POLITIK
Satzungsleistungen der Krankenkassen: Hauptsache Wettbewerb


Weil sie es sich leisten können, erweitern viele Krankenkassen derzeit ihr Leistungsportfolio. Was davon wirklich nutzt, ist dabei unklar.
Mit dem Gesundheitsfonds ist der Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen weitgehend zum Erliegen gekommen. Denn seither ist die Beitragshöhe bei allen Kassen gleich. Die einige Jahre später eingeführten Zusatzbeiträge waren zwar als Element zur erneuten Stärkung des Wettbewerbs gedacht, nachdem sie anfangs zu großen Wanderungsbewegungen der Versicherten geführt haben, bleiben sie nun aber, in Zeiten, in denen selbst finanziell angeschlagene Kassen Rücklagen gesammelt haben, ohne Effekt.
Homöo- und Osteopathie
Um den Wettbewerb wieder zu befeuern, hat die Regierung die Kassen im GKV-Versorgungsstrukturgesetz dazu berechtigt, ab Januar 2012 neue Satzungsleistungen zu erlassen. Dazu gehören die Bereiche Prävention, künstliche Befruchtung, Zahnbehandlung, nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel, Heilmittel, Hilfsmittel, häusliche Krankenpflege, Haushaltshilfe, medizinische Rehabilitationsleistungen und Leistungen nicht zugelassener Leistungserbringer.
Dass zurzeit tatsächlich viele Kassen ihre Satzungsleistungen erweitern, liegt insbesondere an ihren beständig steigenden Rücklagen. So zahlt die Techniker-Krankenkasse (TK) ihren Versicherten seit Jahresbeginn zum Beispiel bis zu 100 Euro für homöopathische, anthroposophische und andere pflanzliche Arzneimittel, wenn diese apothekenpflichtig sind. Die Barmer-GEK wird ab 2013 einen Zuschuss von maximal 100 Euro für osteopathische Leistungen gewähren. Und die AOK-plus aus Thüringen und Sachsen bietet 40 Euro im Jahr für eine professionelle Zahnreinigung. Aber auch kleinere Kassen haben ihre Portfolio erweitert. Die Bosch-BKK bietet ab dem kommenden Jahr die Vergütung der Rufbereitschaft von Hebammen oder Geburtsvorbereitungskursen mit Partner. Und die Heimat-Krankenkasse zahlt ebenfalls für die Osteopathie 240 Euro oder 80 Euro für individuelle Früherkennungsuntersuchungen wie die Messung des Augeninnendrucks oder die Bestimmung des PSA-Werts.
Die Kassen selbst sind mit der neuen Rechtslage zufrieden. „Die Reaktionen der Versicherten sind überwiegend positiv“, teilt die TK mit. Und die AOK-plus betont, alle Satzungsleistungen würden sehr gut angenommen – die Zahnreinigung seit Juli sogar 82 000-mal. Doch nicht alle sind mit den neuen Möglichkeiten der Krankenkassen glücklich. „Satzungsleistungen in ihrer jetzigen Ausgestaltung sind ein Sündenfall gegen das Prinzip der solidarischen Krankenversicherung“, kritisiert Dr. Ilona Köster-Steinebach vom Verbraucherzentrale Bundesverband, die im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) die Interessen der Versicherten vertritt. Denn die Kassen, sagt sie, dürften mit den Zwangsbeiträgen ihrer Mitglieder nur die Leistungen bezahlen, für die auch eine Evidenz vorliege. Ausgaben für Leistungen mit einer nichtbelegten Evidenz belasteten hingegen ungerechtfertigt die Finanzlagen der Kassen.
Evident oder nichtevident
Fehlende Evidenz – daran entzündet sich vielfach die Kritik an den neuen Leistungen. Offiziell gilt als evident, was der G-BA in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufnimmt. Eine der Trägerorganisationen beispielsweise muss dafür zunächst einen Antrag auf Prüfung der entsprechenden Therapie gestellt haben. Häufig geschieht dies jedoch erst, wenn wahrscheinlich erscheint, dass diese Therapie tatsächlich einen Nutzen aufweist. So kam es bislang eher selten vor, dass der G-BA eine Leistung explizit ausgeschlossen hat. Bei der krankengymnastischen Reittherapie etwa, auch Hippotherapie genannt, ist dies, im Jahr 2006, geschehen. Häufiger kommt es hingegen vor, dass die Antragsberechtigten des G-BA keinen Antrag stellen, wenn der Nutzen einer Therapie als fraglich gilt.
