MEDIZIN: Übersichtsarbeit
Behandlung der proximalen Humerusfraktur des Erwachsenen
The treatment of proximal humeral fracture in adults
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Hintergrund: Die Inzidenz der proximalen Humerusfraktur liegt jährlich bei 105 bis 342 pro 100 000 Einwohner. Diese Fraktur stellt weiterhin eine große Herausforderung für den behandelnden Chirurgen dar. Während nicht dislozierte Frakturen konservativ therapiert werden können, werden dislozierte Frakturen häufig operativ versorgt.
Methoden: Selektive Literaturrecherche
Ergebnisse: Bis heute existieren keine evidenzbasierten Therapieschemata oder Leitlinien. Prospektiv randomisierte Studien fehlen weitestgehend. Die nun in der jüngeren Literatur erschienenen randomisierten prospektiven Studien zeigen einen Trend zur konservativen Therapie. Die Studienkollektive sind jedoch klein und erlauben noch keine direkte Umsetzung. Während beim jüngeren Patienten die anatomische Reposition und osteosynthetische Stabilisierung anzustreben sind, wird beim älteren Patienten auch die primäre prothetische Versorgung diskutiert. Je nach Vorgehensweise können unter anderem Schultersteifigkeit, Humeruskopfnekrose, Schmerzen, Infektionen, Repositionsverlust und „cutting-out“ auftreten.
Schlussfolgerung: Aufgrund der aktuellen Datenlage bleibt die Behandlung der proximalen Humerusfraktur individualisiert. Eine Therapieentscheidung muss immer mit dem Patienten in Zusammenschau mit seinen individuellen Bedürfnissen und Charakteristiken getroffen werden. Gerade beim Älteren sollte die Möglichkeit einer konservativen Therapie sorgfältig geprüft werden. Sollte eine konservative Therapie nicht möglich sein, muss die operative Behandlung auch in Abhängigkeit von den eigenen chirurgischen Fähigkeiten und Erfahrungen mit einem vertrauten Implantat gewählt werden.


Proximale Humerusfrakturen (Grafik) sind häufig – vor allem in der älteren Population. Zusammen mit proximalen Femur-, distalen Radius- und Wirbelkörperfrakturen zählen sie zu den häufigsten osteoporotischen Frakturen. Frauen sind etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Männer (1). Eine Analyse des finnischen Traumaregisters ergab einen Anstieg der Inzidenz proximaler Humerusfrakturen von 1970 bis 2002 von 32 auf 105 pro 100 000 Einwohner pro Jahr. Das Durchschnittsalter der Frauen stieg in diesem Zeitraum von 73 auf 78 Jahre (2). Darüber hinaus wurde in Ungarn mit Hilfe von Krankenkassendaten von 1999 bis 2003 eine Inzidenz proximaler Frakturen von 342 pro 100 000 Einwohner pro Jahr ermittelt, und in US-amerikanischen Notaufnahmen im Jahr 2008 insgesamt 61 Konsultationen pro 100 000 Einwohner (3, 4).
Nicht dislozierte proximale Humerusfrakturen können konservativ behandelt werden. Dislozierte Frakturen werden häufig operiert. Die in dieser Altersgruppe häufig vorliegende osteoporotische Knochenqualität erschwert die operative Therapie erheblich. In Anbetracht der demografischen Entwicklung mit stetig zunehmendem Lebensalter und Zunahme des Anteils älterer Bevölkerungsschichten wird die proximale Humerusfraktur einen immer höheren Stellenwert in der Unfallchirurgie einnehmen. Die Wahl der korrekten Therapie erfordert eine differenzierte Frakturanalyse unter Beachtung patientenspezifischer Faktoren. Der vorliegende Artikel soll anhand einer selektiven Literaturanalyse eine Übersicht über die aktuellen Optionen zur Therapie der proximalen Humerusfraktur geben.
