THEMEN DER ZEIT
Aufklärungspflicht und Einwilligungsfähigkeit: Regeln für diffizile Konstellationen
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Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen muss der Arzt vor einer Behandlung darauf achten, inwieweit diese bereits einwilligungsfähig sind und in die Therapieentscheidung einbezogen werden müssen.
Das Risiko für Ärzte, juristisch belangt zu werden, ist beträchtlich gestiegen. Unterzieht man die Arzthaftungsverfahren einer genauen Analyse, gelangt man zu dem Ergebnis, dass in vielen Fällen nicht medizinische Komplikationen, sondern Schwierigkeiten im Arzt-Patienten-Verhältnis zu einer Klage oder einem Strafverfahren geführt haben. Einige „Problemkonstellationen“, die per se ein erhöhtes Haftungsrisiko für den Arzt mit sich bringen, sollen im Folgenden vorgestellt werden:
- die Behandlung minderjähriger Patienten
- eine Behandlungsablehnung durch den Patienten
- ein Verzicht des Patienten auf die Aufklärung.
Behandlung minderjähriger Patienten
Nach ständiger Rechtsprechung ist jeder ärztliche Heileingriff, selbst die Gabe eines Medikaments, ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Die rechtliche Befugnis des Arztes hierzu ergibt sich erst aus der wirksamen Einwilligung des informierten Patienten. Daher kann eine unzureichende Aufklärung oder fehlende Einwilligungsfähigkeit Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen den Arzt selbst dann begründen, wenn die Behandlung in jeder Hinsicht lege artis erfolgte.
Stellen sich Kinder und Jugendliche in der Sprechstunde vor, kann der Arzt vor der Frage stehen, wer über eine Behandlung aufzuklären ist und auf wessen Einwilligung es ankommt – auf die des Minderjährigen oder die der Eltern. Für die Wirksamkeit seiner Einwilligung kommt es nicht auf die Geschäftsfähigkeit an, also auf die Fähigkeit, Verträge selbstständig abschließen zu können, sondern – so der Bundesgerichtshof (BGH) – darauf, dass der Minderjährige „nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestattung zu ermessen vermag“. Der Minderjährige muss also eine eigenständige Nutzen-Risiko-Abwägung vornehmen können. Der Beginn der Einwilligungsfähigkeit ist an kein Mindestalter gebunden. Nach herrschender Meinung ist aber davon auszugehen, dass Minderjährige unter 14 Jahren nur in Ausnahmefällen bereits einwilligungsfähig sind.
Für die Praxis bedeutet dies, dass der Arzt vor der Behandlung oder Verordnung eines Medikaments im Rahmen des Aufklärungsgesprächs gehalten ist,
- abzuklären, ob der Minderjährige bereits selbst einwilligungsfähig ist oder nicht
- gegebenenfalls die Gesichtspunkte zu dokumentieren, die dafür sprechen, dass der Patient über die notwendige geistige Reife verfügt.
So kann ein erst 15-jähriger Patient für Routinemaßnahmen und geringfügige Eingriffe, wie zum Beispiel eine Blutabnahme, bereits über die nötige Urteilskraft verfügen. Deutlich höher liegt die Messlatte bei nicht ganz ungefährlichen Behandlungsmaßnahmen, selbst bei „alltäglichen“ Eingriffen, wie einer diagnostischen Laparoskopie. Ist der Arzt unsicher, ob der minderjährige Patient einwilligungsfähig ist oder nicht, muss er die Eltern in die therapeutische Entscheidung einbeziehen.
Nicht einwilligungsfähige Minderjährige
Für die Behandlung eines Kindes ist eine elterliche Einwilligung erforderlich, die nach den Grundsätzen des Sorgerechts eigentlich von beiden Elternteilen erteilt werden muss, sofern nicht ausnahmsweise ein Elternteil das alleinige Sorgerecht innehat. Zu beachten ist, dass heutzutage auch bei nicht verheirateten oder bei geschiedenen Eltern meist ein gemeinsames Sorgerecht besteht.
