Medizin
Management von Nadelstichverletzungen
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Zusammenfassung
Jährlich ereignen sich in Europa schätzungsweise 1 Million Nadelstichverletzungen (NSV). Die EU-Richtlinie 2010/32 zur Vermeidung von NSV legt Mindestanforderungen zur Prävention fest und verlangt die Implementierung lokaler, nationaler und europaweiter Meldesysteme. Die Richtlinie ist von allen Mitgliedstaaten der EU bis spätestens 11. Mai 2013 umzusetzen. Ziel der vorliegenden Studie waren die Evaluierung und Optimierung des Melde- und Betreuungskonzeptes nach NSV an einem Klinikum der unabdingbaren Notfallversorgung.
Summary
Die Autoren führten eine prospektive beobachtende Studie zu Meldeverfahren und Inzidenz von NSV, Infektiosität der Indexpatienten, postexpositionellen Maßnahmen sowie serologischen Untersuchungen von betroffenen Mitarbeitern während eines 18-monatigen Beobachtungszeitraums durch.
An estimated 1 million needlestick injuries (NSIs) occur in Europe each year. The Council Directive 2010/32/EU on the prevention of NSIs describes minimum requirements for prevention and calls for the implementation of local, national and Europe-wide reporting systems. The Directive is to be implemented by all EU member states by 11 May 2013. The purpose of this study was to assess (and improve) the procedures for the reporting and treatment of needlestick injuries in a German tertiary-care hospital.
We carried out a prospective observational study of the NSI reporting system in the hospital over a period of 18 months and determined the incidence of NSIs, the prevalence of blood-borne pathogens among index patients, the rate of initiation of post-exposure prophylaxis, and the rate of serological testing of the affected health care personnel.


Nach Schätzungen der „Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz“ kommt es in Europa jedes Jahr zu schätzungsweise 1 Million Nadelstichverletzungen (NSV). NSV bedeuten für die Betroffenen eine ernst zu nehmende Gefährdung gegenüber den blutübertragbaren Infektionen Hepatitis B (HBV), Hepatitis C (HCV) und HIV. Folgeuntersuchungen nach NSV sind sowohl für den betroffenen medizinischen Beschäftigten als auch für die betreuten Patienten wichtig, um etwaige nosokomiale Infektionen zu verhindern beziehungsweise Infektionsübertragungen möglichst früh zu erkennen.
Die im Juni 2010 veröffentlichte EU-Direktive 2010/32/EU enthält Regelungen zur Vermeidung von Verletzungen durch scharfe/spitze Instrumente im Krankenhaus- und Gesundheitssektor und legt Mindestanforderungen zur Prävention fest. Sie ist von allen Mitgliedstaaten der EU bis spätestens 11. Mai 2013 auf nationaler und lokaler Ebene umzusetzen. Die neue EU-Richtlinie erfordert in den Mitgliedstaaten Änderungen an bestehenden Gesetzen und Verordnungen. In Deutschland ist beispielsweise eine Überarbeitung der Biostoffverordnung und der Technischen Regel für Biologische Arbeitsstoffe (TRBA 250) erforderlich. Die EU-Richtlinie verlangt zum Beispiel die Implementierung lokaler, nationaler und europaweiter Meldesysteme, um die epidemiologische Erfassung und Bewertung von NSV zu verbessern. Vor dem Hintergrund einer erheblichen Dunkelziffer nichtgemeldeter NSV („underreporting“-Raten von 20–90 % sind in der Literatur beschrieben worden [3]) erwartet man von einem verbesserten Meldesystem wichtige präventive Ansätze.
Ziel der vorliegenden Studie am Universitätsklinikum Frankfurt/Main war die Evaluation und die Bestimmung der Häufigkeit der beim Durchgangsarzt (D-Arzt) gemeldeten NSV, um so einen infektionsepidemiologischen Überblick über die Krankheitslast durch NSV zu erhalten.
Durchgangsärzte sind in Deutschland für die Behandlung von Arbeits- und Wegeunfällen von den Berufsgenossenschaften und Unfallkassen zugelassene Ärzte, die das Heilverfahren mit einer besonderen Verpflichtung als Vertreter des Unfallversicherungsträgers steuern. Das Meldeverfahren des Universitätsklinikums wurde vor dem Hintergrund der neuen EU-Direktive im Beobachtungszeitraum hinsichtlich der Zeitdauer des Meldeprozesses und der Einleitung postexpositioneller Maßnahmen evaluiert.
Ergebnisse und Diskussion
Nahezu jeder fünfte Indexpatient am Universitätsklinikum Frankfurt wies eine durch Blut übertragbare Infektion auf. Diese zunächst unerwartet hohe Infektionszahl (Seroprävalenz von HIV, HCV, HBV in der deutschen „Normalbevölkerung“: 0,05–0,7 %) deckt sich jedoch mit Angaben in der internationalen Literatur. Daten aus der Schweiz belegen, dass 12,3 % der untersuchten Indexpatienten HCV-positiv, 6,5 % HIV-positiv und 2,2 % HBV-positiv waren (14). In einem Universitätsklinikum in den USA waren 26 % der Traumapatienten und 24 % der Nicht-Traumapatienten HIV-positiv. Ähnliche Daten konnten bereits 1992 in einer amerikanischen Notaufnahme dokumentiert werden: Hier wiesen 24 % der untersuchten Patienten mindestens eine durch Blut übertragbare Infektion auf.
