ArchivDeutsches Ärzteblatt PP3/2012Intersexualität: Geschlecht: „anderes“

POLITIK

Intersexualität: Geschlecht: „anderes“

Bühring, Petra

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Der Deutsche Ethikrat hat eine Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen vorgelegt. Sie sollen unter anderem künftig die Entscheidung für irreversible operative Eingriffe an den Geschlechtsorganen selbst treffen.

Die persönlichen Schicksale haben uns sehr berührt – wir sind überzeugt, dass intersexuelle Menschen besser vor medizinischen Fehlentwicklungen und gesellschaftlicher Diskriminierung geschützt werden müssen“, sagte Dr. phil. Michael Wunder, Sprecher der Arbeitsgruppe Intersexualität des Deutschen Ethikrats. Nach eineinhalb Jahren Beratung hat der Ethikrat jetzt seine im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen vorgelegt. „Als Teil gesellschaftlicher Vielfalt müssen die Betroffenen Respekt und Unterstützung erfahren“, betonte Wunder.

Weitreichender Eingriff in die Persönlichkeit

Im Mittelpunkt der Diskussionen stand für den Deutschen Ethikrat immer wieder die Frage, ob chirurgische Eingriffe an den Geschlechtsorganen bei Menschen mit DSD (differences of sex development) (Kasten) insbesondere bei betroffenen Kleinkindern zulässig sein sollten. Die Position des Ethikrats ist eindeutig:

Irreversible medizinische Interventionen sind ein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Wahrung der sexuellen Identität und in das Recht auf eine offene Zukunft. Vor allem die geschlechtszuordnenden Interventionen stellen einen weitreichenden Eingriff in die Persönlichkeit des Kindes dar. „Falsche Entscheidungen haben für die Betroffenen ein permanentes traumatisches Erleben zur Folge“, sagte Psychotherapeut Wunder. Die Entscheidung dazu sollten die Betroffenen selbst treffen. Sind sie noch nicht entscheidungsfähig, empfiehlt der Ethikrat solche Eingriffe nur, wenn sie eine schwerwiegende Gefahr für die physische Gesundheit abwenden, zum Beispiel bei erhöhtem Tumorrisiko. Andernfalls soll bis zum Jugendalter gewartet werden.

Wenn, wie im Fall des adrenogenitalen Syndroms, das Geschlecht festgestellt werden kann, sollte eine frühe operative Angleichung der Genitalien an das Geschlecht nur nach umfassender Abwägung der medizinischen, psychologischen und psychosozialen Vor- und Nachteile erfolgen. Maßgeblich ist auch hier das Kindeswohl. Im Zweifel sollte auch bei solchen geschlechtsvereindeutigenden Eingriffen die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen abgewartet werden.

Der Ethikrat empfiehlt weiter, die medizinische Diagnostik und Behandlung nur in einem speziell dafür qualifizierten interdisziplinären Kompetenzzentrum von Ärzten und Experten aus allen beteiligten Disziplinen vorzunehmen. Betreut werden sollten Eltern und Betroffene in unabhängigen qualifizierten Beratungsstellen, und dort auch durch andere Betroffene.

Kein Zwang zur Zuordnung im Personenstandsregister

Intersexuelle Menschen sollten nach Auffassung des Ethikrates nicht gezwungen werden können, sich im Personenstandsregister der Kategorie „weiblich“ oder „männlich“ zuzuordnen. Es sollte daher geregelt werden, dass als weitere Kategorie auch „anderes“ gewählt werden kann. Um Personen, die als „anderes“ eingetragen sind, Beziehungen zu ermöglichen, die staatlich anerkannt und rechtlich geregelt sind, schlägt der Ethikrat mehrheitlich eingetragene Lebenspartnerschaften vor. Ein Teil des Ethikrats plädiert darüber hinaus dafür, Eheschließungen zu ermöglichen.

Die Vorsitzende der Intersexuellen Menschen, Lucie Veith, dankte dem Ethikrat für den ausführlichen Dialog mit den Betroffenen und begrüßte, „dass das Tabu endlich gelüftet ist“. Sie machte noch einmal deutlich: „Wir sind nicht krank – wir sind eine menschliche Varianz.“

„Diese Stellungnahme setzt ein Zeichen“, sagte Julia Marie Kriegler, Vorsitzende der XY-Frauen-Elterngruppe, und könne Eltern eines betroffenen Neugeborenen „eine Richtung weisen“. Der Staat habe bisher keine Würdigung intersexueller Menschen gezeigt, kritisierte Kriegler.

Das kann die Politik bei der Umsetzung der Empfehlungen des Deutschen Ethikrats jetzt nachholen.

Petra Bühring

@Die Stellungnahme im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp12108

Intersexualität

Nach Schätzungen leben 8 000 bis 10 000 intersexuelle Menschen in Deutschland. Betroffenenverbände gehen von 120 000 Personen aus. Unter 5 000 Neugeborenen ist eines, das sich aufgrund körperlicher Besonderheiten nicht eindeutig als „männlich“ oder „weiblich“ einordnen lässt. Der Deutsche Ethikrat verwendet als medizinischen Oberbegriff für die unterschiedlichen Besonderheiten DSD (differences of sex development), der Einfachheit halber jedoch weiter den Begriff Intersexualität. Dieser löst ältere Bezeichnungen wie „Zwitter“ oder „Hermaphrodit“ ab, die als diskriminierend empfunden werden können. Zum Teil wird auch von Intergeschlechtlichkeit oder Zwischengeschlechtlichkeit gesprochen.

Im Gegensatz dazu sind Transsexuelle mit einem eindeutigen biologischen Geschlecht versehen, fühlen sich jedoch psychisch dem anderen Geschlecht zugehörig.

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