In der täglichen Praxis werden Kinder nun aber häufig nur von einem Elternteil zum Arzt begleitet, so dass sich die Frage stellt, ob dieser allein über die Durchführung der anstehenden Behandlung zu entscheiden berechtigt ist. Dabei gilt jedoch, dass der erschienene den nicht erschienenen Elternteil unter ganz bestimmten Voraussetzungen vertreten darf. Zur Frage, wann im Einzelfall von einer wirksamen „Vertretung“ eines Elternteils durch den anderen auszugehen ist, hat der BGH die sogenannte Dreistufentheorie entwickelt:
- Leichte Eingriffe: Bei Routinefällen des Alltags, zum Beispiel bei einem Blaseninfekt, unproblematischen Medikamentengaben oder Impfungen, darf der Arzt auch ohne Rückfrage darauf vertrauen, dass der mit dem Kind erschienene Elternteil bevollmächtigt ist, für den anderen Elternteil in die Behandlung einzuwilligen.
- Mittlere Eingriffe: Sobald ein Eingriff ein ausführlicheres Aufklärungsgespräch voraussetzt, zum Beispiel vor einer CO2-Laservaporisation von Kondylomen, muss sich der Arzt bei dem anwesenden Elternteil erkundigen, ob er berechtigt ist, auch für den abwesenden zu handeln. Der Arzt hat hier also eine Fragepflicht. Deshalb ist er aus haftungsrechtlichen Gründen gut beraten, die ihm erteilte Auskunft bezüglich des Einverständnisses des nicht erschienenen Elternteils zu dokumentieren.
- Schwere Eingriffe: Bei schweren und risikoreichen Eingriffen, zum Beispiel im Bereich der Wirbelsäule, muss sich der Arzt schließlich Gewissheit über die Zustimmung des nicht erschienenen Elternteils verschaffen, das heißt, er muss entweder darauf bestehen, dass sich beide Elternteile gemeinsam vorstellen oder sich von dem nicht anwesenden Elternteil (zumindest telefonisch) bestätigen lassen, dass er den anderen entsprechend ermächtigt hat. Auch das muss aus forensischen Gründen unbedingt dokumentiert werden.
Was gilt aber, wenn das Kind oder der Jugendliche mit dem – von den Eltern gewünschten und gestatteten – Eingriff nicht einverstanden ist? Fest steht, dass dem Willen des Kindes mit fortschreitendem Alter zunehmend Gewicht zukommt. Daher muss der einwilligungsunfähige Heranwachsende seinem Alter und Reifegrad entsprechend in die Entscheidungsfindung und somit natürlich auch in die Aufklärung einbezogen werden. Abhängig von Art und Schwere des Eingriffs gilt das für beinahe jede Altersgruppe, insbesondere aber für die Altersgruppe zwischen 14 und 16 Jahren. Gegebenenfalls ist dann ein aufschiebbarer Eingriff zurückzustellen, denn immerhin hätte der minderjährige Patient selbst die Folgen eines sich verwirklichenden Risikos allein zu tragen.
Es kommt immer wieder vor, dass Eltern die Einwilligung in eine Behandlung verweigern und dadurch das Wohl des Kindes gefährden, so etwa in dem sicher extremen Fall, dass Eltern, die der Glaubensrichtung der Zeugen Jehovas angehören, eine für ihr Kind dringend erforderliche Fremdblutspende ablehnen. Eine vergleichbare Sachlage ergibt sich, wenn Eltern eine notwendige Behandlung ablehnen, um eigenes Fehlverhalten – zum Beispiel mangelnde Aufsicht oder gar eine Kindesmisshandlung – zu vertuschen. Der Arzt muss zur Rettung oder zum Schutz des Kindes gegen den Willen der Eltern die erforderliche Behandlung durchführen, also etwa die Blutübertragung vornehmen. Wenn der Eingriff aufschiebbar ist, sollte der Arzt aber vorher die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung einholen.
