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Beratung für Sehbehinderte: Augenarztpraxen als Lotsenstellen


Zur Bewältigung ihres Alltags benötigen Blinde und Sehbehinderte mehr Rat und Unterstützung, als eine Praxis normalerweise aufbringen kann. Ein Praxisteam, das weiß, wo es was vor Ort gibt, kann Brücken bauen – und sein Image verbessern.
Sehbehinderte und blinde Patienten erwarten von ihrer Augenarztpraxis mehr als medizinische Versorgung. Sie wünschen sich vom Augenarzt und seinem Team, auf ergänzende Angebote wie optische und elektronische Hilfsmittel zur besseren Nutzung des Sehrests oder auch auf Trainingsmaßnahmen, um im Alltag selbstständig zu bleiben, hingewiesen zu werden. Und sie hoffen auf Tipps, wo sie finanzielle und sozialrechtliche Unterstützung erhalten oder Beratungsstellen finden. Das ist zumindest das Ergebnis einer Untersuchung der Universität Münster. Gute Versorgung umfasst damit aus Sicht der Patienten mehr als die Kernkompetenzen einer augenärztlichen Praxis.
Beratungen zu nichtmedizinischen Angeboten für sehbehinderte und blinde Menschen sind allerdings ein ganz eigener Kompetenzbereich, der nicht „mal so nebenbei“ von der Augenarztpraxis mit abgedeckt werden kann. Die Angebote sind regional sehr unterschiedlich, häufig extrem unübersichtlich, und es gibt weder bundesweite Register noch eine unabhängige Qualitätsbewertung. Sozialrechtliche Regelungen und finanzielle Förderungen weichen von Bundesland zu Bundesland ab, ebenso die Kostenübernahmepraxis von Krankenkasse zu Krankenkasse. Zudem sind oft verschiedene Kostenträger zuständig. Auch hängt manches Angebot an einer einzelnen engagierten Person oder einer Beratungsstelle, die jedoch außerhalb eines kleinen Kreises nicht bekannt ist.
Was Praxen allerdings leisten können: Lotse zu fachkompetenten Personen oder Organisationen zu sein. Das dafür notwendige Wissen haben sich Mitarbeiter von augenärztlichen Praxen in einer Schulung erarbeitet. Sie wurde von der „OcuNet-Gruppe“ konzipiert, einem freiwilligen Zusammenschluss von ambulanten augenchirurgischen Zentren und konservativen Praxen mit der Philosophie „Qualität im Auge“, und zwar zusammen mit dem Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund, dem bayerischen Landesverband des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands und dem AMD-Netz NRW e.V. Das AMD-Netz ist ein medizinisch-soziales Netzwerk, das verschiedene Anbieter von medizinischen und nicht-medizinischen Leistungen an einen Tisch bringt.
Die im Frühjahr 2011 gestartete Fortbildungsserie trifft bundesweit auf gute Resonanz. Bisher waren alle neun Veranstaltungen für das Assistenzpersonal ausgebucht. Mehr als 250 Teilnehmer haben sich schulen lassen. Das Erfolgsrezept: Konzeption und Umsetzung erfolgen quasi „interdisziplinär“. Die Belange der Patienten und die Sachfragen werden in einem der Zielgruppe angepassten Format präsentiert. Die Schulung umfasst im ersten Teil eine Selbsterfahrung mit Simulationsbrillen für verschiedene Augenerkrankungen. Die Teilnehmer bewältigen damit alltägliche Aufgaben, müssen also zum Beispiel einen Busfahrplan lesen, und lernen, „mit den Augen“ der Sehbehinderten zu sehen. Anschließend werden die vielfältigen nichtmedizinischen Angebote mit vielen Praxisbeispielen vorgestellt.
Einer der Referenten ist immer selbst sehbehindert oder blind. So gewinnt der Seminarstoff unmittelbar an Lebensrelevanz. Verteilt wird in jedem Seminar ein Handbuch mit Kurzerläuterungen der Angebote und mit Querverweisen, damit Patienten passend zum Grad ihrer Behinderung auf die jeweils hilfreichen Angebote angesprochen werden können. Als Maß für den Grad der Behinderung wird der Visus herangezogen, also ein Wert, der in der augenärztlichen Praxis allen Teammitgliedern vertraut ist.
Der zweite Teil des Seminars kreist um die Frage, wie die Lotsenfunktion für augenärztliche Patienten praktisch umzusetzen ist. Wie können Aufgaben zwischen Arzt und Praxisteam verteilt werden? Wie lässt sich die Lotsenfunktion organisatorisch und nachhaltig in den Praxisbetrieb integrieren? Während der Schulung werden mögliche praxisindividuelle Lösungen zusammengetragen, so dass jeder mit einem Strauß von Ideen in seinen Arbeitsalltag zurückkehrt.
Besprochen werden auch Sorgen: Besteht nicht Gefahr, dass unterstützende Lotsengespräche ausufern und den Rahmen des oft hektischen Praxisbetriebs sprengen? Wie berät man einen Menschen, der vielleicht gerade eine schlimme und sein Leben verändernde Diagnose erhalten hat? In Rollenspielen wird erprobt, welche Lösungen möglich sind. Häufig genügt ein kurzes, prägnantes Gespräch mit Verweis auf fachkundige Berater vor Ort. Die Teilnehmer lernen, dass sie nicht „die“ versierten Berater zu sein brauchen. Ihr für das Wohl der Patienten wichtiger Beitrag ist, gezielt auf ein Angebot hinzuweisen und einen hilfreichen Berater benennen zu können.
Zurück in der Praxis, ist es die erste und wichtigste Aufgabe der Teilnehmer nach der Fortbildung, vor Ort qualifizierte Ansprechpartner zu finden, an die sie künftig verweisen können. In einigen Regionen gibt es bereits qualifizierte Beratungsstellen und Selbsthilfeorganisationen, die zu allen Angeboten informieren können. In anderen Regionen kann die Praxis zum Zentrum einer kleinen „Minivernetzung“ werden. Ein schöner Begleiteffekt des Engagements ist, dass dann die Praxen mit ihren Teams gestaltend im Mittelpunkt eines kleinen regionalen und informellen Netzwerks zum Wohle des Patienten stehen. Teilnehmer früherer Veranstaltungen berichten, dass viel von dem Gelernten in der Praxis umgesetzt wird. Die sehbehinderten und blinden Patienten profitieren, lange Suchprozesse werden abgekürzt, der Zugang zu nicht-medizinischen Angeboten ist erleichtert. Für das Praxisteam ist die positive Resonanz eine Bestätigung, von der es und die Praxis als Ganzes profitieren.
Dr. rer. medic. Ursula Hahn
Paulukat, Dirk