

Die Zunahme der Opioidverordnungen führt zu einer verbesserten Versorgung insbesondere tumorkranker Schmerzpatienten – wer dieser Meinung ist, wird nach der Lektüre des Beitrags „Zunahme der Opioidverordnungen in Deutschland zwischen 2000 und 2010. Eine Studie auf der Basis von Krankenkassendaten“ von Ingrid Schubert, Peter Ihle und Rainer Sabatowski (1) ein deutlich differenzierteres Bild von der Versorgungsrealität in Deutschland bekommen.
Zwar zeigte sich von 2000 bis 2010 innerhalb der Versichertenstichprobe ein Anstieg der Opioidverordnungen um 37 % sowie eine Zunahme der Tagesdosen um 109 %. Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Darreichungsformen von Opioiden der WHO-Stufe 2 und 3 sowie Patienten mit und ohne Tumorerkrankungen zeigen:
- Während bei den Verordnungen nichtretardierter Darreichungsformen von Opioiden der WHO-Stufe 2 eine moderate Abnahme zu erkennen war, wurde eine deutliche Steigerung der Verschreibungshäufigkeit nichtretardierter Opioide der WHO-Stufe 3 beobachtet.
- Für retardierte Opioide der WHO-Stufe 3 bestand im Jahr 2000 noch eine gleiche Behandlungsprävalenz von Tumorpatienten und Patienten ohne Tumorerkrankungen, zehn Jahre später war die Behandlungsprävalenz bei Patienten ohne Tumorerkrankungen annähernd doppelt so hoch wie bei Patienten mit Tumorerkrankungen. Ein besonders starker Anstieg war dabei im Verordnungsvolumen von Fentanyl zu beobachten.
- Insgesamt fielen 2010 76,7 % aller verordneten Opioide auf Patienten ohne Tumorerkrankungen. Der Anteil der Langzeitbehandlungen (> 90 Tage) stieg im Beobachtungszeitraum von 4,3 % auf 7,5 %.
Bei allen Limitationen, die die Verwendung von Routinedaten von Krankenkassen aufweisen, zeigt die Arbeit doch alarmierende Trends. Die deutliche Steigerung der Verschreibungshäufigkeit nichtretardierter Opioide der WHO-Stufe 3 sowie die Intensivierung der Opioidtherapie bei Patienten ohne Tumorerkrankungen können auf Fehlversorgungen hinweisen, die im europäischen Ausland und insbesondere in den USA bereits nachgewiesen wurden.
Die richtige Darreichungsform für das richtige Krankheitsbild
Retardierte Opioide gelten nach wie vor als ein Eckpfeiler der medikamentösen Schmerztherapie. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Rückgang der Verschreibungshäufigkeit nichtretardierter Opioide der WHO-Stufe 2 sicher positiv zu bewerten. Kritisch hinterfragt werden muss allerdings der Anstieg der Verschreibungshäufigkeit nichtretardierter Opioide der WHO-Stufe 3 – in den letzten Jahren des Beobachtungszeitraums zunehmend schnellfreisetzende Fentanylpräparate – für den Durchbruchschmerz.
Der Begriff des „breakthrough pain“ wurde zwar bereits in den 1990er Jahren von Portenoy und Mercadante definiert (2, 3), mit der Markteinführung dieser Präparate erlebte der Begriff des Durchbruchschmerzes jedoch einen wahren Boom – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Zur Behandlung der Durchbruchschmerzen werden traditionelle nichtretardierte Opioide eingesetzt, insbesondere Substanzen der WHO-Stufe 3. Die schnellfreisetzenden Fentanylpräparate zeichnen sich gegenüber den „alten“ Substanzen durch eine schnellere Anschlagszeit aus, halten eine definierte kurze Zeit vor und können daher spontanen, unvorhersehbaren Durchbruchschmerz wirksam lindern. Ihre Zulassung bezieht sich ausschließlich auf die Behandlung von Tumorpatienten, für deren Schmerzbehandlung eine Basismedikation mit oral retardierten oder transdermalen retardierten Opioiden nicht ausreicht.
Allerdings scheint das pharmakologische Profil dieser Präparate deutlich häufiger als bei den nichtretardierten Opioiden der WHO-Stufe 3 zu erheblichen Dosissteigerungen über sehr kurze Zeiträume, Missbrauch und Suchtverhalten zu führen (4, 5). Die derzeit laufenden Studienprogramme, in denen schnellfreisetzende Fentanyle auf ihren Einsatz und eine mögliche Zulassung für chronische, nicht tumorbedingte Schmerzen überprüft werden, werden vor diesem Hintergrund äußerst kritisch gesehen.
Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzen: Es fehlen die richtigen Anreize
Auch ist sehr fraglich, ob das derzeitige Vergütungssystem insbesondere in der Therapie chronischer Schmerzen die richtigen Anreize setzt. Es sollte verändert werden, um eine leitliniengerechte Schmerztherapie zu ermöglichen: Während die medikamentöse Therapie mit Opioiden und invasive Therapieverfahren bei akuten Schmerzzuständen unbestritten einen hohen Stellenwert besitzen, ist sie als alleinige Therapie chronischer Schmerzen von Patienten ohne Tumorerkrankungen in aller Regel nicht indiziert (6–8). Vielmehr erfordert die moderne Therapie chronischer Schmerzen ein multiprofessionelles und multimodales Vorgehen (6, 7). Als interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie wird die gleichzeitige, inhaltlich und in der Vorgehensweise aufeinander abgestimmte umfassende Behandlung von Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen bezeichnet, in die verschiedene somatische, körperlich übende, psychologisch übende und psychotherapeutische Verfahren nach vorgegebenem Behandlungsplan eingebunden sind (7, 8). Die Behandlung wird von einem Therapeutenteam aus Ärzten einer oder mehrerer Fachrichtungen, Psychologen beziehungsweise Psychotherapeuten und weiteren Disziplinen wie Physiotherapeuten und Ergotherapeuten erbracht. Diese Behandlungsstrukturen sind derzeit nicht flächendeckend vorhanden.
