THEMEN DER ZEIT
Substitutionsbehandlung: Ohne Reformen kein ärztlicher Nachwuchs
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Die rechtlichen Rahmenbedingungen erschweren die seit Jahrzehnten erfolgreiche Substitutionsbehandlung. Mehr substituierende Ärzte sind notwendig. Auch die Vergütung muss angepasst werden.
Durch eine Novelle des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) im Jahr 1992 wurde die Möglichkeit eröffnet, Levomethadon zur ärztlichen Behandlung einer Betäubungsmittelabhängigkeit zu verschreiben. Kurz darauf wurde die Substitutionsbehandlung durch Aufnahme in die „Richtlinien über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“ (NUB-Richtlinien) zu einer abrechenbaren Leistung innerhalb der vertragsärztlichen Versorgung.
Damit gibt es seit inzwischen mehr als 20 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland die gesetzlich und vertraglich begründete Option zur Behandlung Opiatabhängiger (pharmakologisch korrekt eigentlich: Opioidabhängiger) mit Substitutionsmitteln (vorrangig mit Methadon, Levomethadon, Buprenorphin). Derzeit wird von den geschätzten 150 000 Opiatabhängigen fast die Hälfte (2012: 75 400 – Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Bericht zum Substitutionsregister, Januar 2013) durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie durch Ambulanzen an Gesundheitsämtern und Kliniken behandelt. Durch zahlreiche Untersuchungen wurde belegt, dass durch die Substitutionsbehandlung der Heroinkonsum und die damit unmittelbar verbundenen Risiken für Gesundheit und soziale Integration erfolgreich gesenkt werden können (1). Angesichts des im Regelfall chronischen Verlaufs der Heroinabhängigkeit (2) ist die kontrollierte Abhängigkeit in der Substitutionsbehandlung ein pragmatisches und realistisches Ziel in der Behandlung Opiatabhängiger.
Den Ergebnissen der PREMOS-Studie zufolge, in der Verläufe von 2 284 männlichen und weiblichen Substitutionspatienten aus 223 zufällig ausgewählten Einrichtungen über sechs Jahre hinweg untersucht wurden, ist die Substitutionsbehandlung auch unter den Bedingungen der Routinebehandlung in Deutschland erfolgreich. Nach Einführung der Substitutionsbehandlung in Deutschland sank die Zahl der Drogentoten von mehr als 2 000 (im Jahr 2000) auf inzwischen unter 1 000 pro Jahr (2011: 986 – Bundeskriminalamt, Rauschgiftkriminalität, Bundeslagebild 2011). Die HIV-Infektionsrate liegt unter Opiatkonsumenten inzwischen bei 7,6 Prozent (Wittchen H-U, Bühringer G, Rehm J: Predictors, Moderators and Outcome of Substitution Treatments [PREMOS], Dresden 2011), während ihr Anteil an den HIV-Neuinfizierten von 10,7 Prozent im Jahr 2000 inzwischen auf 3,1 Prozent zurückgegangen ist (Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin Nr. 28, 16. 07. 2012). Die häufigste Begleiterkrankung ist eine zumeist chronische HCV-Infektion (67,7 Prozent), die unter stabiler Substitution Interferon-gestützt gut behandelbar ist. Ähnliches gilt für die meisten anderen somatischen und psychischen Begleiterkrankungen. Eine soziale Reintegration und die Abnahme der Kriminalitätsrate sind weitere nachgewiesene positive Effekte der Therapie. Die Abnahme der offenen Szenebildung in den Großstädten führt dazu, dass insbesondere vom Deutschen Städtetag und den Bundesländern die erfolgreiche Fortsetzung und Weiterentwicklung der Substitutionstherapie unterstützt und gefordert wird.
Warum bedarf es dann noch Reformen der Rahmenbedingungen der Substitutionsbehandlung? In den vergangenen 20 Jahren wurden Probleme zunehmend deutlich, die den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Substitution gefährden.
Rechtsprechung hebt auf Abstinenzziel ab
Die rechtlichen Rahmenbedingungen erschweren eine Therapie, die dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht. § 5 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV), der die rechtliche Grundlage für die Substitutionsbehandlung ist, bestimmt in seinem
ersten Absatz die schrittweise Wiederherstellung der Betäubungsmittelabstinenz als zentrales Behandlungsziel (§ 5 Absatz 1 Nummer 1. BtMVV). Wenngleich daneben auch weitere mögliche Behandlungsziele genannt werden (§ 5 Absatz 1 Nummer 2. und 3. BtMVV), hebt die Rechtsprechung weiterhin in einschlägigen Verfahren auf das Abstinenzziel ab. Dies entspricht jedoch weder der langjährigen und tausendfachen Erfahrung in der Behandlung noch den wissenschaftlichen Publikationen der letzten 20 Jahre (siehe Weltgesundheitsorganisation: Guidelines for the Psychosocially Assisted Pharmacological Treatment of Opioid Dependence, Geneva 2009). Nach der PREMOS-Studie gelingt es im mehrjährigen Verlauf lediglich acht Prozent der Substituierten, im Anschluss an eine Substitution abstinent zu leben, und dies oft nur temporär. Die stabile Abstinenz ist zwar das therapeutische Idealziel, kann aber nur für eine kleine Minderheit der Patienten und dann in der Regel erst nach jahrelanger Therapie, Stabilisierung, Gesundung und Resozialisierung ernsthaft ins Auge gefasst werden.