Sobald ein Jugendlicher einwilligungsfähig ist, er also die Reife hat, die Tragweite eines Eingriffs zu erfassen, und hinsichtlich der ärztlichen Behandlung eine eigenständige Nutzen-Risiko-Abwägung vornehmen kann, kommt es allein (so jedenfalls herrschende Meinung) auf seine Einwilligung und nicht mehr auf Wunsch und Willen der Sorgeberechtigten an. Bei der Behandlung von Kindern und noch nicht einwilligungsfähigen Jugendlichen besteht keine Schweigepflicht gegenüber den Eltern. Hier nehmen die Eltern ihr Sorgerecht wahr und sind damit berechtigt, über alle Belange des Arzt-Patienten-Verhältnisses in Kenntnis gesetzt zu werden. Zu beachten ist aber, dass auch das Kind oder der Jugendliche umfassend zu informieren ist, wenn bereits das angesprochene Vetorecht gegeben ist. Denn wie sonst könnte dieses Vetorecht sinnvoll ausgeübt werden. Anders bei einwilligungsfähigen Jugendlichen: Gegen ihren Willen dürfen die Eltern nicht über eine Krankheit oder geplante ärztliche Maßnahmen unterrichtet werden.
Vor unvernünftigen Entscheidungen schützen
Etwas anderes muss aber wiederum bei einer konkreten Gesundheitsgefährdung gelten. Beispiel: Ein Jugendlicher verweigert die Einwilligung in einen dringend indizierten Eingriff (zum Beispiel bei einer akuten Blinddarmentzündung oder einer Eileiterschwangerschaft). Hier müssen die Eltern sogar informiert werden, um das Kind vor seiner unvernünftigen Entscheidung zu schützen. Die Unvernunft indiziert hier gewissermaßen die mangelnde Reife des Minderjährigen. Die Eltern sind dann rechtlich befugt, als Stellvertreter die Einwilligung zu erteilen.
Folgender Fall aus der anwaltlichen Praxis zeigt, dass diese rechtlichen Grundsätze nicht nur „graue Theorie“ sind und minderjährige Patienten wegen des hier bestehenden Dreiecksverhältnisses Arzt-Patient-gesetzlicher Vertreter in der Tat bisweilen „schwierige“ Patienten sind: Ein sechsjähriges Mädchen stellte sich in Begleitung ihrer Eltern mit schweren Hautverbrennungen am Oberkörper in der Praxis einer Kinderärztin vor. Die Mutter gab an, das Kind hätte sich selbst mit einem Feuerzeug sein T-Shirt angezündet. Die Eltern baten die Ärztin, die ambulante Behandlung des Kindes zu übernehmen.
Die Ärztin klärte die Eltern darüber auf, dass eine Verbrennungswunde dieses Ausmaßes grundsätzlich stationär erfolgen muss, was die Eltern jedoch ohne Begründung kategorisch ablehnten. Da die Ärztin keine vitale Gefährdung des Kindes sah und davon ausging, dass sie als betreuende Ärztin sich nicht über den Willen der Eltern hinwegsetzen dürfe, stimmte sie einer ambulanten Therapie letztlich unter der Bedingung zu, dass die Eltern das Kind täglich zum Verbandswechsel vorstellen, was zunächst auch befolgt wurde.
Arzt zwischen Heilauftrag und Selbstbestimmungsrecht
Bei einer Kontrolle eine Woche später hatte die Ärztin den Verdacht einer Superinfektion der Brandwunde, weshalb die Ärztin nochmals auf eine stationäre Einweisung drängte, was die Eltern jedoch weiterhin strikt ablehnten. Im Laufe der Behandlung wurden immer deutlicher Verbrennungen dritten Grades sichtbar, zudem erschienen die Eltern mit dem Kind jetzt nur noch unregelmäßig in der Praxis. Deshalb lehnte die Ärztin jetzt – seit Beginn der Behandlung waren etwa drei Wochen vergangen – die Weiterbehandlung ab und wies das Mädchen in das örtliche Krankenhaus ein. Von dort wurde das Kind sofort zur Weiterbehandlung in eine Spezialklinik für Verbrennungsschäden verlegt.
Die Eltern erstatteten gegen die Kinderärztin Strafanzeige wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung. Die Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlungen auf und holte ein rechtsmedizinisches Gutachten ein. Die Gerichtsmediziner gelangten zu dem Ergebnis, dass bei dem Ausmaß der Verbrennungen von einer vitalen Gefährdung des Kindes auszugehen und deshalb eine sofortige Verlegung in ein Verbrennungszentrum indiziert gewesen wäre und das Kind aufgrund der Therapieverzögerung zumindest vermeidbare Schmerzen erlitten hätte.
