärgerlich . . . die paar Jahre, die man noch zu leben hat . . . und zum Arzt (!) gehen!'" Ein Dr. Hertzka hatte "Icterus catarrhalis", eine einfache Gelbsucht als gewöhnliche Begleiterscheinung einer Hepatitis, diagnostiziert. Seiner Sache jedoch nicht sicher, hatte er Prof. Schrötter hinzugezogen. Leopold von Schrötter, Primarius für Innere Medizin am AK Wien, bestätigte Hertzkas Beunruhigung über den Tastbefund einer nicht nur geschwollenen, sondern auch verhärteten Leber. Wie ernst dieser Befund war, ließ Schrötter bei seiner Untersuchung nicht durchblicken und sprach von einer "Gelbsucht, nicht weiter von Belang". Dies ist der Beginn eines sich über acht Monate hinziehenden Täuschungsmanövers, in dem natürlich Brahms mitspielte. Von Juckreiz gequält, schließlich "efeugrün" im Gesicht, wurde er Freunden zum gespenstischen Bild der "Verwüstung eines Menschen".
Brahms’ Tod
Im Januar 1897 ließen die Kräfte so weit nach, daß er seine Spaziergänge nicht mehr regelmäßig machen konnte; und in Wien kam das Gerücht auf, er liege im Sterben. Der ärztliche Bericht seines letzten Arztes, Dr. Breuer, besagt, daß die nun rasch fortschreitende Krankheit "in immer intensiverer Gelbsucht, Nahrungsekel und Wassersucht immer schwerere Leiden brachte". Erst als am 25. März Darmblutungen eintraten, blieb Brahms im Bett. Er war apathisch, verfiel aber nicht in ein Leberkoma, sondern blieb ansprechbar. Bei Brahms waren in der letzten Nacht seines Lebens seine Vermieterin und sein Arzt. Als Brahms um Mitternacht unruhig wurde und auf Befragen von schmerzhafter Spannung im Leib sprach, erhielt er eine Morphium-Injektion und um vier Uhr, bei erneuter Unruhe, ein Glas Rheinwein, das er austrank und sagte: "Ach, das schmeckt schön." Er starb gegen 8.30 Uhr am 3. April 1897.
Foto: Bilderdienst Süddeutscher Verlag, München
Literatur beim Verfasser
Anschrift des Verfassers
Dr. med. Timm Ludwig
Heitbrack 9
29579 Emmendorf