ArchivDeutsches Ärzteblatt45/2012Interview mit Dr. med. Andreas Köhler, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung: Sicherstellung – Freiheit oder Fessel?

POLITIK: Das Interview

Interview mit Dr. med. Andreas Köhler, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung: Sicherstellung – Freiheit oder Fessel?

Maus, Josef; Stüwe, Heinz

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Die KBV stellt den 150 000 niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten die Grundsatzfrage: Unter welchen Bedingungen soll die umfassende ambulante Versorgung weiter garantiert werden?

Andreas Köhler hält den Zeitpunkt für gekommen, bei der Politik und dem Gesetzgeber die Wiederherstellung der ärztlichen Freiheit in Therapie und Diagnostik einzufordern. Fotos: Svea Pietschmann
Andreas Köhler hält den Zeitpunkt für gekommen, bei der Politik und dem Gesetzgeber die Wiederherstellung der ärztlichen Freiheit in Therapie und Diagnostik einzufordern. Fotos: Svea Pietschmann

Herr Dr. Köhler, in den kommenden Wochen will die KBV alle niedergelassenen Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten befragen, ob und unter welchen Bedingungen sie den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung noch für akzeptabel halten. Was hat Sie zu diesem ungewöhnlichen Schritt veranlasst?

Köhler: Die KBV und die KVen haben ja im Wesentlichen zwei auch im Gesetz verankerte Funktionen: die Organisation von Versorgung und die Interessensvertretung der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten. Nun hat sich aber in den letzten 20 Jahren das Verhältnis der Krankenkassen zur Ärzteschaft derart verändert, dass wir Sinn und Zweck des Sicherstellungsauftrages nochmals in der Ärzteschaft und mit den Psychologischen Psychotherapeuten diskutieren wollen. Das soll keine Funktionärsdiskussion sein, sondern es geht um die Basis, den niedergelassenen Arzt und den Psychotherapeuten, der jeden Tag seine Patienten versorgt. Wir wollen wissen, wie er diesen Sicherstellungsauftrag sieht.

Nicht alle Ärzte wissen ganz genau, was der Sicherstellungsauftrag ist und wie er zustande kam.

Köhler: Der Sicherstellungsauftrag ist in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts entstanden und wurde schließlich 1955 den KVen und der KBV als Interessensvertretung der Ärzte übertragen. Letztendlich ist es ein historischer Vertrag zwischen den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland und den niedergelassenen Ärzten, der nichts anderes beinhaltet, als dass wir die ambulante Versorgung der Versicherten im vollen Umfang übernehmen, dafür eine angemessene Vergütung erhalten und unsere eigenen Richtlinien zur Überprüfung der Qualität unseres Handelns definieren können. Andererseits verzichten wir auf das Streikrecht und den sogenannten vertragslosen Zustand. Das heißt: Es gibt immer dann erst einen neuen Vertrag, wenn dieser konsentiert ist. Solange das nicht der Fall ist, gilt der alte Vertrag fort.

„Die Wertschätzung der ärztlichen Arbeit spüren wir bei den Krankenkassen nicht mehr.“
„Die Wertschätzung der ärztlichen Arbeit spüren wir bei den Krankenkassen nicht mehr.“

Die Inhalte des Vertrages haben sich in den letzten 20 Jahren allerdings ganz maßgeblich verändert: Wir haben die Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung, und schon daraus lässt sich nicht mehr dieser umfassende Sicherstellungsauftrag ableiten. Wir haben mit diesem Vertrag ein Mengenrisiko übernommen, das nicht vollständig von den Krankenkassen vergütet wird. Wir haben heute Regularien und einen bürokratischen Aufwand, die nicht mehr dem Wesen des Sicherstellungsauftrages entsprechen, wie er einmal vor 100 Jahren angelegt war.

Was genau kritisieren Sie am Verhalten der Krankenkassen gegenüber den Ärzten?

