POLITIK
Transplantationsskandal an der Universität Göttingen: Erschütterndes Maß an Manipulation


Am Universitätsklinikum Göttingen wurden offenbar systematisch Akten gefälscht, um eigene Patienten bei der Vergabe von Lebern auf der Warteliste zu bevorzugen. Nun wird diskutiert, ob die vorhandenen Strukturen zur Kontrolle ausreichen.
Es war das erste Wochenende im Juli 2011. Auf den Anrufbeantworter der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) spricht eine Frau, anonym: An der Universitätsklinik Göttingen gebe es kriminelle Machenschaften, ob man sich dort Organe kaufen könne?
Am darauffolgenden Montag gibt der Medizinische Vorstand der DSO, Prof. Dr. med. Günter Kirste, die Nachricht an die Ständige Kommission (StäKo) Organtransplantation bei der Bundesärztekammer (BÄK) weiter. Die dort angesiedelten Prüfungs- und Überwachungskommissionen kontrollieren, ob Allokationsrichtlinien eingehalten werden und DSO und Eurotransplantat (ET) ihre Aufgaben dem Recht, den Richtlinien und ihren Verträgen entsprechend erfüllen. Auch Auffälligkeiten in Transplantationszentren wird nachgegangen.
Offenbar wurden Laborwerte gefälscht, Dialysen erfunden
Bei der Durchsicht der Unterlagen von Patienten, die im Jahr 2011 am Universitätsklinikum Göttingen lebertransplantiert worden sind, tauchen Ungereimtheiten auf: Nach bisherigem Erkenntnisstand sind Laborwerte manipuliert worden, um Patienten einen höheren MELD-Score zuordnen zu können. Der MELD-Score (Model for end-stage liver disease), errechnet aus Kreatinin, Serumbilirubin und Prothrombinzeit, ist ein Parameter für die Dringlichkeit und wichtiges Allokationskriterium für Lebern. Durch die Manipulation rückten Patienten auf der Warteliste vor.
Und bei zwei Patienten mit Wohnsitz außerhalb des Einzugsbereiches von Eurotransplant gibt es Hinweise darauf, dass illegal Geld geflossen sein könnte. Der leitende Oberarzt der Abteilung Transplantationschirurgie wird mit den Erkenntnissen der Kommission konfrontiert. „Er hat gemauert“, erinnert sich Hans Lilie, Professor für Straf-, Strafprozess- und Medizinrecht an der Universität Halle und Vorsitzender der StäKo. Die Klinik beurlaubt den Arzt im November 2011, man schließt einen Auflösungsvertrag. Erst im Oktober 2008 war der Chirurg von der Universitätsklinik Regensburg nach Göttingen gekommen, um ein Lebertransplantationsprogramm aufzubauen.
„Der Göttinger Komplex könnte das schwerwiegendste Fehlverhalten im Bereich der Organtransplantation sein, das mir bekannt ist“, sagte Lilie zum Deutschen Ärzteblatt. Zwar gebe es jährlich vereinzelt kleinere Verstöße gegen Richtlinien der BÄK, oft mangels Information. Das Geschehen in Göttingen aber habe ein „erschütterndes Ausmaß“. So gab es nach Angaben der Uniklinik Göttingen bei 26 von 91 Patienten, die unter Federführung des Chirurgen zwischen 2010 und 2011 eine neue Leber erhalten hatten, Auffälligkeiten. „Meist geht es um falsche Angaben zu Krankheitszustand und Laborwerten, um den MELD-Score zu erhöhen und damit die Chance, rasch ein postmortales Organ zu erhalten“, sagt Lilie. Teilweise seien Dialysetherapien erfunden worden. Seit Ende 2011 ermittelt die Staatsanwaltschaft Braunschweig, eine Zentralstelle für Korruptionsstrafsachen. Inzwischen hat sie ihre Ermittlungen auch auf den Leiter der Abteilung Gastroenterologie der Uniklinik Göttingen ausgedehnt (Stand: 30. Juli). Der Professor für Gastroenterologie war mit Voruntersuchungen von möglichen Kandidaten für Lebertransplantationen befasst. Er ist nun freigestellt.