Substitutionsmittel: Mitgabe ermöglichen
Nach den bestehenden rechtlichen Regelungen stellt die Mitgabe von Betäubungsmitteln an den Patienten ein strafrechtliches Delikt dar (BtMG § 13 Absatz 1 i. V. mit BtMG § 29). Eine Mitgabe ist demnach selbst für solche Fälle untersagt, in denen die Erreichbarkeit einer Substitutionsmittel vorhaltenden Apotheke an Wochenenden oder Feiertagen − wozu die Apotheken nicht verpflichtet sind − nicht sichergestellt ist. Deshalb wäre eine Mitgabemöglichkeit durch den behandelnden Arzt für einen Zeitraum von bis zu zwei Tagen in erschwerten Versorgungssituationen wie an Sonn- oder Feiertagen oder in ländlichen Regionen ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg der besseren Praktikabilität, insbesondere im ländlichen Raum und bei bereits erreichter basaler Stabilisierung des Patienten. Allein der Widerstand der Apothekerverbände verhinderte bislang eine vernünftige und praktikable Lösung. In der Konsequenz wird ärztlich-therapeutisches Verhalten, das der Absicht entspringt, beim Patienten eine Behandlungskontinuität sicherzustellen, strafrechtlich geahndet und die Handlung faktisch einem Dealen mit Betäubungsmitteln auf dem illegalen Markt gleichgesetzt. Hier bedarf es also einer dringenden Nachjustierung der rechtlichen Regelungen.
Generell sollten alle therapeutischen Aspekte der Substitution ausschließlich der Qualitätssicherung durch die Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen übereignet und Fehlverhalten dem Disziplinar- beziehungsweise Berufsrecht unterworfen werden.
Mehr substituierende Ärzte sind erforderlich
Wir brauchen mehr substituierende Ärzte. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der substituierten Patienten von durchschnittlich 20,2 je Arzt (2003) auf 27,6 (2012) gestiegen (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Bericht zum Substitutionsregister, Januar 2013). Die Altersstatistik der circa 2 700 substituierenden Ärztinnen und Ärzte zeigt, dass in den kommenden fünf bis zehn Jahren ein Großteil der jetzt Tätigen in den Ruhestand gehen wird, womit sich die Frage der Sicherstellung der Versorgung in diesem Bereich bereits früher als in der hausärztlichen Versorgung stellen wird.* Um eine weitere Konzentrierung von immer mehr Patienten auf immer weniger Ärzte zu verhindern, sollte die Suchttherapie schon im Studium, aber auch in den Weiterbildungsgängen der klinischen Fächer besser verankert und vermittelt werden. Jeder Arzt, jede Ärztin, der/die klinisch tätig ist, hat fast täglich mit Sucht oder suchtgefährdeten Patienten auch jenseits der Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger zu tun. Suchttherapie stellt somit ein Querschnittsfach dar.
Die Honorarbedingungen der Substitutionstherapie entsprechen nicht den rechtlichen Vorgaben und müssen diesen angepasst werden. Die BtMVV verlangt, dass der substituierende Arzt seine Patienten in der Regel einmal pro Woche einbestellt, was zwölf Arzt-Patienten-Gespräche pro Quartal bedeuten würde (§ 5 Absatz 2 Nummer 5.). Dies entspricht auch den Richtlinien der Bundesärztekammer, die eine Behandlung in einem therapeutischen Gesamtkonzept vorschreiben, wozu auch eine entsprechende Frequenz der Arzt-Patienten-Kontakte gehört. Hingegen können gemäß Einheitlichem Bewertungsmaßstab (EBM) bislang nur vier Gespräche pro Quartal abgerechnet werden. Eine Anpassung an die rechtlichen Vorgaben müsste also auch hier dringend erfolgen. Die BtMVV bestimmt, dass eine Take-home-Verordnung, also eine Verschreibung des Substitutionsmittels über die für bis zu sieben Tage benötigte Menge, nur dann erfolgen darf, wenn eine vorherige Untersuchung des Patienten ergeben hat, dass dessen Zustand sich stabilisiert hat und er keine Stoffe konsumiert, die ihn zusammen mit der Einnahme des Substitutionsmittels gefährden könnten (§ 5 Absatz 8). Bislang gibt es jedoch für die im Rahmen der Take-home-Verordnung anfallenden Untersuchungen und deren Dokumentation keine quartalsbezogene Versorgungsziffer, so dass auch hier eine entsprechende Weiterentwicklung des EBM erforderlich ist.
Reformen allein bilden noch keine Motivation für jüngere Kolleginnen und Kollegen, sich suchttherapeutisch zu engagieren. Ohne Reform jedoch ist abzusehen, dass die erfolgreiche Behandlungsmethode für mehr als 76 000 chronisch kranke opiatabhängige Patientinnen und Patienten in Zukunft nicht mehr in der flächendeckenden Versorgung zur Verfügung stehen wird. Die Erfolgsgeschichte der letzten 20 Jahre darf nicht gefährdet werden.
- Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2013; 110(25): A 1243−4
Anschrift für die Verfasser
Dr. Wilfried Kunstmann, Bundesärztekammer,
Herbert-Lewin-Platz 1, 10623 Berlin
cme@baek.de
*Substituierende Ärzte sind im Durchschnitt sechs bis sieben Jahre älter als Hausärzte insgesamt, wie eine baden-württembergische Stichprobe zeigte (circa 59 Jahre versus 51 Jahre – KBV-Daten 31. 12. 2010)
A 33-year follow-up of narcotics addicts. Arch Gen Psychiatry 2001; 58: 503–8.
Dr. rer medic. Kunstmann, Dezernat 1 Fortbildung, Prävention und Bevölkerungsmedizin der BÄK
Prof. Dr. med. Scherbaum, Direktor der Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Universität Duisburg-Essen
Behrens, Georg