ArchivDeutsches Ärzteblatt4/2013Tamiflu: Eine unendliche Geschichte um Datentransparenz

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Tamiflu: Eine unendliche Geschichte um Datentransparenz

Meyer, Rüdiger

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Die Cochrane Collaboration und das britische Ärzteblatt werfen Roche-Pharma vor, Daten zu seinem Grippemedikament zurückzuhalten und dadurch eine unabhängige Bewertung zur Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels zu erschweren.

Der Neuraminidasehemmer Tamiflu hemmt die Freisetzung von Influenzaviren aus infizierten Zellen.Foto: picture alliance
Der Neuraminidasehemmer Tamiflu hemmt die Freisetzung von Influenzaviren aus infizierten Zellen.
Foto: picture alliance

Wegen seiner Weigerung, der Cochrane Collaboration Daten zu unveröffentlichten Studien zur Verfügung zu stellen, steht das Unternehmen Roche als Hersteller des Neuraminidasehemmer Oseltamivir (Tamiflu®) seit längerem in der öffentlichen Kritik. Aber auch die Regierungen vieler Länder müssen sich retrospektiv fragen (lassen), ob die Grundlagen für die Bevorratung mit dem Grippemittel für den Fall einer Pandemie evidenzbasiert waren.

Um für Vogelgrippe (2005) und Neue Influenza (2009) gewappnet zu sein, sollen Regierungen weltweit Tamiflu im Wert von acht Milliarden US-Dollar gehortet haben. Auf dem Höhepunkt der Pandemieangst überboten sich die einzelnen Länder mit der Bereitschaft, ihre Bevölkerung zu schützen. Für Roche wurde Tamiflu zum Verkaufsschlager – für die Regierungen zum Ladenhüter. Denn die Angst hat sich zweimal als unbegründet erwiesen: An der Vogelgrippe sind weltweit 258 Menschen gestorben, und mit einer Letalitätsrate von 0,1 Prozent ist auch die Neue Influenza mild verlaufen. Tamiflu wurde nicht benötigt. Bei einer Haltbarkeit von sieben Jahren steht in absehbarer Zeit die Vernichtung der Vorräte an.

Je besser, je früher?

Die Frage dreht sich allerdings längst nicht mehr darum, wie es zu der Fehleinschätzung der beiden Pandemien kam, sondern darum, ob Tamiflu im Bedarfsfall überhaupt von Nutzen gewesen wäre. Die Frage erscheint berechtigt, weil die Wirksamkeit von Oseltamivir bereits bei seiner Einführung als niedrig eingestuft wurde. In den beiden Studien, die im Oktober 1999 in den USA und im Juni 2002 in Europa zur Zulassung führten, wurde eine Verkürzung der Erkrankungsdauer um lediglich 1,3 Tage erzielt, wenn das Medikament über fünf Tage eingenommen wurde. Hinzu kommt allerdings eine schwer messbare Milderung des Krankheitsverlaufs.

Die Studien belegten aber auch, dass der Neuraminidasehemmer, der die Freisetzung von Influenzaviren aus infizierten Zellen hemmt, umso besser wirkt, je früher die Therapie begonnen wird respektive wenn er vorbeugend eingenommen wird. In Studien senkte Tamiflu die Infektionsrate bei ungeimpften Erwachsenen von fünf auf ein Prozent und bei älteren Pflegeheimbewohnern von vier auf weniger als ein Prozent. In einer Studie zur Postexpositionsprophylaxe von Haushaltskontakten wurde die Inzidenz der bestätigten Influenza von zwölf auf ein Prozent gesenkt.

Die prophylaktische Anwendung wurde in den USA im November 2000 in die US-Fachinformation aufgenommen. In Deutschland gehörte sie bei der Einführung im Oktober 2002 neben der Therapie der Influenza zu den zugelassenen Indikationen.

Umstritten ist, ob Tamiflu die Komplikationen der Erkrankung verhindern kann. Bei einer schweren Grippe geht die Gefahr häufig weniger von den Viren aus als von Superinfektionen der unteren Atemwege. Bakterielle Pneumonien sind eine häufige Todesursache nach Influenza. Dass Tamiflu dieser Komplikation vorbeugt, konnte in den Zulassungsstudien nicht gezeigt werden. Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) hat den Hersteller im Jahr 2000 sogar wegen entsprechender unbelegter Marketingaussagen abgemahnt. Seither steht in den US-Fachinformationen der ausdrückliche Hinweis, dass für Tamiflu eine Prävention von Komplikationen durch schwere bakterielle Infektionen nicht belegt ist.