Eine Verbesserung könnte die Aufnahme des chronischen Schmerzes und seiner Behandlung in die ambulante spezialärztliche Versorgung nach § 116 b des Versorgungsstrukturgesetzes bringen. Die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie umfasst alle Kennzeichen, die hier gefordert werden: besondere medizinische Kenntnisse und Erfahrungen, die deutlich über allgemeine Facharztqualifikationen hinausgehen, ein interdisziplinäres Team sowie besonders hohe Anforderungen an die Strukturqualität (8).
Ausbau der Versorgungsforschung
Die Datenbasis der vorliegenden Arbeit enthielt keine Angaben zum Verordnungsanlass – so konnte nicht ausgeschlossen werden, dass Tumorpatienten eine Opioidverordnung aufgrund eines nichttumorbedingten Schmerzes erhalten hatten. Ebenso ließen sich keine Aussagen zu stationären Therapien treffen. Diese Limitationen in der Aussagekraft der vorliegenden Studie machen deutlich, wie wichtig systematische Erhebungen solider Daten als Grundlage für eine epidemiologische Forschung sind. Datensätze wie die Qualitätsverbesserung in der postoperativen Schmerztherapie (QUIPS) und die Kerndokumentation Qualitätssicherung in der spezialisierten Schmerztherapie (KEDOQ Schmerz) können über Qualitätssicherungsmaßnahmen hinaus als Kerndatensätze in der Therapie akuter und chronischer Schmerzen verwendet werden (9, 10). Der Ausbau der Versorgungsforschung sollte in letzter Konsequenz zu einem Register für Schmerzforschung führen und durch die Wissenschafts- und Gesundheitspolitik in Deutschland aktiv unterstützt werden. Fehlversorgungen könnten so schneller erkannt, die Ursachen analysiert und Gegen- beziehungsweise Präventionsmaßnahmen gezielter eingeleitet werden.
Fazit: Divinum est sedare dolorem – et in primis nihil nocere!
Dem griechischen Arzt und Anatomen Galenos von Pergamon wird der Satz zugeschrieben: „Divinum est sedare dolorem“ („Es ist göttlich, den Schmerz zu lindern“). Er meinte damit, dass die Schmerzbehandlung eine Kunst sei, welche die Fähigkeiten eines Normalsterblichen oft übersteige. Die in der vorliegenden Arbeit getroffene Vermutung, dass sich der in anderen Ländern gezeigte Zusammenhang zwischen der Verordnungshäufigkeit von Opioiden der WHO-Stufe 3 und einer erhöhten Morbidität auch auf die Situation in Deutschland übertragen lässt, legt nahe, den Satz von Galenos mit einem Grundsatz zu verbinden, den die hippokratische Tradition ins Zentrum ihres Begriffs des moralisch geforderten ärztlichen Handelns stellt: „Primum nihil nocere“ („Zuerst einmal nicht schaden“).
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Wolfgang Koppert
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover
koppert.wolfgang@mh-hannover.de
Englische Überschrift: Blessèd Pain Relief
Zitierweise
Koppert W: Blessèd pain relief. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(4): 43–4.
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0043
@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
1. | Schubert I, Ihle P, Sabatowski R: Increase in opiate prescription in Germany between 2000 and 2010—a study based on insurance data. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(4): 45–51 VOLLTEXT |
2. | Portenoy RK, Hagen NA: Breakthrough pain: definition, prevalence and characteristics. Pain 1990; 41: 273–81. CrossRef MEDLINE |
3. | Mercadante S: What is the definition of breakthrough pain? Pain 1991; 45: 107–8. CrossRef MEDLINE |
4. | U.S. Food and Drug Administration: Safety alert for fentanyl buccal tablets. J Pain Palliat Care Pharmacother 2008; 22: 47. CrossRef MEDLINE |
5. | Passik SD, Messina J, Golsorkhi A, Xie F: Aberrant drug-related behavior observed during clinical studies involving patients taking chronic opioid therapy for persistent pain and fentanyl buccal tablet for breakthrough pain. J Pain Symptom Manage 2011; 41: 116–25. CrossRef MEDLINE |
6. | Scascighini L, Toma V, Dober-Spielman S, Sprott H: Multidisciplinary treatment for chronic pain: a systematic review of interventions and outcomes. Rheumatology 2008; 47: 670–8. CrossRef MEDLINE |
7. | Arnold B, Brinkschmidt T, Casser HR: Multimodale Schmerztherapie – Konzepte und Indikation. Schmerz 2009; 23: 112–20. CrossRef MEDLINE |
8. | Nagel B, Pfingsten M, Brinkschmidt T, et al.: Struktur- und Prozessqualität multimodaler Schmerztherapie. Schmerz 2012; 26: 661–6. CrossRef MEDLINE |
9. | Meissner W, Mescha S, Rothaug J, Zwacka S, Goettermann A, Ulrich K, Schleppers A: Quality improvement in postoperative pain management: results from the QUIPS project. Dtsch Arztebl Int 2008; 105: 865–70. VOLLTEXT |
10. | Casser HR, Hüppe M, Kohlmann T, Korb J, Lindena G, Maier C, Nagel B, Pfingsten M, Thoma R: Deutscher Schmerzfragebogen (DSF) und standardisierte Dokumentation mit KEDOQ-Schmerz. Schmerz 2012; 26: 168–75. CrossRef MEDLINE |