Köhler: Es geht hier eindeutig um die Wertschätzung der ärztlichen Arbeit, und damit meine ich ganz bewusst, was Tag für Tag in der ambulanten Versorgung stattfindet, was sich in 526 Millionen Behandlungsfällen und 1,8 Milliarden Patientenkontakten im Jahr dokumentiert. Die Wertschätzung dieser Arbeit spüren wir nicht mehr – weder in den Verhandlungen mit den Krankenkassen noch in Fragen der Qualitätssicherung und des Qualitätsmanagements. Wir spüren das auch nicht mehr bei den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses und bei den Vergütungsfragen.

Wir wollen, dass das, was die niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten für ihre Patienten täglich leisten, sich wieder in der Wertschätzung und einer fairen Vertragspartnerschaft mit den Kassen ausdrückt. Stattdessen erleben wir derzeit, dass die Ärzte von den Krankenkassen öffentlich als Abzocker und Betrüger bezeichnet werden. Denken Sie an die sogenannten Fangprämien und die ganze IGeL-Diskussion.

Die Kassen reden aber auch ständig über Versorgung und was sie alles machen wollen.

Köhler: Ich erlebe das nach dem Muster: Wir wollen diese oder jene Versorgung einführen, aber es darf nichts kosten. Es muss uns doch klar sein in einer älter werdenden Gesellschaft mit einer zunehmenden Morbidität und mit einer zunehmenden Nachfrage nach ärztlichen Leistungen, mit dem Versagen anderer Versicherungssysteme, dass wir etwas besonders Wertvolles haben. Wohnortnahe ärztliche Versorgung durch den Hausarzt, spezialisierte Versorgung durch den Facharzt, und das will die Bevölkerung auch. Es muss allen klar sein, dass das Geld kostet. Wir haben aber den Eindruck, dass die Krankenkassen eine reine Verteilungsdiskussion initiieren. Dann heißt es immer wieder, es sei genügend Geld da in der Versorgung und man müsse nicht mehr Geld dazugeben.

Ende September hat die KBV-Vertreterversammlung Bedingungen beschlossen, die in den nächsten fünf Jahren erfüllt sein müssen, um den Sicherstellungsauftrag weiterhin wahrnehmen zu können. Welche sind das?

Köhler: Der wichtigste Punkt ist die Wiederherstellung der therapeutischen und diagnostischen Freiheit. Viel zu sehr haben sich die gemeinsame Selbstverwaltung, die gesetzlichen Krankenkassen, aber auch andere Organisationen in das originäre Feld des Arzt-Patienten-Verhältnisses eingemischt. Das ist nicht mehr die Individualität, wie wir sie eigentlich brauchen für einen guten Therapieerfolg. Immer mehr spüren doch die Ärzte und Psychotherapeuten jeden Tag, dass das Leistungsmanagement der Krankenkassen über ihre Praxen kommt, dass der ärztliche Handlungsspielraum eingeschränkt wird durch die Vielzahl von Normen und Regulierungen. Und das möchten wir wieder zurückführen.

Dann die Vergütung. Hier geht es mir nicht so sehr um die Höhe, sondern um planbare Preise bei festen und planbaren Mengen. Das ist bis zum heutigen Tag nicht der Fall, und das schafft sehr viel Unzufriedenheit. Zu einer guten Arbeit gehört auch, dass der Arzt dafür eine angemessene Vergütung erhält. Das ist heute bei einem begrenzten Finanzvolumen für die Versorgung, aber ungebremster Nachfrage nach ärztlichen Leistungen nicht mehr gegeben. Wenn es nicht mehr möglich ist, feste Preise für alle erbrachten Leistungen zu bekommen, dann müssen wir künftig feste Mengen mit den Krankenkassen vereinbaren. Im ersten Schritt geht es um die Psychotherapie, im zweiten Schritt aber auch um die haus- und fachärztlichen Grundleistungen.