Anamnese/Unfallhergang
Beim jüngeren Patienten führen meist Hochenergietraumata wie Verkehrs- oder Sportunfälle zur proximalen Humerusfraktur. Beim älteren Patienten sind Stürze aus dem Stand auf den ausgestreckten Arm im Sinne eines Niedrigenergietraumas die häufigste Ursache (2, 5).
Klinische Untersuchung/Diagnostik
Der verletzte Arm wird typischerweise in Schonhaltung eng am Brustkorb gehalten. Schmerzen, Schwellung und Hämatom sowie Druckschmerzhaftigkeit des proximalen Humerus können hinweisend sein. Durchblutung, Motorik und Sensibilität sind peripher zu testen. Auch der N. axillaris muss geprüft werden.
Zur radiologischen Standarddiagnostik gehört idealerweise die sogenannte Traumaserie – bestehend aus der true-a.p.-, Skapula-Y- und axialen Aufnahme. Die axiale Aufnahme ist jedoch in der Akutsituation schmerzbedingt oft nicht durchführbar. Eine Computertomographie (CT) liefert gerade bei komplexen Frakturformen wichtige Zusatzinformationen über Größe und Lage der einzelnen Fragmente sowie zu eventuellen knöchernen Zusatzverletzungen wie zum Beispiel des Glenoids oder Coracoids.
Frakturklassifikation
Die Neer-Klassifikation wird im klinischen Alltag am häufigsten verwendet. Neer übernahm die 4-Fragment-Theorie von Codman und modifizierte sie dahingehend, dass er den Dislokationsgrad sowie Luxations- und Headsplit-Frakturen einarbeitete. Die nicht dislozierten Frakturen fasste er als „one part fractures“ zusammen, da sie als stabile Einheit betrachtet und daher konservativ therapiert werden können. Die Grenze zwischen gering dislozierten und dislozierten Frakturen zog Neer bei einer Verschiebung von 1 cm beziehungsweise 45º. Die dislozierten Frakturen werden in 2-, 3- und 4-Fragmentfrakturen unterschieden. Die vordere und hintere Luxationsfraktur sowie der Headsplit werden als eigene Entitäten betrachtet (6). Nachteile der Neer-Klassifikation sind, dass nicht alle möglichen Frakturmorphologien dargestellt werden und keine Prognose für die Humeruskopfnekrose abgeleitet werden kann.
Therapie
Bis heute existieren keine evidenzbasierten Therapieschemata oder Leitlinien für die proximale Humerusfraktur. Obwohl die proximale Humerusfraktur zu den häufigsten Frakturen gehört, fehlen randomisierte Studien weitestgehend. Die vielen Frakturmorphologien und Therapieoptionen von der konservativen Behandlung über die verschiedenen Möglichkeiten der Osteosynthese bis hin zur endoprothetischen Versorgung macht die Initiierung solcher Studien schwierig. Es gibt keine standardisierten und allgemein akzeptierten Grenzwerte, und die an verschiedenen Zentren durchgeführten Studien weisen unterschiedliche Voraussetzungen auf, wodurch sie nur schwer vergleichbar sind. Ein aktueller Cochrane-Review kam zu dem Schluss, dass die Studienlage keine evidenzbasierten Empfehlungen zur proximalen Humerusfraktur erlaubt (7).
Neben der konservativen Therapie der nicht oder gering dislozierten Fraktur ist die anatomische Rekonstruktion und Osteosynthese die Therapie der Wahl der dislozierten proximalen Humerusfraktur beim jüngeren Patienten. Beim älteren Patienten muss gegebenenfalls auch der prothetische Ersatz erwogen werden, um das Ziel der möglichst schnellen, schmerzfreien Wiederherstellung der Funktions- und Belastungsfähigkeit und damit Unabhängigkeit zu erreichen.