Als möglicher Straftatbestand kommt nach Angaben der Staatsanwaltschaft bei dem Chirurgen Bestechlichkeit infrage und bei beiden Ärzten Körperverletzung mit und ohne Todesfolge, sofern sich ein gesundheitlicher Schaden festmachen lasse bei Kranken, die durch falsche Angaben zum MELD-Score bei Göttinger Patienten auf der Warteliste nach hinten rückten. Man prüfe Akten von 23 Patienten.
Wie fühlt sich ein Patient, bei dem Daten gefälscht wurden?
Es gab Hausdurchsuchungen bei dem Lebertransplantationschirurgen, aber auch bei einer Vermittlungsfirma für medizinische Dienste, so die Staatsanwaltschaft. Und es werde untersucht, ob sich beide ausländischen Patienten der Bestechung schuldig gemacht hätten. In einem Fall wurde Anzeige wegen Organhandels gestellt.
„Das ist ein eklatanter Einzelfall, der aber fatale Folgen für die Glaubwürdigkeit der Transplantationsmedizin in Deutschland haben und die Organspendebereitschaft weiter verringern kann“, fürchtet Prof. Dr. med. Richard Viebahn, Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum, Vorsitzender der Ethikkommission der Deutschen Transplantationsgesellschaft und Mitglied der Überwachungs- und der Prüfungskommission bei der BÄK. Viebahn denkt auch daran, wie sich Patienten aus Göttingen fühlen, die fürchten müssen, an anderen Kranken auf der Warteliste vorbei eine Leber erhalten zu haben. „So etwas darf nie wieder vorkommen“, sagt Viebahn.
Und so steht derzeit die Frage im Raum, ob die gegenwärtigen Instrumente ausreichen, um Regelverstöße aufzudecken, zu sanktionieren und ihnen vorzubeugen. Im konkreten Fall, räumt ein Sprecher des Universitätsklinikums Göttingen ein, habe eine „Erfolgsbeteiligung des Arztes an den über eine bestimmte Anzahl hinausgehenden Lebertransplantationen möglicherweise Fehlverhalten begünstigt“. Solch einen Vertrag werde man künftig nicht mehr abschließen. Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Lauterbach, plädierte in der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (29. Juli) für eine umsatzunabhängige Vergütung leitender Ärzte.
Transplantationsmediziner sehen sich, auch angesichts des großen Mangels an Organen, zunehmend unter Druck. Sie müssen sich Patienten erklären, die fürchten, auf der Warteliste zu sterben. Normverstöße, so ein Insider, hätten da in der Vergangenheit möglicherweise nicht immer die für eine effektive Prävention nötigen Folgen gehabt. Bei dem jetzt verdächtigten Leberchirurgen hatte die zuständige Kommission bei der BÄK schon 2005 einen gravierenden Regelverstoß festgestellt. Eine im ET-Bereich entnommene Leber war für eine Retransplantation nach Jordanien geflogen worden für eine Patientin, die in Regensburg stationär gemeldet war. „Die Kommission hat damals allen zuständigen Institutionen ihren Bericht zugesandt: Uniklinikum, dem bayerischen Sozial- und dem Wissenschaftsministerium, Landesärztekammer, Staatsanwaltschaft“, zählt Kommissionsmitglied Viebahn auf. „Mit Ausnahme der Universität gab es keine erkennbare Aktivität.“
Die Kommissionen bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen vertrauensfördernden Effekten, die eine Offenlegung der Kontrollarbeit haben können, und dem Risiko einer rufschädigenden Wirkung für Ärzte*. Immerhin: Die „Suchscheinwerfer“ der Kommission wurden mit der Novellierung des Transplantationsgesetzes verstärkt. Hieß es im früheren § 12 nur, dass Vermittlungsentscheidungen in regelmäßigen Abständen durch eine Prüfungskommission geprüft werden müssten, so werden im neuen § 12 „Vermittlungsstelle und Transplantationszentren verpflichtet, der Kommission die erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen und die erforderlichen Auskünfte zu erteilen“. Regelverstöße sind den Behörden zu melden. „Wir müssen nicht mehr in jedem Einzelfall für Gespräche und Akteneinsicht das Einverständnis der Kliniken einholen“, sagt Lilie.