In einer Studie der eigenen Arbeitsgruppe wurden bereits in der Vergangenheit erhöhte Infektionsraten der Pati
Interessanterweise konnten die Autoren der vorliegenden Untersuchung in ihrer Seroprävalenzstudie aus den Jahren 2005–2007 eine etwas höhere HBV-Prävalenz (5,3 %) als bei den nun untersuchten Indexpatienten (3,6 %) nachweisen. Gegebenenfalls kommt hier die zunehmende Hepatitis-B-Durchimpfung der Bevölkerung zum Tragen.
NSV bei bekannt infektiösen Patienten beziehungsweise Hochrisikopatienten werden sicher häufiger gemeldet, jedoch werden auch NSV bei bekanntermaßen infektiösen Indexpatienten oftmals nicht gemeldet. So zeigte sich in einer amerikanischen Multicenterstudie bei Chirurgen, dass 99 % der Chirurgen während der Weiterbildung mindestens eine NSV erlitten hatten. 53 % dieser NSV fanden bei einem Hochrisikopatienten statt, insgesamt 16 % der Blutkontakte wurden nicht gemeldet. Wenngleich verlässliche Zahlen zum Meldeverhalten fehlen, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass NSV bei bekannt infektiösen Patienten konsequenter gemeldet werden. Beispielsweise zeigte sich in eigenen Daten aus den Jahren 2006/2007, dass mehr als die Hälfte der Beschäftigten ihre NSV nicht melden. Im Vergleich zu dem „underreporting“ bei infektiösen Indexpatienten (16 %) ist dies eine ungefähr dreimal so hohe Rate, die sich in der Folge in den Infektionsraten der Indexpatienten widerspiegelt.
Auch Indexpatienten können unter Umständen von ihrer Blutuntersuchung profitieren. Im Studienzeitraum wurden zwei Erstdiagnosen von Hepatitisvirusinfektionen gestellt. Beide Patienten konnten einer entsprechenden Therapie ihrer Hepatitisvirusinfektion zugeführt werden.
Interessanterweise wurden in der vorliegenden Studie NSV bei bekannt infektiösen Patienten nicht schneller gemeldet als bei Indexpatienten mit unbekanntem beziehungsweise negativem Infektionsstatus. Die Mitarbeiter stellten sich durchschnittlich erst 2,5 Stunden nach ihrer NSV beim D-Arzt vor. Eine HIV-PEP ist allerdings nur innerhalb eines begrenzten, jedoch nicht exakt definierbaren Zeitfensters nach Exposition sinnvoll. Experimentelle Untersuchungen zeigen eine Anlagerung des HI-Virus an die Wirtszelle innerhalb von zwei Stunden nach Exposition. Generell gilt, dass eine HIV-PEP so schnell wie möglich erfolgen sollte.
Die Verträglichkeit der antiretroviralen Medikation im Rahmen einer PEP bei HIV-negativen Mitarbeitern unterscheidet sich interessanterweise von der Verträglichkeit im Rahmen einer HIV-Behandlung. Weniger als 10 % der Mitarbeiter des eigenen Studienkollektivs gaben an, die PEP gut vertragen zu haben. Ähnliche Daten wurden bereits im Jahr 2000 von einer italienischen Arbeitsgruppe publiziert. Mehr als 70 % der medizinischen Beschäftigten, die eine HIV-PEP einnahmen, klagten über Nebenwirkungen; wohingegen nur 11,1 % der HIV-positiven Patienten mit der gleichen Medikamentenkombination Nebenwirkungen angaben.
Weibliche Beschäftige des eigenen Studienkollektivs vertrugen die PEP schlechter als die männlichen Kollegen, wobei der Unterschied statistisch nicht signifikant war.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine französische Studie. Eine gute Verträglichkeit ist jedoch die Voraussetzung, dass die PEP konsequent über die empfohlenen 28 Tage eingenommen wird. Ältere Modellrechnungen belegen eine Risikoreduktion der HIV-Transmission durch die HIV-PEP um 81 % (95-%-KI: 48–94 %). Fallberichte von HIV-Infektionen nach beruflich bedingten Blutkontakten trotz konsequenter PEP-Einnahme wurden beschrieben. Eine systematische Analyse, die Originaldaten großer Studienkollektive erhält, wurde bisher jedoch noch nicht publiziert.
Resümee
Statistisch gesehen ist das Risiko einer Infektionsübertragung nicht groß; die Konsequenzen einer Virustransmission sind jedoch schwerwiegend. Deswegen sollte jede Nadelstichverletzung gemeldet werden. Alle Krankenhäuser sollten dazu über ein suffizientes und leicht zugängliches Melde- und Behandlungsregime verfügen, das 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr verfügbar ist. Die Umsetzung der EU-Direktive 2010/32/EU wird dabei zu einem verbesserten Arbeitsschutz der medizinischen Beschäftigten führen.
Anschrift für die Verfasser:
PD Dr. med. Sabine Wicker, Betriebsärztlicher Dienst, Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Theodor-Stern-Kai 7, 60590 Frankfurt am Main, Sabine.Wicker@kgu.de