ArchivDeutsches Ärzteblatt38/1998Deutschland vor der Wahl: Politikverdrossenheit

POLITIK: Leitartikel

Deutschland vor der Wahl: Politikverdrossenheit

Zylka-Menhorn, Vera

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LNSLNS Die Lösung gesundheits- und sozialpolitischer
Probleme steht beim Bürger obenan. ährend die Parteien und ihre Spitzenpolitiker in den letzten Tagen vor der Bundestagswahl um jede Stimme buhlen, verkennen die Wahlkämpfer die eigentliche Stimmung im Lande. Nach jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes Emnid aus Bielefeld befinden sich die Parteien in der größten Legitimationskrise der Nachkriegszeit. Danach haben die Wähler weitgehend das Vertrauen verloren, daß die Politiker - unabhängig von ihrer parteilichen Couleur - grundlegende Lösungen für die in der Bundesrepublik vorherrschenden Probleme durchsetzen können.
Als wichtigste Probleme werden vom Wähler die Themen Arbeit (89 Prozent), Steuern (78 Prozent), Renten (77 Prozent), Soziales (65 Prozent) und Gesundheit (63 Prozent) bewertet (siehe Grafik). Themen ohne Bezug zu Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitsfragen sind demgegenüber deutlich verblaßt. So ist beispielsweise die Bedeutung der Außenpolitik in der Einschätzung der Bürger innerhalb der letzten Jahre von Rang zwei auf Rang 18 abgerutscht.
Wie groß der Vertrauensverlust der Bürger in die Parteien ist, wenn es darum geht, die brennenden Probleme anzupacken, zeigt der Vergleich von Umfragen aus dem Jahr 1994 und heute. Waren damals 39 Prozent der Befragten der Ansicht, daß die Parteien "inkompetent" sind, den Schuldenberg abzubauen, so sind es heute bereits 56 Prozent. Unfähigkeit wird den Parteien auch bei der Lösung von Arbeits- (1994: 32 Prozent, 1998: 51 Prozent) und Rentenfragen (1994: 24 Prozent, 1998: 45 Prozent) bescheinigt.
"Wo die Kompetenz in Sachfragen verlorengeht", erklärte Emnid-Geschäftsführer Klaus-Peter Schöppner kürzlich auf einer Veranstaltung der ifp-Unternehmensberatung (Köln) in Bonn, "muß sich der Politiker das Image eines ,Kümmerers' geben, wenn er Stimmen gewinnen will." Zur Verdeutlichung zog Schöppner ein Beispiel aus der Medizin heran: "Wenn meine Krankheit tatsächlich unheilbar ist, dann suche ich mir eben den Mediziner aus, der mich am besten betreut." Diese Taktik verfolge SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder.
Desinteresse
Zur Verdrossenheit der Wähler trägt nach Angaben von Schöppner auch bei, daß die unterschiedlichen Bereiche der Politik inzwischen als so kompliziert und undurchschaubar empfunden werden, daß der Bürger sich zurückzieht: Wie soll er als Laie beispielsweise beurteilen können, welches Beschäftigungskonzept das beste für Deutschland ist, wie es tatsächlich um die Sicherheit von Castor-Transporten steht oder welche Auswirkungen die Einführung des Euro haben wird?
Da auf jede politische Aussage eine Gegenaussage und auf jedes Gutachten ein Gegengutachten folgt, wird der Wähler zwischen den einzelnen Interessengruppen zerrieben. "Die Folge davon ist", so Schöppner, "daß das Interesse an der Politik in den letzten Jahren deutlich geschmolzen ist - nach unseren Untersuchungen von 51 Prozent im Jahr 1983 auf 25 Prozent in diesem Jahr." Dieses Desinteresse führe zur Unkenntnis in wichtigen politischen Bereichen. Auf die Frage, wer in der Bundesrepublik eigentlich den Solidaritätsbeitrag zahlt, sind die Hälfte (48 Prozent) der Westdeutschen der Ansicht, daß diese Steuerlast nur von den alten Bundesländern geleistet wird; 24 Prozent der Ostdeutschen glauben sogar, der "Soli" sei eine ausschließlich von den Bürgern der neuen Bundesländer finanzierte Abgabe. Nur ein Drittel der Befragten weiß, daß es sich hierbei um eine gesamtdeutsche Steuerlast handelt. Nach den Erhebungen des Emnid-Institutes wird die Entscheidung der Wähler für eine Partei vielfach dadurch erschwert, daß die politische "Farbenlehre" nicht mehr stimmt. Unverwechselbare Parteiprofile gehören längst der Vergangenheit an: Nach Einschätzung der Bürger sind die Grünen heute eher "grünlich", die PDS die eigentlichen "Roten", die schwarze CDU eigentlich "grau" und die FDP nur noch mit liberalen "Spurenelementen" behaftet.
Absolut konträre Positionen gibt es kaum mehr. Dies zeigt ein Vergleich von Emnid-Umfragen aus den Jahren 1985 und 1997. Während CDU/CSU-Anhänger die Wirtschaft als "wichtige politische Aufgabe" gleichbleibend mit 54 respektive 55 Prozent einschätzen, ist der Anteil unter den Bündnisgrünen in diesem Zeitraum von 27 Prozent auf 51 Prozent gestiegen. Soziale Gerechtigkeit gilt nach wie vor bei der Hälfte der CDU/CSUAnhänger als "wichtige politische Aufgabe", bei den Bündnisgrünen ist der Anteil jedoch von 83 Prozent auf 49 Prozent gesunken. Fazit für den Bürger: Parteien werden immer weniger aus voller Überzeugung, sondern als das "kleinere Übel" gewählt. Entscheidende Faktoren für den Ausgang der Bundestagswahl sind nach EmnidUmfragen vielmehr das "Milieu" (50 Prozent), die Partei, von der man sich am ehesten eine Lösung der aktuellen Probleme verspricht (15 Prozent), der Eindruck des/der Politiker (zehn Prozent), der Wunsch von Familie, Freunden und Bekannten (10 Prozent), die Protestwahl (8 Prozent) und die Wahltaktik (8 Prozent).
Da die Politik der Argumente den Wähler aus oben genannten Gründen immer weniger beeindruckt, könnte die Bundestagswahl nach Einschätzung von Schöppner zu einem "Plebiszit" über nur ein aktuelles Thema werden - und nicht zum Spiegel für die letzte Legislaturperiode.
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn

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