

Ärzte und Therapeuten warnten in einer Titelgeschichte des Magazins „Der Spiegel“ vor kurzem vor der Pathologisierung von Verhaltensweisen, die in anderen Zeiten – oder auch in anderen Kulturen – als durchaus normal gelten. Der Artikel „Wahnsinn wird normal“ (Heft 4/2013) befasst sich damit, wie neue Kriterien im DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) Menschen in psychisch Kranke verwandeln könnten, die an „Alltagsproblemen“ leiden. Das Manual erscheint im Mai.
Verhaltenssüchte oder „nicht stoffgebundene Süchte“ hat der „Spiegel“-Artikel ausgeklammert. Aber auch hier warnte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) anlässlich ihres Hauptstadtsymposiums Ende Februar vor einem „inflationär ausgeweiteten Suchtbegriff“. Nicht jede Leidenschaft bedeute Abhängigkeit. Von Sucht solle nur gesprochen werden, wenn ein ausgeprägter Leidensdruck bestehe und neben Kriterien wie übermäßigem Verlangen, Kontrollminderung und Entzugserscheinungen der Betroffene ganz basale Dinge wie Nahrungsaufnahme oder Körperpflege vernachlässige. Ein Zustand also, der als Störungsbild verstanden wird und durch die Aufnahme in die Diagnosesysteme therapeutische Leistungen ermöglicht.
Prof. Dr. med. Andreas Heinz, Berlin, weist darauf hin, dass eine Pathologisierung individueller Verhaltensweisen aufgrund ihrer sozialen Unerwünschtheit indes vermieden werden müsse. Heinz ist Mitglied einer neuen „Task Force“ der DGPPN, die sich verstärkt fachlich mit Verhaltenssüchten befassen will. Eine Gesellschaft solle sich immer wieder mit den eigenen Konventionen auseinandersetzen, die festlegen, was normal und was pathologisch sei, fordert der Psychiater. Exzessives Sexualverhalten, pathologisches Kaufen und exzessives Essverhalten seien im neuen DSM-V nicht als Verhaltenssüchte aufgenommen worden, weil objektivierbare Kriterien fehlten – wenngleich dieses Verhalten in Einzelfällen Suchtcharakter annehmen könne. Pathologisches Glücksspielen hingegen wird nach Angaben der DGPPN im DSM-V künftig den Verhaltenssüchten zugeordnet, den „Substance Use and Behavioral Disorders“. Bislang galt Glücksspielen in den Klassifikationssystemen als Störung der Impulskontrolle. Doch neue wissenschaftliche Erkenntnisse lassen für Fachleute eine größere Überschneidung mit den Kriterien für Substanzabhängigkeit erkennen. Deshalb wird das pathologische Spielen den Suchterkrankungen zugeordnet. Außerdem wird die Internet Gaming Disorder als Forschungsdiagnose in den Anhang des DSM-V aufgenommen.
Die WHO soll in der Revision der International Classification of Diseases (ICD)-11, die für 2015 geplant ist, noch einen Schritt weitergehen und neben Glücksspielsucht eine Sammelkategorie „Weitere Verhaltenssüchte“ einführen. Dort werde auch die Internet Gaming Disorder Eingang finden. Hinsichtlich der Internetsucht sind sich die Experten allerdings einig, dass auch die Abhängigkeit von sozialen Netzwerken wie Facebook intensiver untersucht werden müsse.
Weitere Forschung zu Verhaltenssüchten ist erforderlich, und möglichst eine Förderung aus öffentlichen Mitteln. Zudem sind spezifische Suchtberatung und Therapie nötig. Denn Leidenschaft muss nicht unbedingt Leiden schaffen.
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