PHARMA
Depressive Störungen: Einzigartiges Wirkprinzip erweitert das therapeutische Repertoire


Der Wirkmechanismus von Tianeptin unterscheidet sich von dem anderer Substanzen zur Therapie von Depressionen: Es rekonstituiert offenbar die Neuroplastizität des Hippocampus und der Amygdala.
Trotz eines inzwischen großen Spektrums an pharmakologischen Substanzen zur Behandlung depressiver Störungen führt die medikamentöse Therapie bei etwa jedem dritten Patienten nicht zum gewünschten Erfolg. Deshalb gebe es Bedarf an weiteren Alternativen, erläuterte Prof. Dr. med. Siegfried Kasper, Ordinarius für Psychiatrie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität in Wien, bei einer Veranstaltung von Neuraxpharm-Arzneimittel in Berlin. Das gelte besonders dann, wenn ein Newcomer wie Tianeptin über einen von den bisherigen Optionen abweichenden Wirkmechanismus verfüge.
Es sei pathophysiologisch zu kurz gedacht, die Depression primär als monoaminerge Dysbalance zu erklären, sagte Kasper. Seit einiger Zeit häuften sich die Hinweise darauf, dass die Depression das Ergebnis einer Veränderung der Neuroplastizität sein könnte – vor allem in Hirnstrukturen wie Hippocampus, Amygdala und Cortex, die an der Regulierung von Stimmungen und Emotionen beteiligt sind. Diese Daten erlauben nach Auffassung von Kasper auch ein besseres Verständnis der erhöhten Anfälligkeit der Betroffenen für Rezidive oder Wiederauftreten der Depression.
Schutz der Dendriten vor stressinduzierter Atrophie
„Tianeptin stellt die Neuroplastizität des Hippocampus und der Amygdala wieder her“, erläuterte der Psychiater das multifaktorielle Wirkprinzip. Die Substanz ist ein Serotonin-Wiederaufnahme-Verstärker (SRE). Dennoch hält Kasper die Reduktion der Serotonin-Konzentration im synaptischen Spalt durch das selektive Serotonin-Reuptake-Enhancement nicht für den Hauptmechanismus. Relevanter sei die Hemmung der bei Depressiven überstimulierten Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse. Das verhindere die stressinduzierte Atrophie der Dendriten in Pyramidenzellen des Hippocampus und erkläre die positiven Effekte von Tianeptin auf kognitive Funktionen wie Erinnerungsvermögen und Lernfähigkeit.
Zugelassen wurde Tianeptin 1988 zunächst in Frankreich und später in zahlreichen weiteren europäischen Ländern. Seit November 2012 kann das Antidepressivum als Tianeurax® auch in Deutschland verordnet werden. Die empfohlene Dosis beträgt dreimal täglich 12,5 mg beziehungsweise zweimal 12,5 mg/Tag bei Patienten im höheren Lebensalter oder mit schwerer Niereninsuffizienz.
Seine akute und rezidivprophylaktische Wirksamkeit hat Tianeptin in einer Reihe von randomisierten doppelblinden Studien unter Beweis gestellt – mit signifikanter Überlegenheit gegenüber Placebo und äquivalenter Effektivität zu Trizyklika und SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern).
Dass die Studien und Publikationen vergleichsweise lange zurückliegen, ist für Prof. Dr. med. Hans-Peter Volz, Ärztlicher Direktor des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck, kein Nachteil. Im Gegenteil: So schwer kranke Patienten wie in jenen Studien würden heute kaum noch eingeschlossen. Vorteil von Tianeptin sei die gute Verträglichkeit. Signifikant häufiger als unter Placebo waren lediglich Kopfschmerzen aufgetreten. In Vergleichen mit Trizyklia wurden signifikant seltener autonome, zentralnervöse und gastrointestinale Nebenwirkungen oder eine Zunahme des Körpergewichts dokumentiert.
Ohne klinisch relevantes Interaktionspotenzial
Auch im Vergleich mit verschiedenen SSRI hat sich nach Aussage von Volz eine tendenziell bessere Verträglichkeit gezeigt. Hervorzuheben sei die wesentlich geringere Wahrscheinlichkeit für sexuelle Funktionsstörungen. Weil die Metabolisierung nur in vernachlässigbarem Ausmaß über das hepatische Zytochrom-P450-System erfolgt, weist Tianeptin kein klinisch relevantes Interaktionspotenzial auf.
„Tianeptin ist ein breit einsetzbares Antidepressivum mit guter Verträglichkeit und zuverlässiger Wirksamkeit“, resümierte Volz. Ein Pluspunkt sei der völlig andere Wirkmechanismus. „Das Problem bei der Therapie depressiver Störungen ist, dass wir nur 60 bis 70 Prozent Responder haben – unabhängig vom verordneten Medikament. Die Rate der Responder ist auch bei Tianeptin nicht höher, aber vermutlich sind die Gruppen unterschiedlich zusammengesetzt. Ein Patient, der auf Tianeptin gut respondiert, ist ein anderer als der, der gut auf ein SSRI anspricht.“
Gabriele Blaeser-Kiel
Launch-Pressekonferenz „Tianeptin, ein neues Wirkprinzip zur Therapie von depressiven Störungen“ beim DGPPN-Kongress 2012 in Berlin, Veranstalter: Neuraxpharm-Arzneimittel