Die Staatsanwaltschaft erließ gegen die Ärztin einen Strafbefehl über eine Geldstrafe in Höhe von 2 000 Euro mit der Begründung, die Ärztin hätte nicht den Willen der Eltern respektieren dürfen, sondern das Familiengericht einschalten müssen. Um eine belastende öffentliche Hauptverhandlung zu vermeiden, akzeptierte die Ärztin den Strafbefehl.
Ein schwieriger Patient ist sicher auch der, der die vom Arzt vorgeschlagene und indizierte Behandlung ablehnt. Da es keine „Vernunfthoheit“ des Arztes gibt, anders ausgedrückt jeder Patient ein „Recht auf Unvernunft“ hat, gilt: Verweigert der Patient die Zustimmung, kann und darf der Arzt die Behandlung nicht durchführen. Dies führt nicht selten zu dramatischen Konfliktsituationen für den Arzt, der einerseits natürlich einen Heilauftrag hat, andererseits aber das Selbstbestimmungsrecht des Patienten unbedingt zu respektieren hat. Die haftungsrechtliche Situation ist hier – das zeigt die Praxis immer wieder – durchaus prekär: Lehnt nämlich ein Patient eine unbedingt angezeigte, vielleicht sogar lebensrettende Behandlung ab, so mag dies beim Arzt die – angesichts dieser Unvernunft ja durchaus nachvollziehbare – emotionale Reaktion auslösen, das Gespräch abzubrechen, den Patienten zur Tür zu begleiten und sich dem nächsten Patienten zu widmen.
Aus forensischen Gründen jedenfalls ist der Arzt aber gut beraten, sich gerade in diesem Fall beim Gespräch mit dem Patienten und bei der Dokumentation besonders viel Zeit zu nehmen. Insbesondere muss darin zum Ausdruck kommen, dass der Patient umfassend informiert eine selbstbestimmte Entscheidung getroffen hat. Zwar soll der Patient selbst entscheiden, ob, wann und in welcher Form eine Behandlung erfolgen soll, dies ist ihm aber nur möglich, wenn er alle Informationen erhält, die überhaupt erst eine fundierte Entscheidungsgrundlage schaffen.
Verzicht auf Aufklärung ist rechtlich unwirksam
Die Behandlungsablehnung sollte in den Krankenunterlagen aus beweisrechtlichen Gründen am besten mit Gegenzeichnung des Patienten festgehalten werden. Ebenso wichtig ist es jedoch, die wesentlichen Inhalte der Aufklärung zu Alternativen und Risiken zu notieren. Denn in einem Haftungsprozess kann oder will sich der Patient häufig nicht mehr daran erinnern, die Behandlung verweigert zu haben, oder er beruft sich darauf, er habe die Konsequenzen mangels Aufklärung nicht absehen können.
Wie stellt sich aber die Rechtslage dar, wenn der Patient sogar die Aufklärung, also die Mitteilung eines Befunds (Diagnoseaufklärung), Informationen über den voraussichtlichen Krankheitsverlauf (Verlaufsaufklärung) oder Informationen über die Bedeutung, Tragweite und Risiken des Eingriffs (Eingriffsaufklärung) ablehnt? Ein solcher „Blankoverzicht“ ist rechtlich unwirksam. Jedenfalls muss der Patient die Art und Erforderlichkeit des Eingriffs kennen und wissen, dass dieser nicht ohne jedes Risiko ist. Praktisch setzt der Aufklärungsverzicht also doch eine „Grundaufklärung“ über das größte in Betracht kommende Risiko voraus. Der Patient kann also durchaus auf die Information über Einzelheiten des Verlaufs und der Gefahren verzichten. Insoweit hat er ein Recht auf Nichtwissen. Lehnt der Patient aber jegliche Information, also auch die Grundaufklärung ab, muss der Arzt die (elektive) Behandlung verweigern. Auch hier empfiehlt es sich dringend, den Aufklärungsverzicht vom Patienten unterschreiben oder von einem Zeugen bestätigen zu lassen. Außerdem sollte der Hinweis auf die erfolgte „Grundaufklärung“ dokumentiert sein.
Dr. iur. Philip Schelling, Dr. iur. Tonja Gaibler
Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwältin für Medizinrecht, München
schelling@uls-frie.de
Jentsch, Eckhard
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