ArchivDeutsches Ärzteblatt6/2013Tuberkulose: Indien trägt die größte Last
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Die Verteilung von Essensspenden an Tuberkulosekranke und die Transportkoordination sind Aufgaben, die vornehmlich NGOs übernehmen.
Die Verteilung von Essensspenden an Tuberkulose­kranke und die Transport­koordination sind Aufgaben, die vornehmlich NGOs übernehmen.

Jeder fünfte Patient, der an Tuberkulose stirbt, kommt aus Indien. Das Schwellenland nimmt eine Schlüsselposition im Kampf gegen diese Krankheit ein.

Auch im 21. Jahrhundert wird die globale Mortalitätsstatistik von den großen Seuchen dominiert. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) starben zu Beginn dieses Jahrhunderts drei Millionen Menschen jährlich an Aids und eine Millionen an Malaria. Die Tuberkulose (Tb) fordert jedes Jahr zwei Millionen Menschenleben, wobei jeder fünfte Tb-Tote aus Indien kommt. Zudem steigt die Zahl der Neuinfektionen weiter. Deshalb hängt der Erfolg der „Stop Tb“-Strategie der WHO, die das Ziel hat, die Tuberkulose bis 2050 weltweit zu eliminieren, wesentlich vom Erfolg Indiens im Kampf gegen die Tb ab (1). Die indische Regierung initiierte bereits 1996 mit Hilfe der WHO, der Weltbank und zahlreicher Nichtregierungsorganisationen (NGOs) das „Revised National Tuberculosis Control Program“ (RNTCP), das bisher größtenteils umgesetzt wurde (2). Im Folgenden wird das Programm vorgestellt und eine Zwischenbilanz gezogen.

Nationale Tb-Programme scheiterten zunächst

Nach einer wenig effektiven „Sanatoriumsphase“, in der Patienten monatelang stationär behandelt wurden, und der 1951 begonnenen und bis heute praktizierten, wenn auch umstrittenen BCG(Bacille-Calmette-Guérin)-Impfung startete die indische Regierung 1952 das erste „National Tuberculosis Program“ (NTP), eingebettet in den staatlichen Gesundheitsdienst (3). Das Programm scheiterte jedoch an organisatorischen Unzulänglichkeiten und mangelnder finanzieller Ausstattung. Inzidenz und Mortalität der Tb nahmen in den 35 Jahren seiner Laufzeit sogar zu (4). Nach einer Fehleranalyse wurde ein neues, auf der globalen WHO-Strategie basierendes „Revised National Tuberculosis Control Program“ (RNTCP) initiiert, das auf dem mikroskopischen Nachweis säurefester Stäbchen im Sputum und einer sechs- bis achtmonatigen ambulanten medikamentösen, überwachten Behandlung, dem Directly Observed Treatment, basiert.

Die kontrollierte Medikamenteneinnahme, directly observed therapy, ist Teil des Revised National Tuberculosis Control Program. Fotos: privat
Die kontrollierte Medikamenteneinnahme, directly observed therapy, ist Teil des Revised National Tuberculosis Control Program. Fotos: privat

Nach seiner landesweiten Implementierung hat sich das RNTCP mittlerweile mit mehr als 300 000 staatlichen Angestellten (Ärzten, Mikroskopie-Assistenten, Koordinatoren) zum weltweit größten Gesundheitsprojekt entwickelt. Es untergliedert 347 „Tb-Distrikte“ für jeweils 500 000 Einwohner mit einem „District Tb Officer“ an der Spitze. Die Distrikte bestehen aus mehreren „Tb-Einheiten“, jede für circa 500 000 Einwohner zuständig und von einem Arzt geleitet.

Auf 100 000 Einwohner kommt dazu ein „Microscopy Centre“. Etwa 400 000 Ashas und Anganwadi-Arbeiter, vergleichbar unseren Gemeindeschwestern, organisieren und überwachen die Therapie vor Ort. Das Programm wird zudem von Delhi aus koordiniert, von den 28 Bundesstaaten jedoch jeweils selbstständig durchgeführt. Die Kosten für die Erkennung und Behandlung der Tuberkulose liegen bei 50 Euro pro Patient, wobei die Personalkosten des RNTCP von der Regierung getragen werden. Medikamente und andere Sachmittel werden in erster Linie durch den „Global Fund“ finanziert (5). Weitere Aufgaben, wie Essensspenden und Transportkoordination, übernehmen NGOs.