Positiver Effekt von mehr Transparenz erhofft
Während der Handel mit Organen schon früher unter Strafe verboten war, gibt es auch im novellierten Gesetz keinen Straftatbestand, der Verstöße gegen Allokationsregeln umfasst. Sie können unter Umständen als Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld bewehrt sein oder berufsoder dienstrechtliche Konsequenzen haben. Mit Bußgeldstellen, Landesärztekammern und Krankenhausaufsicht stünden eigentlich „potente Ahndungsinstanzen zur Verfügung, die freilich auch den Willen haben müssen, an einer effizienten Überwachung mitzuwirken“, meint der Bonner Jurist Prof. Dr. Torsten Verrel*. Die BÄK schlägt nun ein „Vier-Augen-Prinzip“ vor: Ein in die Behandlung des Patienten nicht involvierter Labormediziner sollte Laborwerte von Patienten noch einmal prüfen. Außerdem sollten verdachtsunabhängige Visitationen an Transplantationszentren möglich sein. Schließlich werde erwogen, die Arbeit der Prüfungs- und Überwachungskommission ausführlicher darzustellen als in der bisher knappen Form im jährlichen Tätigkeitsbericht der BÄK, ohne Vorgänge einer konkreten Person oder einem bestimmten Zentrum zuzuordnen. Mehr Transparenz könne einen präventiven Effekt haben, meint Lilie. Die Forderung des Gesundheitsministers, die Vorgänge in Göttingen aufzuklären, werde die Kommission den rechtlichen Kompetenzen entsprechend in vollem Umfang erfüllen. „Wir möchten einen Abschlussbericht vorlegen“, sagt Lilie, „wenn möglich, auch der Öffentlichkeit.“
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
*in: Middel, C-D, Pühler, W, Lilie, H, Vilmar, K (Hrsg.): Novellierungsbedarf des Transplantationsrechts. Deutscher Ärzte-Verlag; Köln 2010: 205.
3 Fragen an . . .
Daniel Bahr (FDP), Bundesgesundheitsminister
Wie war Ihre Reaktion, als Sie von den Vorwürfen des Fehlverhaltens an der Uniklinik Göttingen hörten?
Bahr: Der Vorwurf, dass in Deutschland die hohen ethischen Regeln der Transplantationsmedizin missachtet worden sein sollen, wiegt schwer. Gerade angesichts des Organmangels lebt die Transplantationsmedizin davon, dass Ärzte die strengen Regeln akzeptieren und das Vertrauen der Bevölkerung nicht missbraucht wird.
Die Vorwürfe müssen daher so schnell wie möglich aufgeklärt werden. Wenn sie sich bestätigen, müssen harte Konsequenzen gezogen werden – nicht nur für die verantwortlichen Mediziner, sondern auch in Bezug auf die Verfahrensregeln.
Die Vorwürfe kommen zu einer Zeit, in der sich die Politik massiv um eine Erhöhung der Organspendebereitschaft in der Bevölkerung bemüht.
Bahr: Das ist mir eine Herzensangelegenheit, ich bin schon lange in einer Organisation aktiv, in der sich auch viele transplantierte Menschen engagieren. . . . Die Warteliste ist lang, und auf der anderen Seite gibt es nur geringe Spenderzahlen. Der mögliche Vertrauensverlust könnte die Mangelsituation verschärfen. Deswegen dürfen wir gerade jetzt nicht nachlassen, für Organspende zu werben.
Wie sehen Sie die Rolle der Bundesärztekammer?
Bahr: Ich begrüße ausdrücklich, dass eine Diskussion in der Ärzteschaft über bessere Verfahrensregeln geführt wird. Ich wünsche mir, dass die ärztliche Selbstverwaltung Konsequenzen aus den Vorwürfen zieht und entsprechende Veränderungen in ihren Richtlinien vornimmt. Daher erwarte ich entsprechende Verbesserungsvorschläge von der Bundesärztekammer. Andernfalls wäre die Politik gefordert. Aber ich bin zuversichtlich, dass die Bundesärztekammer sinnvolle Maßnahmen ergreifen wird.
Fragen: Dr. med. Vera Zylka-Menhorn
Richter, Klaus
Grüner, Steffen
Bielack, Stefan; Müller, Michael; Andus, Tilo