Dann wollen wir, dass die Qualitätssicherung wieder in den Händen der Ärzte liegt. Da mischen sich die Krankenkassen zu stark ein. Bei den veranlassten Leistungen, den Arzneimitteln und Heil- und Hilfsmitteln müssen die Regresse verschwinden. Regresse schädigen ganz enorm die Attraktivität des Berufs und das Arzt-Patienten-Verhältnis. Medizinstudenten nennen bei Befragungen als dritthäufigsten Grund, sich später nicht niederlassen zu wollen, die Sorge vor Regressen. Das muss man sich mal vorstellen. Wir brauchen in den nächsten Jahren ganz dringend niederlassungswillige Ärzte, und da kann man nicht die Niederlassungsbereitschaft mit den ständigen Regressdrohungen auch noch unterlaufen.

Letztlich möchten wir wieder kassenspezifische Verträge haben. Die heutige Situation sieht so aus, dass die Krankenkassen gemeinsam und einheitlich auf Landesebene Verträge mit den Kassenärztlichen Vereinigungen schließen müssen. Das modernisiert den Kollektivvertrag nicht und fördert auch nicht den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen um eine gute Versorgung.

In fünf Jahren sollen diese Forderungen erfüllt sein, ist das eine Hoffnung oder eher eine Erwartung?

Köhler: Das ist mehr als eine Erwartung, das ist eine Forderung an die Politik und den Gesetzgeber, aber auch an die gesetzlichen Krankenkassen. Und die ist verknüpft mit der Frage, ob wir weiterhin den Sicherstellungsauftrag haben wollen. Wir können den Sicherstellungsauftrag nicht einfach zurückgeben, aber ich empfinde zunehmend diesen Sicherstellungsauftrag nicht mehr als Freiheit für die Ärzte, sondern als eine Fessel. Und dann muss es auch möglich sein zu sagen, dass man den Sicherstellungsauftrag nur noch unter bestimmten Bedingungen als Ärzteschaft übernehmen möchte.

Ob die Ärzte das genauso sehen, soll also die Befragung ergeben?

Köhler: Ja, aber über den Ausgang bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht sind die Ärzte sehr viel zufriedener mit dieser Versorgungsstruktur, als wir das glauben.

Was wollen Sie konkret fragen?

Köhler: Der Kern der Befragung ist einfach. Es gibt drei Optionen: Es soll alles so bleiben wie es ist, wir wollen den Sicherstellungsauftrag nicht mehr wahrnehmen, oder wir wollen ihn weiterführen – dann aber nur, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden. Um das noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es geht nicht um die Rückgabe der Zulassung des einzelnen Arztes. Vielmehr wollen wir ein Meinungsbild haben, dass wir dann in der Öffentlichkeit, mit der Politik und dem Gesetzgeber diskutieren können.

Wann beginnt die Befragung, und welchen Rücklauf erwarten Sie?

Köhler: Die Befragung startet Mitte November. Erste Zwischenergebnisse möchten wir bereits Anfang Dezember in unseren Gremien vorstellen und diskutieren. Ziel ist es, noch in diesem Jahr eine abschließende Bewertung der Befragung zu haben. Ich wünsche mir natürlich eine größtmögliche Beteiligung, denn es ist ja keine kleine Frage, die wir da diskutieren, sondern eine Frage, die für jeden Vertragsarzt und Psychotherapeuten relevant ist.

Was würde es bedeuten, wenn eine große Mehrheit sich gegen die Weiterführung des Sicherstellungsauftrags ausspräche?

Köhler: Das wäre zunächst einmal ein sehr klares und eindeutiges Mandat an die Kassenärztlichen Vereinigungen, an die Kassenärztliche Bundesvereinigung und auch an mich, mit der Politik sehr ernsthaft darüber zu diskutieren und den Gesetzgeber letztlich zu bitten, den Sicherstellungsauftrag zurückzunehmen. Wir können den nicht einfach zurückgeben. Zugleich müssen wir die nächsten Schritte gehen und mit der Ärzteschaft diskutieren: Macht dann ein System von Kollektivverträgen, macht dann eine Körperschaftsstruktur, wie wir sie ja haben, noch Sinn? Oder müssen wir nicht andere Strukturen aufbauen?

