ArchivDeutsches Ärzteblatt25/2013Adoleszenz – seelische Gesundheit und psychische Krankheit
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Als Adoleszenz wird die Lebensphase bezeichnet, die den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter markiert. In dieser Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts widmen sich zwei Beiträge den psychischen Störungen in der Adoleszenz, unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungsperspektive (1, 2).

Die Adoleszenz beginnt mit der Pubertät, die durch die biologischen und physiologischen Veränderungen gekennzeichnet ist. Diese Phase geht einher mit der körperlichen und sexuellen Reifung.

Biologisch gesehen umfasst die Adoleszenz die Gesamtheit der somatischen und psychischen Veränderungen, die sich am augenfälligsten in der körperlichen Entwicklung und der sexuellen Reifung zeigen.

Psychologisch betrachtet schließt sie die Gesamtheit der individuellen Vorgänge ein, die mit dem Erleben, der Auseinandersetzung und der Bewältigung der somatischen Veränderungen sowie den sozialen Reaktionen auf diese verbunden sind.

Aus soziologischer Sicht lässt sich Adoleszenz als Zwischenstadium definieren, in dem die Jugendlichen mit der Pubertät die biologische Geschlechtsreife erreicht haben, ohne jedoch in den Besitz der allgemeinen Rechte und Pflichten gekommen zu sein, die eine verantwortliche Teilnahme an wesentlichen Grundprozessen der Gesellschaft ermöglichen und erzwingen (3).

In zeitlicher Hinsicht umfasst Adoleszenz die Altersphase vom 12. beziehungsweise 13. bis zum 20. respektive 24. Lebensjahr.

Aus rechtlicher Perspektive bedeutet Adoleszenz eine Zunahme von Teilmündigkeiten, das heißt Strafmündigkeit mit 14 Jahren, Ehemündigkeit auf Antrag mit 16 Jahren, Volljährigkeit mit 18 Jahren, Ende der Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht mit 21 Jahren.

Die zeitlichen Grenzen sind bezüglich aller genannten Kriterien sowohl nach unten als nach oben unscharf. Während sich die untere Grenze mit dem Einzug der Menarche beziehungsweise der ersten Ejakulation sowie durch die körperlichen Veränderungen noch einigermaßen präzise bestimmen lässt, ist die obere Grenze äußerst variabel und unterliegt weitaus stärkeren gesellschaftlichen Einflüssen. Angesicht der erheblichen Variabilität der oberen Grenze der Adoleszenzphase kommt man immer mehr davon ab, feste Altersmarken anzugeben; vielmehr geht man dazu über, die obere Grenze nach sozialen Kriterien zu definieren (4).

Veränderungen in der Adoleszenz

Nahezu alle Organe und körperlichen Funktionen unterliegen im Verlauf der Adoleszenz erheblichen Wandlungen. Dies bezieht sich auf Körpergröße, Gewicht, Wachstumsgeschwindigkeit, die Veränderungen der körperlichen Proportionen, funktionelle und morphologische Veränderungen der Organsysteme, die vermehrte Ausschüttung nahezu aller Hormone und als Folge dieser Prozesse auf die äußeren Merkmale der sexuellen Reifung.

Die psychologischen Veränderungen erstrecken sich insbesondere auf die Entstehung neuer kognitiver Strukturen (Fähigkeit zum abstrakten Denken), die Entwicklung der Introspektionsfähigkeit, die Entstehung moralischer Werthaltungen und Normen sowie die Bewältigung der alterstypischen Entwicklungsaufgaben, auf die im Beitrag von Herpertz-Dahlmann et al. (2) Bezug genommen wird.

Krisen und psychische Störungen

Es ist naheliegend, dass junge Menschen, die sich in einer Entwicklungsphase befinden, in der pro Zeiteinheit so umfangreiche Veränderungen stattfinden, auch anfällig für psychische Störungen sind (5, 6).

Dies gilt aber allenfalls für 15–20 % der Adoleszenten, während die übrigen, wenn auch nicht ohne gewisse Beeinträchtigungen, ihren Weg in das Erwachsenenalter konsequent fortsetzen. Im Hinblick auf die Manifestation psychischer Störungen ist die Hirnentwicklung von zentraler Bedeutung. Diese wird in dem Artikel von Konrad et al. (1) ausführlich dargestellt. Die wichtigste Erkenntnis ist die, dass sich die verschiedenen Strukturen des Gehirns gestuft und in unterschiedlichen Reifungsgeschwindigkeiten entwickeln. Dadurch entsteht eine verhaltensrelevante Diskrepanz: Die früher reifenden und stärker ausgeprägten subkortikalen Strukturen – insbesondere das limbische System und das Belohnungssystem – steuern emotionale Reaktionen, die infolge der Reifungsdissoziation in der Adoleszenz noch einer unzureichenden Kontrolle durch den später reifenden präfrontalen Kortex unterliegen.

Diese von Casey et al. (7) formulierte Ungleichgewichtshypothese ist geeignet, verschiedene adoleszenztypische Reaktions- und Verhaltensweisen zu erklären, wie etwa

  • das ausgeprägte Risikoverhalten im Bezug auf Alkohol- und Drogenkonsum, im Straßenverkehr sowie bei Sexualkontakten
  • die Zunahme emotionaler Störungen und affektiver Erkrankungen
  • das leichte Hineingeraten in tätliche Auseinandersetzungen.

