THEMEN DER ZEIT
Systemische Therapie: Kultur und Globalisierung aus systemischer Sicht


Die psychosoziale Dynamik, die durch neoliberale Globalisierung und das Aufeinandertreffen lokaler und globalisierter Kulturen und Wertesysteme entsteht, stand im Fokus der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie.
Systemtheoretiker beschäftigen sich nicht nur mit Paaren und Kleingruppen, sondern auch mit größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen auf nationaler oder globaler Ebene. Die spezifische psychosoziale Dynamik, die durch neoliberale Globalisierung und das Aufeinandertreffen lokaler und globalisierter Kulturen und Wertesysteme generiert wird, stand Anfang Oktober 2012 in Freiburg unter dem Titel „Dialog der Kulturen – Kultur des Dialogs“ im Fokus der 12. wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie.
„Es mag erstaunen, dass ein systemischer Therapeut überhaupt über so etwas Großräumiges wie kollektive Gefühle spricht“, schickt Prof. Dr. med. em. Luc Ciompi seinem Vortrag voraus. Wer allerdings das bisherige wissenschaftliche Werk des Schweizer Systemtheoretikers und Pioniers der Psychiatriealternative Soteria in Europa ein wenig kennt, dem wird der Perspektivenwechsel von der systemischen Familien- oder Gruppentherapie zu makrosozialen Phänomenen wie Nationalsozialismus, Palästinakonflikt oder Arabischer Frühling durchaus vertraut sein. „Gefühle machen Geschichte“ heißt Ciompis neuestes Buch. Darin wendet er die von ihm bereits 1982 beschriebene und seitdem ständig weiterentwickelte biopsychosoziale Theorie der Affektlogik auf Großgruppen und gesamtgesellschaftliche Phänomene an. Demnach beeinflussen Affekte das Denken und Verhalten auf allen Ebenen prinzipiell gleichartig. Die von Ciompi auch als Selbstähnlichkeiten bezeichneten Parallelen zwischen komplexen Prozessen auf Mikro- und Makroebene treffen demnach sowohl auf die komplexe Dynamik und Morphogenese in der Natur zu, wie man es etwa an der Wolkenbildung oder an Kristallisationsprozessen beobachten kann, als auch auf psychosoziale Prozesse, weshalb Ciompi von fraktaler Affektlogik spricht.
Umbruch durch kritische Affektspannung
Affekte versteht Ciompi als umfassende psychophysische Gestimmtheiten, die mit dem Denken ständig und untrennbar zusammenwirken. „Offene oder verdeckte, aktuelle oder vergangene Gefühle beeinflussen ständig unser Denken“, betont Ciompi. Gefühle werden in diesem Modell auch mit Energien verglichen, und kritisch steigende Affektspannungen können zu plötzlichen globalen Veränderungen des Fühlens oder Denkens führen. Als Beispiele für einen solchen eruptiven Umbruch nennt Ciompi das Umschlagen von Liebe in Hass oder von einer starken emotionalen in eine psychotische Reaktion. Auf dieser Sichtweise basierend führte Ciompi die Induktion einer nachhaltigen Entspannung als zentrales Wirkprinzip in die Psychosenbehandlung à la Soteria ein. Entspannung werde dabei nicht in erster Linie pharmakologisch induziert, sondern durch ein „stetes verständnisvolles Dabeisein und mitmenschliches Begleiten von psychotisch verängstigten Menschen in einem möglichst normalen, offenen, familienartigen und bergenden Milieu“.
In der Familientherapie oder Mediation sei es, so Ciompi, essenziell, dass der Mediator sich zunächst emotional auf sein Gegenüber beziehungsweise die Gruppe einstimmen könne. Auf das Einstimmen folge das Abstimmen, das heißt die Vergewisserung, etwa mit Hilfe der Worte: „Ich habe das Gefühl, dass du gerade Wut erlebst, stimmt das?“ Das wiederum mache den Weg frei für ein Zustimmen, Akzeptieren, allerdings nicht im Sinne von „Du hast recht“, sondern etwa von „Ich verstehe, dass du wütend bist“. Nur auf dieser Basis könne dann ein Umstimmen erfolgen; „Wir versuchen umzustimmen, damit wir umdenken und schließlich auch ,umhandeln‘ können“, erklärt Ciompi. Als Rahmen sei schließlich auch ein Bestimmen erforderlich und therapeutisch wirksam; dazu zähle etwa das vom Therapeuten festgelegte Setting.
„Offene oder verdeckte Emotionen sind die entscheidenden Motoren und Organisatoren unseres Denkens und Verhaltens“, resümiert Ciompi. Würde man das erkennen und Emotionen daraufhin nicht nur ernst nehmen, sondern sie wirklich annehmen, dann könne das tiefgreifende und nachhaltige Entspannungs- und Friedensprozesse anstoßen, sowohl auf der Ebene von Kleingruppen als auch gesamtgesellschaftlich und global.