Welche wären das? Wie sehen die
Alternativen aus?

Köhler: Es gibt nicht so viele Alternativen, das zeigt auch ein Blick in andere Länder. Da macht es dann der Staat. Oder die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen den Sicherstellungsauftrag. Die würden dann Einzelverträge mit Ärzten schließen, wie wir das schon einmal erlebt haben. Gerade wegen der unbefriedigenden Situation mit Einzelverträgen vor 100 Jahren hatte der Hartmannbund ja das System der Kassenärztlichen Vereinigungen mit Kollektivverträgen und damit auch die Übernahme des Sicherstellungsauftrages erkämpft.

Und man darf dann auch nicht die Schutzfunktion der Kassenärztlichen Vereinigungen vergessen. Als einzelner Arzt mit meiner Praxis bin ich einem Kassenwettbewerb sehr viel stärker ausgesetzt als im Geleitzug einer großen Gruppe von Vertragsärzten. Hinzu kommt der enorme Verwaltungsaufwand in einem System mit Einzelverträgen. Ich kann mir daher nur schwer vorstellen, dass 130 gesetzliche Krankenkassen mit 150 000 Ärzten und Psychotherapeuten Verträge schließen. Das würde dann eher in Richtung Gruppenverträge gehen. Aber dann wird es bei den Ärzten und Psychotherapeuten natürlich ebenfalls Verbünde geben müssen, die solche Gruppenverträge aushandeln. Ob das dann Berufsverbände sind oder eine KV als arztübergreifende neue Organisation ohne Pflichtmitgliedschaft ist, kann ich hier jetzt nicht sagen. Das wird dann die nachfolgende Diskussion in der Ärzteschaft sein.

Was hieße das für die KBV und die KVen?

Köhler: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder wären dann nur in einer völlig veränderten Form vorstellbar. Denn wenn wir den Sicherstellungsauftrag zur Disposition stellen, stellen wir auch die Pflichtmitgliedschaft in diesem System zur Disposition. Aber jetzt sind wir in einer Phase, wo es wirklich angebracht ist, diese Grundsatzfrage zu stellen.

Das Interview führten Josef Maus
und Heinz Stüwe.

Kurzinfos zur KBV-Umfrage

Mitte November startet die KBV die Befragung aller 150 000 Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten. Es geht um die Grundsatzfrage, ob und unter welchen Bedingungen die niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten die ambulante Versorgung in Zukunft sichern können – also um den sogenannten Sicherstellungsauftrag.

Eckdaten der Befragung

Das Meinungsforschungsinstitut infas führt die Befragung im Auftrag der KBV durch. Sie erfolgt schriftlich im Zeitraum Mitte November bis Mitte Dezember 2012. Die KBV schreibt dazu Mitte November jeden Vertragsarzt und jeden Vertragspsychotherapeuten an. Dem Brief, der an die Adresse der Praxis geht, liegt ein Fragebogen bei. Ärzte und Psychotherapeuten können auf zwei Wegen an der Befragung teilnehmen:

  • Sie füllen den zugesandten Fragebogen aus und senden diesen in einem ebenfalls beigefügten Umschlag kostenfrei an infas zurück.
  • Sie beantworten die Fragen online. Dazu erhält jeder mit dem Schreiben einen persönlichen Zugangskode. Über einen QR-Kode ist auch die Teilnahme per Smartphone möglich.

Die Teilnahme ist freiwillig, die Angaben werden vertraulich behandelt. Erste Ergebnisse sollen auf der Vertreterversammlung der KBV am 7. Dezember präsentiert werden. Der Abschlussbericht wird Ende des Jahres vorliegen. Für die KBV und die KVen sind die Ergebnisse wichtig, um die politischen Forderungen und die Strategie der nächsten Jahre festlegen zu können.

@Weitere Informationen in Kürze unter:
www.kbv.de/befragung/

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