Ein erstaunliches Ergebnis

Eine mit Unterstützung von Roche erstellte Metaanalyse, die drei Jahre später in den „Annals of Internal Medicine“ (2003; 163: 1667–72) publiziert wurde, ließ anderes vermuten. Laurent Kaiser vom Universitätsspital Genf kam dort zu dem Ergebnis, dass Tamiflu bei Patienten mit nachgewiesener Influenza den Antibiotikagebrauch um (relativ) 27 Prozent senkt – bei Risikopatienten sogar um 34 Prozent – und die Hospitalisierungsrate um 59 Prozent. Für ein Medikament, das in den Zulassungsstudien nur eine bescheidene Wirkung erzielt hatte, war dies ein erstaunliches Ergebnis.

Die Metaanalyse von Kaiser erwies sich – außer bei der FDA – als einflussreich. Denn angesichts der drohenden Vogelgrippe wurde dringend nach Gegenmitteln gesucht. Eine Leitlinie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Einsatz von Impfstoffen und antiviralen Medikamenten in einer Influenza-Pandemie aus dem Jahr 2004 zitierte die Metaanalyse als Beleg für eine Wirksamkeit von Tamiflu. Das US-Gesundheitsministerium berief sich im selben Jahr in seinem Pandemieplan ebenfalls auf Kaiser.

Andere Industrieländer (darunter Deutschland) folgten, und ab 2005 wurden so große Mengen Tamiflu geordert, dass Roche mit der Produktion kaum nachkam (und später die Produktion an indische Firmen lizenzierte). Wegen der Presseberichte stieg auch die Nachfrage in der Bevölkerung. In Deutschland kam es erstmals 2005 zu einem Verordnungsboom; ein zweiter folgte 2009, als die Neue Influenza als Bedrohung empfunden wurde.

Auch die Cochrane Collaboration übernahm anfangs die Daten von Kaiser unkritisch. Tom Jefferson vom Cochrane Vaccines Field in Alessandria/Piemont und Mitarbeiter errechneten im „Lancet“ (2006; 367: 303–13), dass Oseltamivir die Rate von Infektionen der unteren Atemwege um nicht weniger als 68 Prozent (Odds Ratio 0,32) senkte. Die Einschätzung beruhte fast ausschließlich auf den Daten der Metaanalyse von Kaiser. Hier hatten offenbar Metaanalytiker von Metaanalytikern abgeschrieben, ohne dass dies zunächst aufgefallen war.

Beginn der Tamiflu-Affäre: Im Dezember 2009 forderte BMJ-Chefredakteurin Fiona Godlee Einblick in nichtpublizierte Studien und Dokumente zu einzelnen Patienten.
Beginn der Tamiflu-Affäre: Im Dezember 2009 forderte BMJ-Chefredakteurin Fiona Godlee Einblick in nichtpublizierte Studien und Dokumente zu einzelnen Patienten.

Inzwischen war die Vogelgrippepandemie ausgeblieben, und in den Medien, die inzwischen vom „Tamiflu-Fieber“ genesen waren, wurde zunehmend die Frage gestellt, ob die Bevorratung mit dem Arzneimittel gerechtfertigt war. Es ging auch um die Frage, was mit den angeschafften Medikamenten geschehen könnte. Eine Möglichkeit bestünde darin, sie zur Behandlung der saisonalen Grippe zu verwenden. Davon rieten Jefferson et al. in einer weiteren Metaanalyse ab (Cochrane Database Syst Rev 2006: CD001265). Wegen der geringen Wirksamkeit und der Nebenwirkungen sollten Neuraminidasehemmer nicht regelmäßig gegen die saisonale Grippe eingesetzt werden, urteilten sie.

Für Aufsehen sorgten jetzt auch seltene, aber spektakuläre neuropsychiatrische Nebenwirkungen von Tamiflu. Nachdem in Japan zwei Teenager nach der Einnahme des Präparats aus dem Fenster gesprungen beziehungsweise vor ein Auto gelaufen waren, rieten die dortigen Behörden von der Anwendung bei Jugendlichen ab. Die FDA recherchierte insgesamt zwölf pädiatrische Todesfälle in Japan, wo Tamiflu ungleich häufiger als in anderen Ländern zur Prophylaxe oder Behandlung der Influenza eingesetzt wurde.

H1N1 löst Angstwelle aus

Zu einer zunehmend kritischen Bewertung trugen auch Berichte über Tamiflu-Resistenzen bei. Das European Centre for Disease Prevention and Control teilte 2008 mit, dass der Anteil der resistenten Virusstämme von ein auf 14 Prozent gestiegen sei. In den USA waren in der Saison 2008/2009 sogar 98,5 Prozent Influenza-A-Viren resistent gegen Oseltamivir (JAMA 2009; 301: 1034–41). Im weiteren Verlauf des Jahres löste die Neue Influenza H1N1 eine neue Angstwelle aus. Die WHO erklärte im Juni den Beginn einer Pandemie, und die Generaldirektorin Margaret Chan freute sich über die Zusage von Roche, die fünf Millionen Packungen Tamiflu an die ärmeren Länger spenden wollten. In den Industrieländern wurde erneut befürchtet, dass die Vorräte nicht reichen könnten.

Jetzt wandte sich der japanische Pädiater Keiji Hayashi an die Cochrane Collaboration. Er wies darauf hin, dass von den zehn Studien, die Kaiser et al. ihrer Metaanalyse zugrunde gelegt hatten, nur zwei in Gänze publiziert waren. Die anderen waren allenfalls als Abstract auf Kongressen vorgestellt worden. Jefferson musste erkennen, dass seine Publikation im „Lancet“ in diesem Punkt wohl etwas oberflächlich gewesen war. Der Cochrane-Experte wollte den Fehler korrigieren. Für eine erneute Metaanalyse bemühte sein Team sich bei Kaiser und Roche um weitere Daten – vergeblich.

Im Dezember 2009 publizierte das Team eine erneute Metaanalyse im „British Medical Journal“ (BMJ 2009; 339: b5106). Dieses Mal unter Ausschluss der acht nichtpublizierten Studien. Nur aufgrund der beiden veröffentlichten Studien lasse sich nicht nachweisen, dass Tamiflu schwere Verläufe der Grippe verhindern könne, schrieben sie. Auch die prophylaktische Wirkung wurde jetzt bezweifelt. Die Studien hätten nur einen Schutz vor einer labormedizinisch bestätigten Influenza dokumentiert, nicht aber gegen die Gesamtgruppe grippeartiger Erkrankungen, lautet der Einwand. Im Fall einer Epi- oder Pandemie würde jedoch nur selten zwischen einer labormedizinisch bestätigten Influenza und einer grippeartigen Erkrankung unterschieden.

Im Vorfeld der Metaanalyse kam es dann zum Zerwürfnis mit Roche. Die Firma hatte zwar 3 195 Seiten Studiendaten zum Download bereitgestellt. Doch bereits in der Übersicht habe sich gezeigt, dass die Berichte unvollständig waren, kritisiert das Cochrane-Team. Roche beklagte sich gegenüber dem BMJ darüber, dass sie zunächst vom britischen Fernsehsender Channel 4 News kontaktiert wurden und nicht von Jefferson, der doch lange als Berater auf einer Ad-hoc-Basis für Roche tätig gewesen sei. Jefferson kritisierte, dass Roche die weitere Einsicht in Patientendaten an die Unterzeichnung einer Verschwiegenheitsverpflichtung gebunden habe. Und selbst die Existenz dieser Verpflichtung musste geheim bleiben. Das „British Medical Journal“ schlug sich auf die Seite des Cochrane-Teams. Unter dem Titel „Die Wahrheit über Tamiflu?“ wurde im Dezember 2009 eine Artikelserie publiziert. Die BMJ-Chefredakteurin Fiona Godlee forderte dort nicht nur Einblick in nichtpublizierte Studien, sondern auch in die „Rohdaten“. Gemeint sind die Dokumente zu den einzelnen Patienten.

Roche beauftragt Prüfung

Dies war der Beginn der Tamiflu-Affäre, die bis heute anhält und dabei immer weitere Kreise zieht. Roche reagierte nicht weiter auf die Forderungen von BMJ und Jefferson und beauftragte statt dessen Epidemiologen der Harvard School of Public Health in Boston mit einer Prüfung der Metaanalyse. Die Autoren Miguel Hernan und Marc Lipsitch betonten in ihrer Publikation, sie hätten einen vollen Zugriff auf die Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit erhalten sowie die Zusicherung, „jegliche Ergebnisse“ zu publizieren.