Seit März 2006 erreicht das RNTCP die gesamte indische Nation. Die Bilanz nach 15 Jahren fällt positiv aus. Zwei wichtige Ziele des Programms wurden bereits 2007 erreicht: 1. die komplette Erfassung der indischen Bevölkerung und 2. eine 70-prozentige Aufdeckungsquote (1). Außerdem sank die Tb-Mortalität zwischen 1990 und 2009 von 42 auf 23 pro 100 000. Bis 2010 konnten 13 Millionen Tb-Kranke behandelt und circa 2,3 Millionen Menschenleben gerettet werden. Die Tb-Prävalenz halbierte sich, und auch die Inzidenzrate war gegenüber 1990 rückläufig (zur Tb-Prävalenz 2009 siehe auch Tabelle). Allerdings stieg die Gesamtzahl der neu aufgetretenen Tb-Fälle leicht, bedingt durch die rasante Zunahme der indischen Bevölkerung. Die Erfolge bei der Tb-Bekämpfung wurden so durch den Bevölkerungszuwachs wieder „aufgezehrt“.

Die Statistiken der WHO basieren auf den Angaben des RNTCP. Wer den Alltag bei der Betreuung Tb-Kranker vor Ort aus persönlicher Erfahrung kennt, weiß, dass nicht alle Zahlen einer genaueren Prüfung standhalten. Stichproben neutraler Beobachter bestätigen diesen Eindruck: Kontrollen des Sputums werden in nur 62 Prozent vorgenommen (6), die Dokumentation ist oft lückenhaft. Auch berücksichtigt die WHO-Statistik nur die im RNTCP registrierten Patienten, nicht aber die der privaten Gesundheitsanbieter und schon gar nicht die unentdeckten Fälle. Zusammengezählt sind das nach Schätzungen von Gesundheitsexperten noch einmal so viele Tb-Kranke, wie in der WHO-Statistik ausgewiesen (4).

Ernste Bedrohung ist eine Aids-Tb-Komorbidität

Die Ansteckung mit HIV erfolgt in Indien überwiegend heterosexuell, meist über Prostituierte. 2,39 Millionen Inder leben mit HIV/Aids, und jährlich kommen 120 000 Neuinfektionen hinzu. Menschen mit positivem HIV-Status, die mit Tb infiziert sind – und das sind nahezu alle Inder – haben ein bis zu 40-mal höheres Risiko, an Tb zu erkranken als HIV-negative. Umgekehrt findet man bei fünf Prozent der Tb-Fälle einen positiven HIV-Test. Die Komorbidität von Tb und Aids ist prognostisch ungünstig, so ist es nicht überraschend, dass Tb in Indien die häufigste Todesursache im Zusammenhang mit Aids ist (7, 8). Bei der Bekämpfung von HIV/Aids hat Indien in den letzten zehn Jahren bedeutsame Fortschritte erzielt: Jedermann kann sich in den staatlichen Ambulanzen unentgeltlich auf HIV testen und beraten lassen. Auch ist es gelungen, die beiden staatlichen Programme zur Bekämpfung von Tb und HIV/Aids zu vernetzen, so dass heute fast jeder Patient mit aktiver Tb auch auf HIV getestet und umgekehrt bei jedem HIV-Positiven nach Tuberkulose gefahndet wird (7).

Auch bei der MDR-Tuberkulose (MDR = „multidrug resistance“) trägt Indien mit geschätzten 90 000 Patienten pro Jahr die größte Last bei weltweit etwa einer halben Million Fälle. „Multidrug resistance“ bedeutet eine In-vitro-Resistenz gegenüber Rifampicin und Isoniazid. Von diesen MDR-Tb-Fällen sind wiederum zehn Prozent XDR-Tb-Fälle. Man spricht von „extensive drug resistance“ (XDR) bei weiteren Resistenzen. Die bis zu zwei Jahre dauernde und oft schlecht verträgliche Behandlung der MDR-Tb erfordert ein hohes Maß an Patientenmitarbeit, die Abbruchraten liegen bei bis zu 30 Prozent. Auch ist die Therapie sehr teuer, und nur ein Prozent der MDR-Tb-Patienten in Indien haben Zugang zu wirksamen Medikamenten (4, 9).

Eine wesentliche Ursache für Indiens hohe Tb-Last ist in den miserablen sozioökonomischen Verhältnissen vieler Menschen zu suchen. Während das Land wirtschaftlich prosperiert und politisch nach globaler Macht strebt, klafft die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander als je zuvor. Die Armut aber bringt gedrängtes Zusammenleben in schlecht belüfteten Behausungen mit sich und bedingt Mangelernährung. Die Folge: Die Tb breitet sich aus. 35 Prozent aller Kinder sind unter- und fehlernährt und damit immungeschwächt. Zudem sind Unwissenheit und Analphabetismus ein großes Hemmnis bei der Früherkennung und Behandlung der Tb. Auch geht der Familie bei Erkrankung des Hauptverdieners bis zu 40 Prozent des Einkommens verloren (10), ein wesentlicher Grund, weshalb die Tb-Therapie so oft abgebrochen wird.