Zur Umstrukturierung des Gehirns leisten auch die in ihrer Konzentration ansteigenden gonadalen Steroidhormone einen wesentlichen Beitrag.

Alle diese Veränderungen, die stets auch in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren betrachtet werden müssen, tragen dazu bei, dass sich in der Adoleszenz vermehrt bestimmte Störungsmuster etablieren: Bei Mädchen eher introversive Störungen und Essstörungen, bei Jungen eher extroversive Störungen wie Störungen des Sozialverhaltens, zuweilen auch Kriminalität. Die wichtigsten dieser Störungen werden im Beitrag von Herpertz-Dahlmann et al. (2) beschrieben.

Rechtliche Implikationen

Aufgrund des beschriebenen und in vielen Studien bestätigten erhöhten Risikoverhaltens bei Heranwachsenden (18- bis 21-Jährige) kommt es auch häufig zu Straftaten, wobei die Täter vor Gericht entweder nach allgemeinem Strafrecht oder gemäß § 105 JGG nach Jugendstrafrecht behandelt werden können. Die neueren Erkenntnisse zur Hirnentwicklung zeigen, dass man nicht davon ausgehen kann, dass ein junger Mensch mit dem 21. Lebensjahr den Entwicklungsstand eines erwachsenen Menschen bereits erreicht hat. Vielmehr ist aufgrund der unterschiedlichen Reifungsgeschwindigkeiten verschiedener Hirnregionen (7) anzunehmen, dass die früher ausgereiften subkortikalen Areale bei Heranwachsenen noch nicht hinreichend der Kontrolle der stammesgeschichtlich jüngeren kortikalen Areale unterliegen. Diese beherbergen unter anderem die exekutiven Funktionen, die für Planung, Vorausschau und Abwägung von Entscheidungsprozessen verantwortlich sind.

Daraus leitet sich die Forderung ab, heranwachsende Straftäter generell nach Jugendstrafrecht und nicht nach allgemeinem Strafrecht zu behandeln. Demgemäß wäre das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. 12. 1988 (8) zu revidieren, wonach Heranwachsende nur dann nach Jugendstrafrecht zu beurteilen sind, wenn „noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam sind“. Sie sind bei Heranwachsenden immer noch wirksam.

Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
der Philipps-Universität, Marburg
Schützenstraße 49
35039 Marburg
remschm@med.uni-marburg.de

Englischer Titel:
Mental health and psychological illness in adolescence

Zitierweise
Remschmidt H: Mental health and psychological illness in adolescence.
Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 423–4. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0423

@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Konrad K, Firk C, Uhlhaas PJ: Brain development during adolescence: neuroscientific insights into this developmental period. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 425–31. VOLLTEXT
2.
Herpertz-Dahlmann B, Bühren K, Remschmidt H: Growing up is hard—mental disorders in adolescence. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 432–40. VOLLTEXT
3.
Neidhardt F: Bezugspunkte einer soziologischen Theorie der Jugend. In: Neidhardt F, Bergeus T, Brocher D, et al. (eds): Jugend im Spektrum der Wissenschaften. Beiträge zur Theorie des Jugendalters. München: Juventa 1970.
4.
Remschmidt H: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. Stuttgart: Thieme 1992.
5.
Fegert JM, Streck-Fischer A, Freyberger HJ:
Adoleszentenpsychiatrie. Stuttgart: Schattauer 2009.
6.
Remschmidt H: Psychiatrie der Adoleszenz. Stuttgart: Thieme 1992.
7.
Casey BJ, Jones RM, Hare TA: The adolescence brain. Annals of the New York Academy of Sciences 2008; 1124: 11–26. CrossRef MEDLINE PubMed Central
8.
Bundesgerichtshof (BGH): Urteil vom 6.12.1988, 1 stR 620/88, BGHSt 36,38.
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Marburg:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Remschmidt
1.Konrad K, Firk C, Uhlhaas PJ: Brain development during adolescence: neuroscientific insights into this developmental period. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 425–31. VOLLTEXT
2.Herpertz-Dahlmann B, Bühren K, Remschmidt H: Growing up is hard—mental disorders in adolescence. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 432–40. VOLLTEXT
3.Neidhardt F: Bezugspunkte einer soziologischen Theorie der Jugend. In: Neidhardt F, Bergeus T, Brocher D, et al. (eds): Jugend im Spektrum der Wissenschaften. Beiträge zur Theorie des Jugendalters. München: Juventa 1970.
4.Remschmidt H: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. Stuttgart: Thieme 1992.
5.Fegert JM, Streck-Fischer A, Freyberger HJ:
Adoleszentenpsychiatrie. Stuttgart: Schattauer 2009.
6.Remschmidt H: Psychiatrie der Adoleszenz. Stuttgart: Thieme 1992.
7.Casey BJ, Jones RM, Hare TA: The adolescence brain. Annals of the New York Academy of Sciences 2008; 1124: 11–26. CrossRef MEDLINE PubMed Central
8.Bundesgerichtshof (BGH): Urteil vom 6.12.1988, 1 stR 620/88, BGHSt 36,38.

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