POLITIK: Kommentar
Potenzpille Viagra: Super-GAU für die GKV


In wenigen Wochen und Monaten werden Millionen deutscher Männer dieses ruinöse Blanko-Versprechen einer gesetzlichen Zwangsversicherung einlösen wollen. Die Rechnung, die das Ende dieser solidarischen Krankenversicherung einleiten kann, ist ebenso einfach wie erschreckend: Bei geschätzten 7,5 Millionen Männern, denen in Deutschland eine erektile Dysfunktion mit Krankheitswert zugemessen wird, und dem Einzelpreis der Viagra-Tablette von zirka 20 DM ergibt sich folgendes Szenario in Abhängigkeit von der leistungsrechtlich zugestandenen Koitusfrequenz:
c einmal pro Woche: 7,5 Milliarden DM pro Jahr,
c zweimal pro Woche: 15 Milliarden DM pro Jahr,
c dreimal pro Woche: 22,5 Milliarden pro Jahr,
c täglich: 52,5 Milliarden DM pro Jahr.
Verdoppelung der Arzneimittelbudgets
Zur Erinnerung: Die Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel beliefen sich im Jahr 1997 auf rund 33 Milliarden DM. Damit sind die Forderungen der Kassenärztlichen Vereinigungen für die laufenden Verhandlungen über die Arzneimittelbudgets klar: Die Budgets werden mehr als verdoppelt werden müssen, um die "Stärkung der Manneskraft" als Leistungsanspruch in der GKV halten zu können. Auch für die aktuellen Richtgrößen-Überlegungen ergeben sich interessante Perspektiven: Alleine die Richtgrößen für Urologen werden um mehr als 3 000 Prozent (!) nach oben korrigiert werden müssen. Probleme werden allerdings diejenigen Urologen bekommen, deren Patienten mehr als 25 Prozent "öfter wollen" als der Durchschnitt; sie werden den individuellen Tatendrang ihrer Patienten in Form von Arzneimittelregressen aus dem eigenen ärztlichen Honorar zu finanzieren haben.
Die Hoffnung auf eine eher geringe Inanspruchnahme der Viagra-Therapie durch Kassenpatienten ist pures Wunschdenken. Wer über die Bestätigung der Diagnose "erektile Dysfunktion" den Anspruch auf regelmäßigen Viagra-Konsum erworben hat, dürfte sich selbst bei hohem Alter oder geschwächter Libido die Einlösung dieses Anspruchs kaum entgehen lassen, da dieser Anspruch bares Geld bedeuten kann: Die Verlockung ist groß, sich beispielsweise durch die Weitergabe von Viagra ein "solidarisch finanziertes" Zubrot in der Größenordnung von mehr als 1 000 DM pro Jahr zu verdienen. Denn: Auf europäischer Ebene mag der Euro die neue Währung sein, in Sport- und Fitneß-Studios dürfte dagegen künftig Viagra unter der Hand hoch im Kurs stehen. Nach der Zulassung des Potenzmittels im Kleinstaat San Marino ist Viagra inzwischen auch in Europa erhältlich und kann durch Einkauf von Großpackungen zur Finanzierung einer Italien-Reise beitragen. Der "Große Preis von San Marino" erfährt hierdurch einen postmodernen Bedeutungswandel: die neue "Formel 1" heißt Viagra. Auch die Hoffnung, daß der leistungsrechtliche Super-GAU letztlich durch die Sozialgerichte abgewendet werden könnte, wird sich nicht erfüllen. Die Sozialgerichte haben Leistungsansprüche von Versicherten im Bereich der "Krankenbehandlung" noch nie mit den Finanzierungsgrenzen einer gesetzlichen Zwangsversicherung rückgekoppelt. Sie haben zudem die Behandlung der erektilen Dysfunktion durchweg als Leistungsanspruch des Kassenpatienten definiert. Daher steht zu erwarten, daß man sich allenfalls mit der Frage auseinandersetzt, welches Ausmaß sexueller Aktivität nach den Kriterien des Sozialgesetzbuches "notwendig, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich" ist. Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen schließlich ist vor dem Hintergrund dieser ständigen Rechtsprechung machtlos: Er wird Viagra nicht aus dem GKV-Leistungskatalog ausschließen können. Gegenteilige lautstarke Behauptungen werden dem Ansehen des Bundesausschusses eher abträglich sein, wenn sich dann herausstellen sollte: "Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet!"
