ArchivDeutsches Ärzteblatt23/1998Allergien: Antihistaminika gehören in die Hand des Arztes

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Allergien: Antihistaminika gehören in die Hand des Arztes

Blaeser-Kiel, Gabriele

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LNSLNS Jedes dritte Schulkind leidet heute bereits an allergischer Rhinitis. Nach den neuesten Daten hat sich die Prävalenz des Heuschnupfens innerhalb der letzten 20 Jahre etwa verdoppelt. Über die Ursachen wird zur Zeit noch spekuliert. Wenn die epidemiologisch gestützte Hypothese richtig ist, daß sich bei etwa der Hälfte der Patienten aus der allergischen Rhinitis ein Asthma bronchiale entwickelt, muß mit einem deutlichen Zuwachs an Behandlungskosten gerechnet werden. Schon jetzt wachsen jährlich weltweit die Ausgaben für die Asthmamedikation mit elf Prozent stärker als für die Pharmakotherapie insgesamt (neun Prozent).
Mit der ETAC-Studie (Early Treatment of the Atopic Child) und drei weiteren großen Untersuchungen unter der Bezeichnung PREVENTIA wird zur Zeit geprüft, ob das wissenschaftlich begründete Konzept einer antihistaminergen/antientzündlichen Behandlung mit den Antiallergika Cetirizin beziehungsweise Loratadin das Fortschreiten der pathophysiologischen Prozesse aufhält.
Nachdrücklich wies Prof. Ralph Mösges (Köln) anläßlich der "Rheinischen Gespräche zur Allergologie und Umweltmedizin" darauf hin, daß viele Patienten mit Heuschnupfen erst gar nicht einen Arzt konsultierten, sondern Zuflucht suchten zu alternativen Verfahren wie beispielsweise Akupunktur, Bioresonanz oder Eigenblut, "bei denen wohl die Suggestivkraft des Therapeuten der stärkste Wirkstoff ist". Das Mißtrauen der Patienten gegenüber der Schulmedizin, Tablettenunlust oder Medikamentenphobie sind zum Teil sicherlich auch hausgemacht. Unzureichende Informationen über die immunologischen Hintergründe der Allergie, oberflächliche oder unrealistische Aufklärung über Chancen, Nutzen und Risiken der verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten behindern den Aufbau einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung. Für die Therapie nach individuellen Gesichtpunkten steht inzwischen eine große Auswahl (siehe Kasten) von Alternativen zur Verfügung. Bei Antihistaminika - oral oder topisch verabreicht - setzt die Wirksamkeit am schnellsten ein, und es ist deshalb auch eine Medikation nach Bedarf möglich. Welche Substanz oder Applikationsart man auswählt, hängt von der Art und Schwere der Symptome ab. Geraume Zeit bis zur Wirkung
Mastzellstabilisatoren wie Cromoglicinsäure oder Nedocromil sind Prophylaktika, und der Einsatz ist nur dann erfolgreich, wenn die Einnahme Tage oder Wochen vor der erwarteten Allergenexposition beginnt. Bis die volle Wirkung der topischen Steroide einsetzt, bedarf es ebenfalls einer gewissen Zeitspanne, und nur eine gute Compliance gewährleistet einen kontinuierlichen entzündungshemmenden Effekt. Für nicht minder schädlich hält Mösges die zum Teil auch unter Wissenschaftlern unkritisch geführten Diskussionen um die "Gefährlichkeit" der Antihistaminika und topischen Steroide. Um Scharlatanen nicht Tür und Tor zu öffnen und "uns nicht unsere wertvollen therapeutischen Optionen kaputtzumachen", forderte er alle in der Allergologie praktisch und wissenschaftlich Tätigen auf, viel mehr zu kommunizieren, daß beispielsweise den spektakulären 34 Herztodesfällen, die bisher unter der Therapie mit Terfenadin und Astemizol dokumentiert worden wären, mehrere Milliarden Behandlungen weltweit gegenüberständen. Ähnliches gelte für Loratadin, das jetzt ebenfalls "am Pranger stünde". Gleiche Aufmerksamkeit wie den Hinweisen auf Risiken sollte jedoch auch den Quellen gewidmet werden. Denn häufig liegen ihnen, wie beispielsweise auch den Meldungen über die sedierende Wirkung von Cetirizin oder die wachstumsretardierenden Effekte der nasal zu applizierenden Steroide, Studien zugrunde, deren Ergebnisse oder Schlußfolgerungen von jedem Statistiker demontiert werden könnten. Aufgrund einer solchen potentiellen Überbewertung von Nebenwirkungen verzichtet jetzt das pharmazeutische Unternehmen Rhône-Poulenc Rorer darauf, das bereits zugelassene Ebastin auch in Deutschland auf den Markt zu bringen, berichtete Mösges. "Die Fürsorge des BfArM hat dazu geführt, daß ein vielversprechendes Antihistaminikum den deutschen Patienten vorenthalten bleibt. Es hätte eingeführt werden müssen mit Formulierungen im Beipackzettel, die jeden normal denkenden Menschen davon abhalten würden, das Medikament einzunehmen. Dabei ist Ebastin schon in anderen Ländern millionenfach eingesetzt worden, ohne daß die vielen Nebenwirkungen dokumentiert wurden, vor denen uns das Amt schützen will."
Für den Pharmakologen Prof. Wolfgang Schmutzler (Aachen) ergibt sich aus der Diskussion die Forderung, alle systemisch wirksamen Antihistaminika wieder unter die Verschreibungspflicht zu stellen: "Antihistaminika gehören in die Hand des Arztes und nicht in den Handverkauf der Apotheke."
Fast alle Antihistaminika - nicht nur die in die Diskussion geratenen - haben schwach ausgeprägte, klinisch für die überwiegende Zahl der Patienten nicht relevante, lokalanästhetische Eigenschaften. Unter ungünstigen Bedingungen jedoch, wie beispielsweise bei massiver Überdosierung, entsprechender kardialer Disposition, Störungen der Leberfunktion oder des Elektrolythaushalts sowie besonderer Konstellation einzelner Isoenzyme des für die Verstoffwechselung zuständigen hepatischen Cytochrom-P-450-Systems können Herzrhythmusstörungen auftreten. Obwohl dieses Risiko sehr gering ist - etwa 300 Fälle wurden weltweit bisher unter den spezifischen nicht sedierenden Histamin-H1-Antagonisten, die auch als Substanzen der zweiten Generation bezeichnet werden, dokumentiert -, sollte doch der Einsatz nach Schmutzlers Dafürhalten keinesfalls in das Ermessen des Patienten gestellt werden und nicht ohne entsprechende Erkrankungs- und Medikamentenanamnese erfolgen.
Gabriele Blaeser-Kiel

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