Köster-Steinebach formuliert es so: „Verkürzt könnte man sagen: Was die individuellen Gesundheitsleistungen den Ärzten, sind die Satzungsleistungen den Kassen. Sowohl Ärzte als auch Kassen wissen, das viel Sinnloses erbracht wird, aber aus individuellen ökonomischen Gründen wird gegen das bessere Wissen gehandelt.“
Prof. Dr. Johann-Matthias Graf von der Schulenburg hält den Wettbewerb zwischen Krankenkassen grundsätzlich für sinnvoll, alle Satzungsleistungen jedoch nicht. „Auch wenn manche Satzungsleistungen medizinisch unsinnig scheinen oder auch sind, wäre es ein falscher Schluss, die Gestaltungsfreiheit der Krankenkassen weiter einzuschränken“, sagt der Direktor des Instituts für Versicherungsbetriebslehre an der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität Hannover. Denn wer Krankenkassenwettbewerb wolle, müsse den Kassen auch die Freiheit geben, sich zu differenzieren. Dennoch hält er die derzeitigen Leistungsausweitungen der Krankenkassen für „die schlechteste Lösung“, um die aktuellen Überschüsse der Kassen aufzulösen. Besser sei die Reduktion der Staatszuschüsse, um so bald wie möglich zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt zu kommen. Oder eine Senkung der Beitragssätze.
Gleichwohl erwartet von der Schulenburg angesichts der Überschüsse weitere Ausweitungen der Satzungsleistungen. Denn manche Krankenkassen gingen davon aus, dass sie sich so besser profilieren könnten als durch Beitragsrückerstattungen. „Langfristig ist das aber unvernünftig, da man einmal eingeführte Leistungen nur schwer reduzieren kann“, argumentiert der Betriebswirt.
Dass die neuen Satzungsleistungen in ihrer Umsetzung auch zu ganz konkreten Problemen führen können, hat sich diesen Sommer in Thüringen gezeigt. Dort hatten sich Ärzte bei ihrer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) darüber beschwert, dass Krankenkassen aus der Region in ihren Satzungsleistungen anboten, nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel für Kinder und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr zu zahlen.
Dies sei der Arzneimittel-Richtlinie zufolge aber nur zulässig, wenn die Arzneimittel bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, argumentiert die KV. Die Ärzte fürchteten nun, Verordnungen dieser Arzneimittel würden sich negativ bei ihrer Wirtschaftlichkeitsprüfung auswirken. Zudem komme es zu Diskussionen mit den Patienten, und eine nicht durch die Praxissoftware unterstützte Verordnung könne zu erhöhtem Zeitaufwand im Praxisalltag führen. Die KV riet ihren Ärzten daher, in solchen Fällen ein Privatrezept auszustellen, das der Versicherte zur Kostenerstattung bei seiner Krankenkasse vorlegen könne.
Die AOK-plus, die diese Satzungsleistung anbietet, versichert hingegen, es gebe für die Ärzte kein erhöhtes Regressrisiko. Denn die Kasse gewährleiste, dass die betreffenden Verordnungen bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht berücksichtigt würden.
Falk Osterloh
Wettbewerb: Kassen streiten mit BVA
Nicht nur über Satzungsleistungen positionieren sich Krankenkassen im Wettbewerb. Einige, etwa die Securvita-Krankenkasse, arbeiten auch mit privaten Krankenversicherern zusammen, mit denen sie ihren Versicherungsschutz kostenfrei auf Auslandsreisen ausdehnen. Grundlage dafür sei der § 197 b Sozialgesetzbuch V, sagt Securvita-Sprecher Peter Kuchenbuch. Darin heißt es, Krankenkassen könnten die ihnen obliegenden Aufgaben durch Dritte wahrnehmen lassen, wenn die Aufgabenwahrnehmung dadurch wirtschaftlicher sei. „Wir sind mit dem Vertrag sehr zufrieden“, erklärt Kuchenbuch. Denn die Securvita spare an Verwaltungsaufwand, und die Versicherten profitierten.
Das Bundesversicherungsamt (BVA) und die Aufsichtsbehörden der Länder haben den Kassen diese Zusammenarbeit mit privaten Versicherern nun jedoch verboten und sie angewiesen, alle Kooperationen dieser Art bis zum 31. Dezember dieses Jahres zu beenden. Grund: Solche Angebote seien weder eine gesetzlich vorgesehene noch eine vom Gesetz zugelassene Aufgabe von Krankenkassen. Einige Krankenkassen haben den Vertrag daraufhin gekündigt. Andere, zum Beispiel die Securvita, haben geklagt. „Es ist unverständlich, weshalb das BVA den Vertrag verbieten will“, sagt Kuchenbuch. „Bis zur Verkündung des Urteils werden wir ihn auf jeden Fall aufrechterhalten.“