SCHLUSSPUNKT
Körperbilder: Arnold Böcklin (1827–1901) – Der Gesang der Sirenen


Zwei Jahrzehnte, bevor Sigmund Freud die Psychoanalyse begründete, malte der Symbolist Arnold Böcklin ein kleines mystisches Gemälde, in dem er mit hintergründigem Humor in die Tiefen des Unbewussten eintauchte. Seine „Sirenen“ handeln von Sexualität und Verführung, Laster und Tod, Schönheit und Fratze, den tiefenpsychologischen Aspekten in der Beziehung von Mann und Frau, von triebhafter Körperlichkeit und listiger Weisheit. Entsprechend groß war die Irritation der ersten Betrachter, die das ungewöhnliche Bild 1875 in Basel zu sehen bekamen. Seit 1902 befindet es sich im Besitz der Staatlichen Museen zu Berlin und ist derzeit in einer großartigen Übersichtsschau zum deutschen Symbolismus in Bielefeld ausgestellt.
Der vielbelesene Böcklin folgte bei seiner Darstellung der Sirenen-Episode in Homers Odyssee. Die beiden auf einer Insel lebenden Zwitterwesen, die oberhalb des Nabels aufreizend-weibliche Formen und darunter einen Vogelunterleib mit scharfen Krallen aufwiesen, waren demnach äußerst gefährlich: Sie bezauberten mit ihrem lieblichen Gesang und der Verheißung übermenschlichen Wissens jeden Vorbeifahrenden, um ihn dann zu töten. Allerdings zog Böcklin das Thema ins Groteske, Karikaturhafte: In seinem Bild gibt es viel Kurioses zu entdecken wie den fülligen, faltigen Leib der älteren Harpyie, die orangenen Federflusen und abstrus überdimensionierten Vogelfüße ihrer jüngeren Genossin sowie die Totenschädel, die wie Eier in einem Vogelnest angeordnet sind. Böcklin wollte mit seiner mystifizierenden, poetischen Malerei Zeichen setzen gegen die Rationalität seiner Zeit, was ihm im 20. Jahrhundert große Bewunderung seitens der Surrealisten eintrug, die wichtige Impulse von ihm bezogen.
Die Kernaussage des Sirenenabenteuers geht durch Böcklins amüsante Satire nicht verloren: das verführerische, Verderb bringende Wesen der Femme fatale und die männliche Angst vor Dominanzverlust. Odysseus immerhin vermochte dem drohenden Tod zu entrinnen, indem er sich von seinen Gefährten an den Schiffsmast fesseln ließ. Ansonsten wäre auch er – wie so viele Mannsbilder vor und nach ihm – dem betörenden Gesang der Sirenen erlegen. Sabine Schuchart
Ausstellung
„Schönheit und Geheimnis. Der deutsche Symbolismus“
Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Str. 5, Bielefeld
www.kunsthalle-bielefeld.de
Di.–So. 11–18, Mi. 11–21, Sa. 10–18 Uhr; bis 7. Juli.
„Schönheit und Geheimnis. Der deutsche Symbolismus“, Katalog
zur Ausstellung, 300 Seiten, Kerber 2013; 39,95 Euro
(während der Ausstellungslaufzeit an der Museumskasse: 24,95 Euro).
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