Nur die Hälfte der Tb-Kranken nimmt an dem Programm teil

Nur die Hälfte der indischen Tb-Kranken partizipiert am RNTCP, viele Patienten gehen mit ihren Beschwerden zu privaten „Gesundheitsanbietern“ und werden dann von fachlich inkompetentem Personal behandelt. Ein Teil der Erkrankten behandelt sich selbst und kauft Tb-Medikamente ohne Rezept beim Apotheker, obwohl die Tb-Medikamente vom RNTCP unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden. 2006 gaben die Patienten immerhin 70 Millionen US-Dollar für Medikamente aus. Dieses paradoxe Verhalten geht zurück auf ein tief verwurzeltes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem staatlichen Gesundheitsdienst.

Die Tb-Therapie in der freien Praxis ist jedoch weitgehend ungeregelt. Eine standardisierte Kurzzeittherapie nach WHO-Kriterien gibt es so gut wie nicht. In einer kürzlich publizierten Studie aus Mumbai gaben 106 befragte Ärzte 63 unterschiedliche Therapieregime an, nur sechs Verschreibungen waren korrekt (4). Wie viele arme Länder hat auch das Schwellenland Indien lange Zeit die Tb als zentrales Problem der Gesundheitspolitik vernachlässigt und sich auf die Hilfe der Völkergemeinschaft verlassen. Allein der Global Fund hat in den letzten zehn Jahren mehr als 22 Milliarden US-Dollar weltweit in die Bekämpfung der drei „world’s top killer“ Aids, Tb und Malaria investiert. Auch Indien hat von der internationalen Solidarität profitiert. Im November 2011 allerdings hat der Vorstand des Global Fund die elfte Finanzierungsrunde, die bereits mit 1,55 Milliarden US-Dollar budgetiert war, gestoppt. Als Begründung wurden Betrug und Korruption in einigen Ländern angegeben, Indien wurde nicht genannt (11). Das sogenannte Global Fund Round 11 Cancellation Fiasco bedeutet damit einen herben Rückschlag im weltweiten Kampf gegen die großen Seuchen. Gleichwohl birgt es auch eine Chance. Schwellenländer wie Indien können jetzt beweisen, dass sie es auch mit eigener Kraft schaffen. Die Voraussetzungen sind günstig: Die Struktur des RNTCP hat sich bewährt. Seine weitere Finanzierung hängt nun vom politischen Willen der Regierung ab. Bei einer nach wie vor florierenden Wirtschaft mit einem stetig wachsenden Bruttoinlandsprodukt – sechs bis 9,3 Prozent im letzten Jahrzehnt – sollte dies gelingen. Ein ermutigendes Beispiel könnte die erfolgreiche Ausrottung der Kinderlähmung in Indien im Jahr 2011 sein (5, 1214).

Prof. Dr. med. Nikolaus Konietzko,
Dr. med. Cornelia Krause,
Dr. med. Dr. h. c. Heinz-Horst Deichmann

@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit0613

1.
WHO Report: Global Tuberculosis Control. Epidemiology, Stratetgy and Financing. Geneva: World Health Organisation 2010.
2.
Sandhu KS: Tuberculosis: Current Situation, Challenges and Overview of its Control Programs in India. J Glob Infect Dis 2011; 3: 143–50. CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.
Kaufmann SH: Fact and fiction in tuberculosis vaccine research: 10 years later. Lancet Infect Dis 2011 Aug; 11(8): 633–40. Review. CrossRef MEDLINE
4.
Bhargawa A, Pinto L, Pai M: Mismanagement of tuberculosis in India: Causes, consequences, and the way forward. Hypothesis 2011; 9: e7.
5.
Tb India: RNTCP Annual Status Report, 2009. Ministry of Health and Family Welfare, New Delhi 2011.
6.
Satyanarayana S, Nagaraja SB, Kelamane, et al.: Did successfully treated pulmonary tuberculosis patients undergo all follow-up sputum smear examinations? Public Health Action 2011; 1: 27–9. CrossRef
7.
National AIDS Control Organisation. Annual Report 2009–10. Ministry of Health and Family Welfare, New Delhi 2010.
8.
Castell S, Hauer B, Brodhun B, Haas W: Epidemiologie der Tuberkulose. Pneumologe 2011; 8: 9–16. CrossRef
9.
Loddenkemper R, Hauer B: Resistente Tuberkulose: Große Herausforderung durch eine Weltepidemie. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(1–2): 10–9. VOLLTEXT
10.
Rajeswari R, Balasubramanian R, Muniyandi M, Geetharamani S, Thresa X, Venkatesan P: Socio-economic impact of tuberculosis on patients and family in India. Int J Tuberc Lung Dis 1999, 3: 869–77. MEDLINE
11.
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14.
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14.Central Tuberculosis Division, Ministry of Health and Family Welfare: DOTS Plus guidelines. New Delhi, India: Directorate General of Health Services, Ministry of Health and Family Welfare, Government of India, 2010.

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