Ihre kurze Publikation in „Clinical Infectious Diseases“ (2011; 53: 277–9) bestätigte im Wesentlichen die Ergebnisse von Kaiser: Danach reduziert Oseltamivir tatsächlich die Rate von Infektionen der unteren Atemwege, die den Einsatz von Antibiotika erfordern, insgesamt um 28 Prozent. Bei den Patienten mit bestätigter Influenza wurde sogar eine Reduktion um 37 Prozent errechnet. In beiden Fällen war das Ergebnis statistisch signifikant.

Das Cochrane-Team beharrte weiter auf die Einsicht in die Rohdaten und wandte sich im Januar 2011 an die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA). Das Ergebnis der Anfrage war ein „Datadump“: Die EMA schickte dem Cochrane-Team 25 453 Seiten mit Rohdaten zu 19 klinischen Studien. Jefferson und sein Assistent Peter Doshi von der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore mussten erkennen, dass allein die Sichtung des Materials ihre zeitlichen Kapazitäten bei weitem überschreitet. Unabhängige Metaanalytiker waren als Zweimannbetrieb nicht der Lage, die Arbeit von staatlichen Arzneimittelbehörden zu bewältigen.

Ihr jüngster Versuch einer Metaanalyse (Stand Oktober 2012) musste erneut auf die gewünschten Rohdaten vom Hersteller Roche verzichten – und bot inhaltlich deshalb auch nichts Neues: Oseltamivir verkürze die Dauer der Influenza lediglich um 21 Stunden, so das Team um Jefferson. Eine Auswirkung auf Hospitalisierungen lasse sich nicht erkennen.

Auf eine Beurteilung des Konkurrenzprodukts Relenza (Wirkstoff Zanamivir) wurde erstmals verzichtet. Der Hersteller Glaxosmithkline hatte kurz zuvor versprochen, alle Rohdaten zu Relenza zur Verfügung zu stellen. Relenza spielte allerdings aufgrund der fehlenden oralen Verfügbarkeit außerhalb von Kliniken keine Rolle. Die Verordnungen waren minimal.

Inzwischen versuchte Godlee, öffentlichen Druck aufzubauen. Ende Oktober hat sie zusammen mit 27 weiteren Unterzeichnern in einem offenen Brief in der „Times“ für ihre „open data campaign“ geworben. Mit anfänglichem Erfolg. Einige Abgeordnete des britischen Parlaments fragten sich ohnehin, wieso die Regierung 500 Millionen Pfund für die unnötige Lagerung von Tamiflu ausgeben konnte, wenn von Anfang an Zweifel an der Wirksamkeit bestanden hätten und viele zu Tamiflu durchgeführte Studien niemals publiziert wurden.

Roche versuchte inzwischen einzulenken. Die Einsetzung einer Expertenrunde unter Beteiligung der Cochrane Collaboration wurde angekündigt. Diese scheinen aber weiterhin auf der Veröffentlichung aller Rohdaten zu bestehen – auch auf die Gefahr hin, sie aus Zeitmangel gar nicht analysieren zu können. Auch die EMA signalisierte die Bereitschaft, ab 2014 anonymisierte Rohdaten zur Verfügung zu stellen – allerdings nur für künftige Medikamente und nicht retrospektiv für Tamiflu.

Das britische National Institute of Clinical Excellence zeigt derzeit keine Bereitschaft, eine frühere Empfehlung zum Einsatz von Tamiflu aus dem Jahr 2003 zu überarbeiten. Eine dementsprechende Forderung von Godlee wurde im Dezember abgelehnt. Auch die EMA beharrt in ihrer Korrespondenz mit Jefferson auf ihrer bisherigen positiven Einstellung zu Tamiflu. Und die FDA hat dieser Tage sogar die Altersgrenze, ab der Kinder mit dem Grippemittel behandelt werden dürfen, von einem Jahr auf zwei Wochen gesenkt. Die EMA hatte den Einsatz bei Säuglingen schon früher erlaubt.

„open data campaign“

Ob sich das BMJ und Jefferson mit ihrer „open data campaign“ gegenüber Roche durchsetzen werden, bleibt abzuwarten. Schwer vorherzusagen ist auch, wie die Regierungen im Fall einer weiteren Pandemieangst reagieren würden. Für die Disziplin der Metaanalyse bedeutet die Affäre einen Entwicklungsschub. Die Verwendung von Rohdaten verspricht einen Qualitätssprung. Das BMJ hat angekündigt, künftig nur noch Studien zu veröffentlichen, wenn die Autoren für Metaanalysen Rohdaten zur Verfügung stellen. Ob andere Zeitschriften mitziehen werden, ist unklar.

Rüdiger Meyer

@Mehr Informationen im Internet:
www.bmj.com/tamiflu

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