POLITIK: Kommentar
Psychoanalyse und Gutachterverfahren: An den therapeutischen Grenzen


Hochqualifizierte therapeutische Kollegen, die als Lehrer in den verschiedensten, zum Teil tiefenpsychologisch orientierten Verfahren Ausbildung und Fortbildungen anbieten, und auch Psychoanalytiker und Psychologische Psychotherapeuten, die Psychodrama, Gestalttherapie, Bioenergetik, konzentrative Bewegungstherapie, Verhaltenstherapie, Biodynamik oder verschiedene Formen von Körperpsychotherapie anbieten, berichten immer wieder von der gleichen schmerzlichen Erfahrung: Wenn sie – zum Wohle ihrer Patienten – eines dieser Verfahren wohldurchdacht in ihre psychodynamische Behandlungspraxis integrieren und darüber in den Kassenantragsberichten an den Gutachter auch schreiben, erhalten sie die Anträge oft zurück, verbunden mit teilweise entwertenden Bemerkungen, dass all das nicht zum zulässigen Kanon tiefenpsychologischer Behandlungen gehöre. Eine Wachsamkeit gegenüber einer wahllosen Anwendung und einer Verflachung des analytischen Fundaments muss allerdings selbstverständlich sein.
Da viele Therapeuten inzwischen aber mit dieser Integration positive Erfahrungen gemacht haben, entschließen sie sich zum Verschweigen dessen, was sich für sie längst bewährt hat. Und damit zwingen sie sich zur Unaufrichtigkeit und treten sogar in einen stillschweigenden Pakt mit den dankbaren Patienten ein.
Gutachter und Obergutachter sind hervorragend psychoanalytisch ausgebildete Fachleute, und viele sind durch ihre Kommentare, wenn sie nicht zu entwertend sind, hilfreich tätig durch Anregungen und Ratschläge für die Antragsteller. Aber sie sind sehr tief identifiziert mit den Richtlinienverfahren auf klassischer psychoanalytischer Grundlage. Sie haben in ihrer Ausbildung wenig erfahren über den Stand anderer, auch hochelaborierter Verfahren, und wenige haben höchstens heimlich eine Ergänzung nach ihren ein oder zwei Lehranalysen gesucht. Die meisten sind misstrauisch geblieben gegenüber dem, was sich an den Grenzen des analytisch Kodifizierten getan hat, und müssten sich vielleicht ihre mangelnde Kompetenz eingestehen, statt abzuwehren und zu verurteilen. Es wäre sogar denkbar, dass sie neugierig Rückfragen stellen, wie sich der jeweilige und „integrativ“ analytisch Arbeitende diese Integration vorstellt und wie er damit im Einzelfall vorgeht.
Dies wäre kein Verrat an der heiß erkämpften und verteidigten Monopolstellung der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, sondern eine Offenheit gegenüber wichtigen Erweiterungen des therapeutischen Instrumentariums, vor allem angesichts von Störungen, die nur mit großen Schwierigkeiten ausschließlich durch die Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung anzugehen sind. Gerade bei traumatischem Hintergrund ist es für viele Patienten zu gefährlich, ihre destruktiven Grundkonflikte voll in die Übertragung einzubringen, weil die Angst um den Verlust der Beziehung zum einzigen schützenden Objekt, das sie haben, viel zu bedrohlich ist. Manche brauchen körperlichen Halt, um sich ihren Ängsten zu stellen, und viele erfahren ihre Defekte und Konflikte viel deutlicher und tiefer, wenn sie die gefährlichen Introjekte nicht nur übertragen müssen, sondern auf dem leeren Stuhl direkt und mit Ermutigung des Therapeuten mit ihnen in eine Konfrontation gehen. Der Therapeut entfernt sich vorübergehend – die Übertragung wird ihn trotzdem immer wieder heimsuchen – aus der Übertragungs- und Gegenübertragungsverstrickung und wird zum hilfreichen Ermöglicher oder Regisseur der Szene. Auch die bedeutenden Traumatherapeuten wie Ulrich Sachsse oder Luise Reddemann arbeiten körperlich Halt gebend oder mit Verfahren, die aus der Verstrickung herausführen und die Konflikte in größerer Sicherheit erfahrbar machen.
Es ist meiner Meinung nach Zeit, die Phase der Unwahrhaftigkeit und Heimlichkeit zu beenden und das Brauchbare aus lang erprobten anderen Verfahren zu integrieren, ohne die analytische Identität aufzugeben. So wie uns eine „forschende Haltung“ angesichts unserer Patienten selbstverständlich geworden ist, um aus dem Kanon des immer schon Vorausgewussten auszubrechen, so wäre auch eine forschende Haltung gegenüber manchen neuen Verfahren hilfreich, und umgekehrt könnten diese Verfahren ohne Prestigeverlust bereit werden, psychoanalytischen Reichtum in ihre ebenso oft starr verteidigten Bezirke einzubringen. Ralf Zwiebel hat immer wieder berührende Vorstellungen entwickelt über den „Anfängergeist“ in der Begegnung mit schwierigen Patienten.
Dieser Anfängergeist gegenüber einer längst fälligen Bereicherung an den Grenzen unseres ureigensten Territoriums erlaubt auch für uns ohne Gesichtsverlust eine Erweiterung unserer therapeutischen Möglichkeiten. Wer in sich eine tiefe analytische Identität entwickelt hat, braucht sich nicht zu fürchten vor dem oft entwertend gebrauchten Ausdruck des „Integrativen“, weil er seiner Grundüberzeugung treu bleiben kann, selbst wenn er sie vorsichtig infrage stellt oder erweitert.
So kommt es zu dem Paradox, dass die kompetentesten und erfahrensten Vertreter unseres Faches, ohne es zu wollen oder zu merken, die Fortentwicklung unseres therapeutischen Instrumentariums zum Wohl der Patienten behindern.
Rosengarten, Ludger
Will, Christian
Lieberz, Klaus
Bielicki, Julian S.
Leserkommentare
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am Sonntag, 14. Juli 2013, 03:04
Einleuchtend
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am Samstag, 13. Juli 2013, 16:25
Gutachteritis
Die Annahme, daß approbierte Psychotherapeuten alleine nicht ausreichend für die Qualität ihrer Psychotherapien sorgen können, ist falsch. Der „gutachterliche“ Kontrollzwang ist zwanghaft, paranoid und ungerecht und verhindert weitere Entwicklung der Psychotherapie und Psychoanalyse.