Realitätsimmune Verfechter eines unbegrenzten Leistungsanspruchs in der Gesetzlichen Krankenversicherung wird die Viagra-Thematik ohnehin nur zu einem trotzigen "Jetzt erst recht" animieren. Es wäre allerdings interessant zu erfahren, wie die Viagra-bezogene Variante des berühmten Totschlag-Arguments lautet: "Weil Du arm bist, mußt Du früher . . ."
Im übrigen haben die ideologisch sattelfesten Sozialpolitiker bereits die Lösung des Viagra-Problems öffentlich propagiert: Die Pflichtversicherungs- und die Beitragsbemessungsgrenze sollen angehoben werden! Bei so vielen Gewinnern darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch der Bundesfinanzminister mit 16 Prozent am Viagra-Geschäft beteiligt ist. Die GKV-Beitragszahler werden bis zu fünf Milliarden DM an ViagraUmsatzsteuer in die öffentlichen Kassen lenken. Allerdings: Dort werden sie wohl wiederum für Viagra dringend benötigt, da selbstverständlich auch Sozialhilfeempfänger von den sexuellen Segnungen des Sozialstaates profitieren sollen.
Gesetzgeber ist gefordert
Angesichts dieses mit unerbittlicher Schärfe auf uns zukommenden absurden Szenarios ist die Gesundheitspolitik gefordert, dem leistungsrechtlichen Spuk um Sexualität und Fortpflanzung als Pflichtleistungen einer solidarischen Zwangsversicherung durch gesetzliche Klarstellungen ein Ende zu bereiten. Für die im zermürbenden Parteiengezänk aufgeriebene Gesundheitspolitik gilt jedoch gerade im Wahljahr: Nie war sie so blockiert wie heute! Deswegen ist fest damit zu rechnen, daß der Deutsche Bundestag dem Abdriften der Gesetzlichen Krankenversicherung in den finanziellen Overkill tatenlos zusehen wird. Noch hat die deutsche Sozialpolitik allerdings eine Galgenfrist, da Viagra bislang noch nicht die europäische Zulassung besitzt und daher derzeit in Deutschland nur unter der Ausnahmebestimmung des § 73 Abs. 3 Arzneimittelgesetz in Verkehr gebracht werden kann. Die europäische Zulassung für Viagra wird etwa zeitgleich mit der Bundestagswahl am 27. September erwartet. Der Umgang mit der Viagra-Thematik dürfte daher eine der ersten gesundheitspolitischen Nagelproben für die neugewählte Bundesregierung werden.
Natürlich ist Viagra nicht das einzige Problem in diesen Tagen. Aber es steht wie kein zweites Thema für die Psychopathologie dieser Gesellschaft und gleichzeitig für die Unaufrichtigkeit der aktuellen Debatte um Leistungsansprüche und Wirtschaftlichkeitsreserven in einem System, in dem sämtliche leistungsrechtlichen Inplausibilitäten und Fehlentscheidungen von Gesetzgebern und Gerichten auf den Kassenärzten abgeladen werden. Arzneimittelbudgets und Richtgrößen geraten angesichts der Dimension der Viagra-Thematik zur Farce. Und: Viagra wird nicht allein bleiben. In den Entwicklungs-Pipelines der pharmazeutischen Industrie stecken bereits die nächsten finanziellen Sprengsätze für eine solidarische Krankenversicherung. Viagra wird den notwendigen Transformationsprozeß der Gesetzlichen Krankenversicherung, für den auch "Leistungsventile" wie Kostenerstattung und individuelle Gesundheitsleistungen stehen, stärker katalysieren als irgendeine andere medizinische Innovation in den vergangenen Jahren. "In der Woche zwier schadet weder ihm noch ihr", hatte Martin Luther vor rund 500 Jahren postuliert. Jetzt wird dies "ihr" einen Schaden von vielleicht 15 Milliarden DM pro Jahr bescheren: "ihr" - der GKV. Dr. med. Lothar Krimmel
Anzeige
Leserkommentare
Um Artikel, Nachrichten oder Blogs kommentieren zu können, müssen Sie registriert sein. Sind sie bereits für den Newsletter oder den Stellenmarkt registriert, können Sie sich hier direkt anmelden.