ArchivDeutsches Ärzteblatt4/2013Von schräg unten: Pillen

SCHLUSSPUNKT

Von schräg unten: Pillen

Böhmeke, Thomas

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Unser wunderbarer Beruf lässt uns ganz nah am Menschen sein, seine Schmerzen verstehen, seine Sorgen hören und sein Leid teilen. Wie sonst ist es möglich, an Lösungswegen zu arbeiten und tiefe Befriedigung zu erlangen, wenn die Gesundung unsere Schutzbefohlenen wieder strahlen lässt? Ganz nah heißt auch, nicht nur die Freuden präventiver Maßnahmen wie Ergometrien oder Endoskopien zu teilen, sondern auch Tabletten zu schlucken. Mein Blutdruck hat jedenfalls beschlossen, sich über das normale Maß zu steigern, und so darf ich mit meinen Schutzbefohlenen das teilen, was manche abschätzig als Seniorenkonfekt etikettieren. Aber hier fühle ich mich in meinem Element, ich, der Dompteur der Dragees, der Titan der Tablette, der Profi der Pille!

Höchstens zwei Drittel aller produzierten Pillen werden ordnungsgemäß eingenommen, die übrigen bestenfalls dem Sondermüll überantwortet; eine Schande ist es, wie die kostbaren Mittel in der Gesundheitsversorgung so gedankenlos verschwendet werden! Ich aber gehe mit gutem Beispiel voran, ich, der unermüdliche Arbeiter für Adhärenz, der Protagonist der Persistenz! Also breite ich die bunten Packungen käuflich erworbener und zur Probe überlassener Blutdrucksenker auf meinem Schreibtisch aus und bereite meine Wochenration vor. Die kleinen Gelben dann morgens einmal in die obere Kästchenreihe und die ovalen Grünlichen in die obere und die untere Reihe . . . Wussten Sie eigentlich, dass man sich heutzutage nicht mehr von Geistesblitzen von Geistesgrößen wie Alexander Fleming abhängig macht, sondern dass es Molekülbibliotheken gibt, die Millionen Substanzen aus der Natur und der kombinatorischen Chemie enthalten? Oh, jetzt hätte ich doch beinahe die kleinen Gelben in das mittlere Kästchen getan, pardon . . ., und dass die Forschung und Entwicklung eines neuen Medikaments mehr als 800 Millionen US-Dollar verschlingt? Dass von 10 000 in der präklinischen Forschung evaluierten Wirkstoffen nur etwa fünf verbleiben, die Eingang in die klinische Forschung finden . . . Ah, verflixt, das kleine Gelbe ist doch das Gleiche wie das grüne Große, nur von einer anderen Generikafirma . . ., und dass von diesen fünf Präparaten es nur eine einzige Substanz bis zur Zulassung schafft? Und trotzdem bekommen wir Anwender pro Jahr gefühlte 50 Rote-Hand-Briefe! Nein, das grüne Runde war doch der Inhibitor, der gehört ganz oben in die Reihe . . ., ich muss mich besser konzentrieren . . ., und trotzdem die Gesellschaft gewaltige Summen investiert, um die Sicherheit von Medikamenten zu gewährleisten?

Verflucht, jetzt weiß ich nicht mehr, ob die gelben Runden den grünlichen Ovalen entsprechen, ich bin ganz durcheinander, genauso wie meine Tablettenhäufchen. Aber man muss sich vor Augen halten, dass in unserer schönen Republik jedes Jahr bis zu 16 000 Menschen sterben, weil Tabletten vertauscht worden sind, weil Wechselwirkungen nicht beachtet wurden. Daher muss ich, als Doktor der Medizin behaftet mit einer Vorbildfunktion, meine ganzen Tabletten dem Sondermüll überantworten und von vorne anfangen: Also die kleinen Gelben . . .

Dr. med. Thomas Böhmeke
ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote