ArchivDeutsches Ärzteblatt35-36/2013Interessenkonflikte – ein Dauerthema
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Das primäre Interesse von Ärzten und Patienten liegt in einer bestmöglichen medizinischen Versorgung nach dem aktuellen Stand des Wissens unter Vermeidung von Schaden. Das Ideal ist ein Gesundheitssystem mit

  • Entscheidungsträgern, die Rahmenbedingungen entsprechend gesellschaftlicher Wertvorstellungen gestalten
  • einer medizinischen Forschung, die Wissen schafft und verfügbar macht
  • einer Aus- und Weiterbildung, die angehende Mediziner zu einem kritischen Umgang mit Informationsangeboten befähigt.

Die öffentliche Wahrnehmung ist empfindlich gegenüber dem Risiko von Beeinflussungen durch Interessen Dritter und durch Interessenkonflikte der Akteure. Für den Erhalt des Vertrauens in die Integrität des Gesundheitssystems ist daher ein kontinuierlicher, rationaler Diskurs über dieses Risiko wichtig.

Unsichtbare und verzerrte Daten

Schott et al. zeigen am Fallbeispiel von Publikationen zu Gabapentin, dass wissenschaftliche Erkenntnisse selektiv berichtet wurden (1). Publikationsbias durch Verschluss beträchtlicher Datenmengen sowie irreführende Berichterstattung über Anlage, Durchführung und Auswertung klinischer Studien mit Bevorzugung positiver Ergebnisse ist kein Einzelfall und betrifft auch nicht nur die durch pharmazeutische Unternehmen geförderte Forschung (25). In den betroffenen Bereichen laufen Kliniker und Autoren von systematischen Übersichtsarbeiten und Leitlinien Gefahr, trotz bester Absicht und Akribie auf Grundlage der verfügbaren Evidenz falsche Schlüsse zu ziehen. Für die Erstellung von systematischen Übersichtsarbeiten und Leitlinien, für Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung und für die adäquate Planung künftiger Forschungsaktivitäten ist daher entscheidend, dass alle relevanten Studiendokumente zugänglich sind (5). Zudem müssen Studienteilnehmer darauf vertrauen können, dass ihr persönlicher und freiwilliger Einsatz zu Wissensgewinn und medizinischem Fortschritt beiträgt. Der mitunter schon aberwitzige Aufwand, der für den Umgang mit einem Publikationsbias unternommen wird – zum Beispiel durch Recherchen nach nichtpublizierter Literatur in vielfältigen Quellen, Autorenanfragen, Funnelplot-Tests in Metaanalysen, Restaurierung brachliegender Studien auf Grundlage verfügbarer Protokolldaten – löst nicht das Kernproblem (24). Schott et al. sind zu unterstützen in der Forderung, eine unabhängige Forschungsförderung zu stärken sowie alle Studien und ihre Ergebnisse zu registrieren.

Interessenkonflikte von Leitlinienautoren

Anhand eines weiteren Fallbeispiels – Efalizumab zur Therapie der Psoriasis vulgaris – weisen Schott et al. auf mögliche Auswirkungen von Interessenkonflikten auf die Ergebnisse von Nutzenbewertungen in Leitlinien hin (1). Zur Vermeidung von Missverständnissen ist zunächst festzuhalten, dass bei Vorliegen von Interessenkonflikten nicht automatisch auf Befangenheit und Fehleinschätzungen von Leitlinienautoren geschlossen werden darf. Der Beitrag macht aber darauf aufmerksam, dass Interessenkonflikte als Risiko für Bias akzeptiert und Schutzmaßnahmen etabliert werden müssen, die sicherstellen, dass professionelle Beurteilungen oder Entscheidungen auf Primärinteressen beruhen und nicht unangemessen durch sekundäre Interessen beeinflusst werden. In dieser Richtung hat sich seit Erscheinen der von Schott et al. untersuchten Leitlinie aus dem Jahr 2006 viel entwickelt. Nach Einführung der Regeln der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zum Umgang mit Interessenkonflikten ist die Offenlegung in deutschen Leitlinien heute Standard (6). Dabei werden finanzielle und auch akademische oder persönliche Interessen, die Konflikte begründen können, betrachtet. Eine Evidenzgrundlage für konkrete Strategien für das Management von Interessenkonflikten muss jedoch erst noch geschaffen werden (7). Die Mitgliedsfachgesellschaften der AWMF erproben derzeit

  • die Bewertung der Ausprägung von Interessenkonflikten
  • die Einschränkung des Einflusses Einzelner
  • die Hinzuziehung neutraler Methodiker und
  • die externe Prüfung durch Begutachtung oder öffentliche Konsultation (6).

Das Maß des Nutzens einer Leitlinie ist die Verbesserung der Versorgungsqualität – dafür müssen Leitlinien akzeptiert und umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund ist die Verantwortlichkeit der Profession für die Leitlinienarbeit notwendig und empirisch gestützt durch Ergebnisse der Implementierungsforschung und der Qualitätsmessung mittels leitlinienbasierter Indikatoren (8, 9). Der Ruf nach unabhängigen Institutionen und Autoren kann daher nicht überzeugen.

Publikationsbias und Interessenkonflikte: Antidote

Fallberichte können wichtige Hinweise geben, aber nicht generalisiert werden. Andere Beispiele legen nahe, dass Leitlinienautoren sensibel gegenüber einem Publikationsbias und skeptisch gegenüber auffällig positiven Studienergebnissen sind, die der klinischen Erfahrung widersprechen (2). Bei der kritischen Bewertung klinischer Studien ist das Expertenurteil daher wichtig. Dem Risiko von Verzerrungen werden protektive Faktoren entgegengesetzt, die das AWMF-Regelwerk bietet (2, 6). Dazu gehören:

  • systematische Evidenzbasierung (wissenschaftliche Grundlage)
  • interdisziplinäre Zusammensetzung der Leitliniengruppe (Pluralismus der Interessen)
  • strukturierte Konsensfindung (Vermeidung von unangemessener Beeinflussung durch Einzelinteressen)
  • regelmäßige Aktualisierung
  • externe Begutachtung/Konsultationsverfahren
  • die Möglichkeit, aktuelle Leitlinien zu kommentieren.

Informationsangebote und Einflussnahme

Lieb und Koch zeigen anhand einer strukturierten Befragung von 1 151 Medizinstudierenden, dass die pharmazeutische Industrie bereits früh Kontakte sucht (10). Bemerkenswerterweise erachtete ein beträchtlicher Teil der Befragten Informationsangebote der Industrie für hilfreich, wenn auch verzerrt. Eine Sensibilisierung angehender Mediziner für das Risiko von Beeinflussungen ist daher wichtig. Noch wichtiger ist ihre Befähigung zur kritischen Beurteilung angebotener Informationen nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin und zu wissenschaftlich orientiertem Handeln. Im Bereich der ärztlichen Weiterbildung besteht hier eine befriedigende Ausgangslage mit Entwicklungspotenzial (11). Die Offenheit der Befragten und die Menge angenommener informativer Geschenke erinnern aber auch daran, dass im Informationsmarkt Anbieter wissenschaftlich begründeter Inhalte konkurrenzfähig sein müssen. Zwei wichtige Punkte sind Attraktivität und Zugänglichkeit (12). Der für viele Ärzte in Deutschland kostenpflichtige Zugang zu wichtigen Wissensquellen wie der Cochrane Library stellt eine massive Behinderung dar, die durch öffentlich geförderte Nationallizenzen zu überwinden wäre.

Ausblick

Die Beiträge von Schott et al. (1) sowie Lieb und Koch (10) regen dazu an, die Diskussion zum Umgang mit Publikationsbias, Interessenkonflikten und Einflussnahmen im Gesundheitssystem weiterzuführen. Dabei sind Risikofaktoren, protektive Faktoren und vorhandene Ressourcen zu betrachten. Erhebliche Anstrengungen der Fachgesellschaften bringen wichtige, gute Leitlinien hervor. Der notwendige nächste Schritt ist die Umsetzung und Evaluierung von Strategien, um Verbesserungspotenziale besser auszuschöpfen.

Interessenkonflikt
Prof. Kopp ist angestellt bei und erhält institutionelle Förderung
durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften (AWMF).

Anschrift der Verfasserin
Prof. Dr. med. Ina B. Kopp
AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement
c/o Philipps-Universität
Karl-von-Frisch-Straße 1, 35043 Marburg
kopp@staff.uni-marburg.de
kopp@awmf.org

Englischer Titel: Conflicts of interest—an ever present challenge

Zitierweise
Kopp I: Conflicts of interest—an ever present challenge.
Dtsch Arztebl Int 2013; 110(35−36): 573−4. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0573

