ArchivDeutsches Ärzteblatt44/2012Sexueller Kindesmissbrauch: Therapieplätze dringend gesucht

POLITIK

Sexueller Kindesmissbrauch: Therapieplätze dringend gesucht

Bühring, Petra

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Eine bessere Versorgung für Betroffene von sexueller Gewalt – das fordert der Unabhängige Beauftragte. Vertreter der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten schließen sich mit Rahmenempfehlungen an.

Foto: mauritius images
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Wer als Kind sexuell missbraucht wurde, leidet oft noch jahrzehntelang an den Folgen. Doch die Versorgung der Betroffenen ist in Deutschland nicht gut. Es fehlen bundesweit Hilfsangebote und Opferambulanzen, damit Betroffene schnelle und spezialisierte Hilfe erhalten. Psychotherapeutische Behandlung steht ihnen nicht so unkompliziert zur Verfügung, wie dies erforderlich wäre, auch weil es zu wenig Therapieplätze gibt. Zudem fehlt es an Informationen über bestehende Angebote.

„Es müssen verbindliche Strukturen geschaffen werden, auf die man sich verlassen kann“, forderte Maren Ruden, Vertreterin der Betroffenen bei der Anhörung „Gesundheit von Betroffenen – Bessere Versorgung und Behandlung“, das der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Röhrig, am 17. Oktober in Berlin veranstaltete. Es war die erste von vier Anhörungen, die im Rahmen der Reihe „Dialog Kindesmissbrauch“ stattfand.

Jeder Zehnte wurde in der Kindheit sexuell missbraucht

Die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet jährlich 12 000 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Einer repräsentativen Umfrage zufolge hat mehr als jeder Zehnte in seiner Kindheit oder Jugend sexuellen Missbrauch erlebt (Häuser et al. 2011). Bei der telefonischen Anlaufstelle, die die damalige Missbrauchsbeauftragte, Dr. Christine Bergmann, 2010 eingerichtet hat, haben sich seitdem circa 25 500 Betroffene und Angehörige gemeldet und um Hilfe nachgefragt. Die Anlaufstelle ist weiterhin unter der Rufnummer 0800 2255530 (kostenfrei) zu erreichen.

Ausgelöst wurde die gesellschaftliche Aufarbeitung des Themas in Deutschland mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg. Nach und nach offenbarten sich bundesweit Betroffene, die sexuelle Gewalt in Internaten, Schulen und kirchlichen Zusammenhängen erlitten hatten. Der Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ hat Ende 2011 bereits Empfehlungen für die Politik vorgelegt, um die Situation der Betroffenen zu verbessern (siehe DÄ, Heft 50/2011: „Das Schweigen ist gebrochen“).

Vorschläge, um den Gesundheitszustand der Opfer zu verbessern, wurden jetzt in einem Forderungskatalog vorgelegt, den die Beteiligten der Anhörung ausgearbeitet haben. Das wichtigste Ziel dabei ist die Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung für die Betroffenen. Vorrangig wird dieses Ziel auch in den Rahmenempfehlungen, die die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Deutsche Krankenhausgesellschaft und der GKV-Spitzenverband jetzt vorgelegt haben, behandelt (siehe Kasten).

„Länger als drei Monate sollte niemand auf einen Therapieplatz warten müssen“, sagte Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Ulm, Fachbeirat beim Unabhängigen Beauftragten. Wenn regionale Engpässe bestehen, sollten sich auch qualifizierte Psychotherapeuten in Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen und Beratungsstellen an der ambulanten Versorgung beteiligen können. „Die Ermächtigung approbierter Psychotherapeuten in Beratungsstellen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen ist ein ganz wichtiger Punkt“, ergänzte der Präsident der BPtK, Prof. Dr. Rainer Richter. Außerdem sollen Sonderbedarfszulassungen bei nachgewiesenen Engpässen erteilt werden können. ,„In der ambulanten Psychotherapie stoßen wir an die Grenzen des Systems.“ Steht kein Vertragspsychotherapeut zur Verfügung, sollte den Betroffenen eine Psychotherapie im Rahmen von Kostenerstattung nach § 13 Absatz 3 Sozialgesetzbuch (SGB) V ermöglicht werden. „Klar ist aber, dass es ohne eine Reform der Bedarfsplanung keine spürbare Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung geben kann“, sagte Richter.

