

Wir alle sind bedroht. Im Großen durch Verletzungen und Knochenbrüche, im Kleinen durch DNA-Schäden mit maligner Transformation und freien Radikalen. Letztere stellen für mich eine ganz besondere Bedrohung dar, suchen sie mich doch in unregelmäßigen Abständen immer wieder heim: die frechen Neffen.
„Das glaubst du nicht, Onkel Thomas, stell dir vor, ich habe im dritten Anlauf meinen Führerschein gemacht!“ Nein, das will ich nicht glauben. Vielmehr möchte ich meine Augen verschließen vor unzähligen verbeulten Fahrzeugen und ausblutenden Verkehrsteilnehmern, die genauso wie ich nicht glauben können, dass irrlichternde Neffen radikales Rasen realisieren. Und doch muss ich meine Augen vor besagter Realität öffnen, in der diese zweifelhafte Verwandtschaft mit dem Newton’schen Kraftgesetz eine zerstörerische Allianz eingeht. Ich muss prophylaktisch eingreifen.
Wisst ihr überhaupt, was ihr machen müsst, wenn ihr in einen Unfall geratet? „Aber klar, Onkel Thomas, ich habe immer mein Handy dabei!“ Gut so. Ich hoffe, ihr habt alle erforderlichen Notrufe gespeichert. „Klar hab’ ich alle wichtigen Apps drin, das ist doch selbstverständlich!“ Und was macht ihr an der Unfallstelle? „Wir gucken erst mal!“ Genau, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen und die Unfallstelle abzusichern. Sehr schön! Und was macht ihr, wenn sich eine Traube von diesen ekelhaften Gaffern gebildet hat und die Rettungswege blockiert? „Wir drängeln uns durch!“ Hervorragend! Ach, ihr seid einfach wunderbar, förmlich gereift in Anbetracht der Erkenntnis der Verantwortung, die nun zu tragen ist. Zutiefst dankbar werden euch alle diejenigen sein, die von eurer selbstlosen Hilfe profitieren, sie werden euch immer verbunden bleiben, wie würdet ihr das sagen? Fans fürs Leben? Nun gut, was macht ihr dann? „Dann benachrichtigen wir alle!“ Na, na, ich will euren Übereifer nicht bremsen, aber es reicht, wenn ihr die Rettungsleitstelle informiert. „Doch, doch, Onkel Thomas, wir benachrichtigen alle!“ Bis grade eben hatte ich noch das Gefühl, als hätte ich meinen lieben Neffen in zäher jahrelanger Arbeit die Pforten zu Humanismus und Altruismus öffnen können, doch nun schleicht sich Misstrauen ein wie ein Rezidivgeschwür nach Protonenpumpenhemmung. Was meint ihr denn genau? „Wir schauen nach, ob wir Empfang haben, dann drängeln wir uns durch die Gaffer und versuchen, ein richtig krasses Video draufzukriegen, das wir sofort ins Netz stellen! Dann kriegen wir jede Menge Fans! Genauso, wie du das gesagt hast!“
Raus mich euch!
Dr. med. Thomas Böhmeke
ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.