Kultur- und milieuabhängige Wertekonflikte
Tom Levold, Institut für psychoanalytisch-systemische Praxis, Köln, ermutigt seine Kollegen, sich mehr mit Kulturtheorie zu beschäftigen, auch wenn diese oft nicht leicht mit der Theorie sozialer Systeme in Einklang zu bringen sei. Professionelle in den verschiedenen Arbeitsfeldern der systemischen Praxis seien täglich und zunehmend mit kulturellen und interkulturellen Fragestellungen beschäftigt. Der Begriff Kultur spiele letztlich für jede Form der Kontextreflexion eine wichtige Rolle.
Der gesellschaftliche Wertewandel beispielsweise und die sich daraus ergebenden Konflikte, unter anderem bei Paaren und in Familien, seien in hohem Maße kultur- und milieuabhängig. Niklas Luhmann, einer der Begründer der soziologischen Systemtheorie, habe auf die Problematik hingewiesen, dass Werte keine Regel für den Fall des Konfliktes zwischen Werten enthalten. Zudem gebe es keine transitive oder hierarchische Ordnung der Werte. Werte würden sich vielmehr immer im individuell unterschiedlich beschaffenen Kräftedreieck aus symbolischer Ordnung, Diskurs und Praxis entwickeln.
Auf der Ebene der Paartherapie könne der Therapeut oder die Therapeutin dabei sogar in die Rolle eines „Werte-Dealers“ geraten, beispielsweise
- wenn Wertekonflikte zu massiven Störungen und Dysfunktionen der Beziehung führen
- wenn die Werte eines Paares nicht mit der Beziehungspraxis kompatibel sind
- wenn die Partner auf keine gemeinsamen Wertvorstellungen für das künftige Zusammenleben zurückgreifen können
- bei offenen Wertekonflikten zwischen Therapeut und Klienten.
Prof. Dr. Boike Rehbein, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität Berlin, beschreibt die weltweite Ausdehnung des Kapitalismus als wechselseitigen Prozess von Globalisierung und Lokalisierung. Treibende Kräfte der Lokalisierung seien unter anderem die Aneignung des Kapitals durch nationale Eliten und die daraus resultierende Anpassung kapitalistischer Strukturen an nationale Kulturen, Institutionen, politische Verhältnisse und deren historische Wurzeln. Aus der Lokalisierung resultiere eine zumindest partielle Rückkehr der multizentrischen Welt. Die meisten Staaten bedienten sich zwar auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene einer westlich geprägten neoliberalen Ideologie, vor allem im Sinne eines Marktvorrangs, in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen würde der Kapitalismus jedoch an die lokalen Gegebenheiten adaptiert. Dadurch seien, so Rehbein, neben den westlichen Zentren des Kapitalismus viele neue und höchst vitale Zentren mit lokal geprägten Kapitalismen entstanden, etwa in Südostasien. Von einer westlichen Dominanz könne nun nicht mehr die Rede sein.
Verschärfung der sozialen Ungleichheit
Ein weiteres Phänomen der neoliberalen Globalisierung sei eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit, wie sie bereits von Adam Smith und Karl Marx – wenn auch mit jeweils unterschiedlichen politischen Implikationen – vorausgesagt wurde. Da Reiche gegenüber Armen im Vorteil sind, was Mobilität, Wissen und Kapital betrifft, profitieren sie mehr von der Produktivitätssteigerung. Dieser Effekt wird dadurch beschleunigt, dass die Produktivitätssteigerung Arbeitslosigkeit, Verknappung von Nahrungsmitteln und Kapitalkonzentration nach sich zieht. Viele Bevölkerungsgruppen in den aufstrebenden Gesellschaften würden, so Rehbein, in die Lokalisierung des Kapitalismus gar nicht einbezogen, sondern sogar regelrecht abgehängt.
„Die Globalisierung geht mit erheblichen psychischen Belastungen für den Einzelnen, die Familie und die Gesellschaft einher“, ergänzt Prof. Dr. med. Michael Wirsching, Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Freiburg. In allen Ländern der Erde – außer in Schwarzafrika und in Russland – seien „stressbedingte“ psychische Störungen die häufigsten nichttödlichen Krankheiten. Beruflicher Stress, Migration, schwindender familiärer Rückhalt und Urbanisierung seien die entscheidenden globalisierungsassoziierten Risikofaktoren für die psychosozialen Probleme unserer Zeit. 50 Prozent der Weltbevölkerung leben mittlerweile in Städten. Im Zuge der Urbanisierung haben Infektionskrankheiten, Mangelernährung, Mütter- und Kindersterblichkeit abgenommen; gleichzeitig ist eine Zunahme psychischer Krankheiten zu verzeichnen, vor allem Angststörungen, Depressionen, somatoforme Störungen und Schizophrenie. Wirsching hält es daher für dringend notwendig, Initiativen der globalen Gesundheitspflege durch den Aufbau geeigneter psychosozialer Versorgungsstrukturen zu ergänzen. Allerdings erfordere das ein Vorgehen, das sich, eingebettet in einen transkulturellen Dialog, an den lokalen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen orientiert. Dass sonst die Gefahr besteht, psychische Probleme zu exportieren und neue zu generieren – etwa durch ein Überstülpen von westlichen Krankheitskonzepten und Behandlungsstrategien –, hat der US-amerikanische Journalist Ethan Watters in seinem provokanten Buch „Crazy Like Us“ eindrücklich beschrieben.
Dr. med. Thomas Bißwanger-Heim