Die weiteren Forderungen:

  • Betroffene brauchen einen Lotsen durch den „Therapie- und Hilfedschungel“. Kassenärztliche Vereinigungen und Kassen sollen den Lotsen bereitstellen, der geeignete Ansprechstellen nennen kann. Ist das nicht möglich, soll der Lotse den Fehlbedarf dokumentieren, damit langfristig Sonderzulassungen oder Ermächtigungen durchgesetzt werden können.
  • Ambulante und stationäre Gesundheitsleistungen in Diagnostik und Behandlung von Betroffenen, auch von medizinischen Verdachtserklärungen, müssen abrechenbar sein.
  • Kindesmissbrauch muss im Gesundheitswesen erkannt, diagnostiziert und dokumentiert werden können. Gemäß einer Richtlinie des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus ist es nicht erlaubt, die Kodes der ICD-10 für Missbrauch zu verwenden. Die vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information herausgegebene Version der ICD-10-GM enthält jedoch eine entsprechende Kodierung (ICD-Kode/74.2). Diese paradoxe Situation führe zu ausufernden Begründungen einer Behandlung, während der eigentliche Grund verschleiert würde.
  • Der Schutz der Betroffenen steht an oberster Stelle. Ärzte und Psychotherapeuten sollten von den Krankenkassen nicht mehr dazu verpflichtet werden können, Angaben zu den Tätern zu machen, um Regressansprüche geltend machen zu können. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Änderung in § 294 a SGB V. Die Kassen würden oftmals sogar von Patienten verlangen, den Täter bekanntzugeben, berichtete Fegert: „Das ist ein unhaltbarer Zustand.“
  • Aktuelle Leitlinien für die Diagnostik und Therapie der Betroffenen von sexueller Gewalt werden benötigt. Für einige häufige Folgeerkrankungen sexuellen Kindesmissbrauchs wie der posttraumatischen Belastungsstörung oder der unipolaren Depression gibt es zwar S3-Leitlinien. Für das Kindes- und Jugendalter fehlen diese jedoch.
  • Praxen und Krankenhäuser müssen sichere Schutzräume vor sexueller Gewalt sein. Studien zeigen, dass es auch zwischen Arzt/Psychotherapeut und Patient zu sexuellen Übergriffen kommen kann (Fegert 2011). Die Berufsordnungen müssen ernst genommen werden. Zudem sollten Betroffenen die Beschwerdemöglichkeiten bei den Kammern aufgezeigt werden.

„Man muss die Forderungen der Anhörung und die Rahmenempfehlungen zusammen sehen“, erklärte BPtK-Präsident Richter. „Unsere Empfehlungen haben keine Weisungsfunktion. Deshalb ist der politische Druck durch die Forderungen der Anhörung wichtig.“

Petra Bühring

Die fünf Ziele der Rahmenempfehlungen

Verbesserung der Information über regional verfügbare Beratung, Betreuung und Therapieangebote. Dabei soll eine gemeinsame webbasierte Plattform aufgebaut werden mit Informationen über die Folgen des sexuellen Missbrauchs, Therapiechancen, Zugänge zu Beratung, Betreuung und Behandlung sowie Adressen.

Verbesserung der regionalen Zusammenarbeit. Die Kooperation zwischen Ärzten, Psychotherapeuten und den Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen soll verbessert werden. Spezialisierte Behandlernetzwerke sollen aufgebaut werden, wie zum Beispiel das „Traumanetz Sachsen“ oder das „Bündnis gegen Depression“.

Verbesserung der Verfügbarkeit der bestehenden Therapieangebote. Im wesentlichen folgen Ärzte und Psychotherapeuten hier den Forderungen der Anhörung. Zusätzlich wird empfohlen, dass Psychiatrische Institutsambulanzen ihr Angebot als spezialisierte Traumaambulanzen flächendeckend ausbauen können. Das Gleiche gilt für traumatherapeutische Behandlungsangebote an Hochschul- und Ausbildungsambulanzen. Außerdem sollen Mitarbeiter von Krankenkassen für die Folgen von sexuellem Missbrauch sensibilisiert werden. Spezifische Fortbildungsangebote für Psychotherapeuten für die Behandlung komplex traumatisierter Opfer von sexueller Gewalt sollen geschaffen werden. Die Gutachter sollen im Rahmen ihrer von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung organisierten Tagungen über Weiterentwicklungen in Psychotraumatologie fortgebildet werden.

Weiterentwicklung der Therapieangebote. Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie wird aufgefordert, traumaspezifische Methoden und Techniken zu identifizieren und ihre wissenschaftliche Fundierung nach § 11 Psychotherapiegesetz zu bewerten. Ebenso sollen Körper- und Kreativtherapien bewertet werden. Weiter werden Forschungsschwerpunkte an Hochschulambulanzen gefordert. Schließlich sollen Angebote der integrierten Versorgung für komplex Traumatisierte entwickelt werden.

Qualitätsanforderungen an spezialisierte Therapeuten und Ambulanzen sollen entwickelt werden. Die Kammern sollen prüfen, welche spezialisierten Kompetenzen bereits in der Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten oder in der Facharztweiterbildung vorhanden sind, und diese ergänzen oder initiieren. Ebenso sollen sie traumaspezifische Fortbildungscurricula vorantreiben.

@Die Rahmenempfehlungen im Internet:
www.aerzteblatt.de/122170

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