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Ärztliche Entscheidungsfreiheit: Die Gefährdung nimmt zu


Die Themen, die die Kaiserin-Friedrich-Stiftung für das ärztliche Fortbildungswesen jährlich auf ihrem Symposion für Juristen und Ärzte bearbeiten lässt, haben es in sich. Stets loten namhafte Vertreter der beiden Disziplinen Untiefen, Widersprüche, Fehlentwicklungen kundig aus, so auch Ende Februar zur „Gefährdung der ärztlichen Entscheidungsfreiheit – Gefahren der Korruption“. (Ausführlicher Bericht folgt.)
Probleme, die ärztliche Entscheidungsfreiheit zu wahren, gibt es in Praxen und Kliniken genug. Seit Jahren werden die Einflüsse durch eine pharmagesponserte Fortbildung kritisch diskutiert. Auch durch ökonomische Anreize verzerrte Entscheidungen, beispielsweise Klinikzuweisungen oder Zytostatikageschäfte, sind seit langem im Gespräch. Ärztinnen und Ärzte werden aber nicht nur gelockt, sondern auch unter Druck gesetzt, ihre ärztliche Entscheidung an fremde Vorgaben anzupassen: durch minutengenaue Pläne, was wie lange im Operationssaal zu dauern hat, durch gezielte Anreize in Selektivverträgen, durch die Verbindung von Drittmitteleinwerbung und Forscherkarriere.
„Die Saalauslastung im OP geht mittlerweile über alles. Der schnelle Operateur ist der preiswerte“, kritisierte Prof. Dr. med. Hans-F. Kienzle, ehemaliger Chefarzt aus Köln. Dieser Druck sei aber schädlich. Kienzle verwies darauf, dass organisatorische Verbesserungsansätze wie KTQ, Team Time Out oder CIRS sicher ihren Wert hätten, aber: „Das sind alles Reaktionen darauf, dass es nicht gut läuft.“ Dass der Druck in der Klinik Folgen hat, davon zeigte sich auch Dr. jur. Ulrich Baur überzeugt, lange Jahre für den Verband der Leitenden Krankenhausärzte Deutschlands tätig: „Auf Dauer wird ein Chefarzt versuchen, die Kritik aufzunehmen. Ich kenne zu viele Fälle, in denen ein Chefarzt Dinge tut, die er nicht für richtig hält.“
Wie schmal der Grat zwischen erwünschter Kooperation und unerlaubter Korruption ist, verdeutlichte Rechtsanwalt Dr. Christoph Jansen anhand des Themas Kooperationsverträge von Vertragsärzten mit Kliniken. Sie werden durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz forciert. Eindeutige Regeln, wo die legitime Vergütung aufhöre und die Vorteilsnahme anfange, gebe es bislang nicht, betonte Jansen. Dazu kommt, dass manches ältere Urteil durch die neuen gesetzlichen Möglichkeiten zur Kooperation in einem anderen Licht zu sehen ist.
Auf die Zweischneidigkeit von Selektivverträgen im Hinblick auf die ärztliche Entscheidungsfreiheit verwies Rechtsanwalt Dr. Martin H. Stellpflug. Der Gesetzgeber habe damit Effizienz und Qualität verbessern wollen. Aber nach Ansicht Stellpflugs gibt es eine kritikwürdige Seite: „Überall geht es darum, Vergütungsanreize zu implementieren, die auf das Entscheidungsverhalten des Arztes einwirken sollen.“ Dies gelte teilweise auch für Honorarreformen, Therapiehinweise oder Off-label-use-Handhabungen der Krankenkassen. Hinzu komme ein weiterer Aspekt: Wie kann ein Arzt frei entscheiden, wenn er immer mehr und immer umfangreichere Informationen zu beachten hat?
Mehrere Referenten ließen durchblicken, fast mehr Fragen als Antworten zu ihrem Thema zu kennen. Auch das kann hilfreich sein. Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, schlug vor, ärztlichem Fehlverhalten in den Geschäften mit der Pharmaindustrie mit einer Frage vorzubeugen: „Würde jemand akzeptieren, dass alles, was er macht, offengelegt wird?“
Sabine Rieser
Leiterin der Berliner Redaktion