ArchivDeutsches Ärzteblatt39/2012„Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: Invasion der Informationen

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„Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: Invasion der Informationen

Osterloh, Falk

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Haltet die Welt an, ich will aussteigen: Florian Opitz mit Smartphone. Foto: Dreamer Joint Venture
Haltet die Welt an, ich will aussteigen: Florian Opitz mit Smartphone. Foto: Dreamer Joint Venture

Nachrichtenschwemme, Globalisierung, Burn-out. Unsere Gesellschaft rast mit Höchstgeschwindigkeit in die Zukunft. Ein junger Dokumentarfilmer macht sich auf die Suche nach der Notbremse.

Die Zukunft hat begonnen. Und sie sieht nicht gut aus. Zwar dringen keine Außerirdischen in unsere Heime, wie noch in den 1950er Jahren befürchtet wurde. Dafür kommen die Informationen über uns. In Smartphones, Blackberrys und Laptops. Sie kommen, wenn man nicht aufpasst, Tag und Nacht. Und es ist nicht leicht, sich ihnen zu entziehen.

Die Folge ist eine Beschleunigung des Lebens, wie wir sie uns vor 50 Jahren – ja noch nicht einmal vor zehn Jahren – nicht hätten vorstellen können. Und die Folge ist auch: Die Zahl der betrieblichen Fehltage aufgrund eines Burn-out ist seit 2004 um circa 1 400 Prozent gestiegen. Stress und Erschöpfung sind für viele Menschen zu täglichen Begleitern geworden.

Einer dieser Menschen ist Florian Opitz. „Ich habe keine Zeit“, sagt er in seinem Dokumentarfilm „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (Kinostart: 27. September). „So sehr ich mich auch bemühe, ich habe immer viel zu wenig Zeit für das, was ich mir vornehme.“ Er weiß, dass er damit nicht alleine dasteht. Und so macht er sich auf die Suche, um zu verstehen, wohin die Zeit verschwunden ist.

Auf seiner Reise spricht er mit Zeitforschern, mit Soziologen und mit Ärzten. Mit Smartphone-Junkies, Agenturjournalisten und Unternehmensberatern. Was er findet, steht dem Schreckensszenario einer Invasion feindlicher Außerirdischer kaum nach. Die Nachrichtenagentur Reuters liefert ihren Kunden aus der Finanzindustrie Nachrichten in Bruchteilen von Sekunden. Der Mensch kann diese Informationsfülle schon lange nicht mehr verarbeiten. So entscheiden bei 90 Prozent aller Finanztransaktionen heute Computer über Käufe und Verkäufe.

Alex Rühle, Redakteur bei der „Süddeutschen Zeitung“, hat sich selbst eine Radikalkur verpasst, nachdem er Gespräche mit Kollegen verlassen hat, um auf der Toilette heimlich nach neuen Meldungen auf seinem Blackberry zu schauen. Ein halbes Jahr hat er sich zurück in die analoge Welt geflüchtet. Opitz traf ihn am letzten Tag seiner Kur. Rühles Fazit: „Ich habe Angst davor, wieder ins Internet zu gehen.“

Opitz legt mit seinem großartigen Dokumentarfilm den Finger in eine offene Wunde unserer Gesellschaft. Er stellt die richtigen Fragen und bemüht sich, Antworten zu finden, die nicht nur ihm, sondern uns allen aus unserer Zeitnot helfen. Sein Trip ins Herz der Beschleunigung ist dabei ebenso relevant wie unterhaltsam.

Die Antworten, die er findet, heißen Berghütte in der Schweiz und Patagonien. Rückzug von der lauten Welt. Drei Generationen einer Schweizer Familie heuen und machen Käse. Ein Millionär versucht, die Welt zu retten, indem er Bäume nahe des Südpols pflanzt.

„Das Ganze funktioniert nur, weil wir alle mitmachen“

Opitz stellt in seinem Film zwar grundsätzliche Fragen, doch grundsätzliche Antworten liefert er nicht. Weil es sie nicht gibt. „Wir können nicht alle Käse machen“, sagt er selbst. Und wir können auch nicht alle nach Patagonien ziehen.

Aber wo liegt dann die Lösung? Wie können wir uns unsere Zeit zurückholen? Eine Antwort gibt der Soziologe Prof. Dr. Hartmut Rosa: „Alle tun so, als sei die ständige Beschleunigung ein Naturgesetz. Aber das stimmt nicht. Das Ganze funktioniert nur, weil wir alle mitmachen.“ Den Fortschritt verweigern? Dazu passt ein anderes Zitat, leicht abgewandelt: Stell dir vor, es ist Zukunft, und keiner macht mit.

Falk Osterloh

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