@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Schott G, Dünnweber C, Mühlbauer B, Niebling W, Pachl H, Ludwig WD: Does the pharmaceutical industry influence guidelines? Two examples from Germany. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(35−36): 575−83. VOLLTEXT
2.
Lelgemann M, Antes G, Wieseler B: Falsche Gelassenheit. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes (ZEFQ) 2010; 104: 281–3. CrossRef
3.
Kopp I: Implikationen des Publikationsbias für die Erstellung und Bewertung von Leitlinien. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes (ZEFQ) 2011; 105: 201–6. CrossRef MEDLINE
4.
Doshi P, Dickersin K, Healy D, Swaroop Vedula S, Jefferson T: Restoring invisible and abandoned trials: a call for people to publish the findings. BMJ 2013; 346: f2865. www.bmj.com/content/346/bmj.f2865 (last accessed on 1 July 2013).
5.
Chalmers I, Glasziou P, Godlee F: All trials must be registered and results published. BMJ 2013; 346: f105. www.bmj.com/content/346/bmj.f105 (last accessed on 1 July 2013).
6.
Kreienberg R, Kopp I: Correspondence: Risk awareness and transparency. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(16): 286–7. VOLLTEXT
7.
Strech D, Klemperer D, Knüppel H, Kopp I, Meyer G, Koch K: Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Interessenkonfliktregulierung: Internationale Entwicklungen und offene Fragen. Ein Diskussionspapier. 2011. www.ebm-netzwerk.de/was-wir-tun/pdf/interessenkonfliktregulierung-2011.pdf/view (last accessed on 1 July 2013)
8.
Grimshaw JM, Russel IT: Effect of clinical guidelines on medical practice: a systematic review of rigorous evaluations. Lancet 1993; 342: 1317–22. CrossRef MEDLINE
9.
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10.
Lieb K, Koch C: Medical students´ attitudes to and contact with the pharmaceutical industry—a survey at eight German university hospitals. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(35−36): 584−90. VOLLTEXT
11.
Korzilius H: Evaluation der Weiterbildung. Im Ergebnis eine gute Zwei minus. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(50): A2694–6. VOLLTEXT
12.
Nothacker M, Muche-Borowski C, Kopp I, Selbmann HK, Neugebauer E: Leitlinien – Attraktivität, Implementierung und Evaluation: Bericht von der Arbeitstagung der AWMF und des DNVF am 9.11.2012 in Frankfurt. GMS Mitteilungen aus der AWMF 2013; 10. www.egms.de/static/pdf/journals/awmf/2013–10/awmf000275.pdf (last accessed on 7 July 2013).
AWMF, Institut für Medizinisches Wissensmanagement, Marburg: Prof. Dr. med. Kopp
1.Schott G, Dünnweber C, Mühlbauer B, Niebling W, Pachl H, Ludwig WD: Does the pharmaceutical industry influence guidelines? Two examples from Germany. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(35−36): 575−83. VOLLTEXT
2.Lelgemann M, Antes G, Wieseler B: Falsche Gelassenheit. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes (ZEFQ) 2010; 104: 281–3. CrossRef
3.Kopp I: Implikationen des Publikationsbias für die Erstellung und Bewertung von Leitlinien. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes (ZEFQ) 2011; 105: 201–6. CrossRef MEDLINE
4.Doshi P, Dickersin K, Healy D, Swaroop Vedula S, Jefferson T: Restoring invisible and abandoned trials: a call for people to publish the findings. BMJ 2013; 346: f2865. www.bmj.com/content/346/bmj.f2865 (last accessed on 1 July 2013).
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7.Strech D, Klemperer D, Knüppel H, Kopp I, Meyer G, Koch K: Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Interessenkonfliktregulierung: Internationale Entwicklungen und offene Fragen. Ein Diskussionspapier. 2011. www.ebm-netzwerk.de/was-wir-tun/pdf/interessenkonfliktregulierung-2011.pdf/view (last accessed on 1 July 2013)
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10.Lieb K, Koch C: Medical students´ attitudes to and contact with the pharmaceutical industry—a survey at eight German university hospitals. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(35−36): 584−90. VOLLTEXT
11.Korzilius H: Evaluation der Weiterbildung. Im Ergebnis eine gute Zwei minus. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(50): A2694–6. VOLLTEXT
12.Nothacker M, Muche-Borowski C, Kopp I, Selbmann HK, Neugebauer E: Leitlinien – Attraktivität, Implementierung und Evaluation: Bericht von der Arbeitstagung der AWMF und des DNVF am 9.11.2012 in Frankfurt. GMS Mitteilungen aus der AWMF 2013; 10. www.egms.de/static/pdf/journals/awmf/2013–10/awmf000275.pdf (last accessed on 7 July 2013).

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