Problematisch für die Empfehlung einer spezifischen Therapie ist, dass die von Neer festgelegten Grenzwerte zur Unterscheidung zwischen dislozierten und undislozierten Frakturen nicht auf klinischen oder biomechanischen Daten basieren, sondern eher theoretische Konstrukte darstellen (8). Lange Zeit dienten sie zwar als Maßstab, durch Fortschritte der Osteosynthese – hier ist vor allem die Entwicklung der winkelstabilen Implantate zu nennen – ist in den letzten Jahren aber ein Trend zur operativen Versorgung zu beobachten. Vor diesem Hintergrund wurde die Indikation zur OP für die gering dislozierte Fraktur immer häufiger gestellt. Die in der Literatur häufig zitierten 60 bis 80 % an nicht oder gering dislozierten Frakturen, die konservativ therapiert werden können (9), werden mittlerweile sicherlich großteils operativ versorgt, weil die Grenzen für die operative Therapie enger gesetzt werden (10). So definiert Lill die dislozierte Fraktur ab einer Fragmentdislokation von 5 mm, einer Achsfehlstellung von 20° oder einer Dislokation der Tuberkula von 2 mm (11). Allgemeine Einigkeit besteht bezüglich dieser Grenzwerte nicht. Die Therapieform sollte sich daher immer individuell am biologischen Alter des Patienten und damit seiner Knochenqualität sowie seiner Begleiterkrankungen, seiner Compliance und seinem Anspruch orientieren.
Konservativ
Unstrittig ist, dass nicht dislozierte Frakturen konservativ therapiert werden können. Bei diesen Frakturen ist der Weichteilmantel meist intakt, und Periost, Rotatorenmanschette sowie Gelenkkapsel sorgen für eine stabile Fraktursituation. Auch die valgisch impaktierte Fraktur stellt eine gute Indikation für eine konservative Therapie dar. Bei den gering dislozierten Frakturen muss die Entscheidung im Gespräch mit dem Patienten in Abhängigkeit von den Begleitumstände getroffen werden. Während man sich beim älteren Patienten eher an den Grenzwerten von Neer (< 1 cm, < 45˚) orientiert, wird man beim jüngeren Patienten eher die von Lill (< 0,5 cm, < 20˚, < 0,2 cm Tuberkuladislokation) empfohlenen Grenzwerte in der Entscheidungsfindung berücksichtigen. (Abbildung 1) (Tabelle)
Die zu erwartenden Ergebnisse sind gerade bei den nicht oder gering dislozierten Frakturen gut. Die Schulterbeweglichkeit wird bei guter Schmerzreduktion circa 85 % der Gegenseite erreichen.
Zu den möglichen Komplikationen zählen vor allem die Bewegungseinschränkung, Humeruskopfnekrose, Schmerzen sowie subacromiales Impingement durch ein disloziertes Tuberculum majus und Pseudarthrosebildung.
Operativ
Frakturen, die nicht den bereits genannten Bedingungen für eine konservative Therapie entsprechen, sollten operativ versorgt werden. Zusätzlich stellen metaphysäre Trümmerzonen, Luxationsfrakturen, offene Frakturen, Head-split- und Collum-anatomicum-Frakturen sowie Gefäß- und Nervenverletzungen OP-Indikationen dar. In der Literatur wurden viele operativen Verfahren und Techniken beschrieben. Prinzipiell muss zwischen kopferhaltenden und kopfersetzenden Techniken unterschieden werden.
Osteosynthese – Ziel jeder operativen Rekonstruktion – unabhängig vom gewählten Implantat – muss die anatomische Reposition und stabile Fixation der Fraktur sein. Dislozierte Tuberculum-majus- und minus-Frakturen werden bei ausreichender Knochenqualität und Fragmentgröße reponiert und mit 2 Kleinfragment-Zugschrauben stabilisiert. Wenn das Fragment zu klein ist oder bei einer multifragmentären Situation erfolgt die Refixation über Cerclagen oder über Fadenanker.
Frakturen des chirurgischen Halses umfassen die typische subcapitale Humerusfraktur als 2-Fragmentfraktur sowie die meisten 3- und alle 4-Fragmentfrakturen. Es wurden viele unterschiedliche osteosynthetische Versorgungsmöglichkeiten beschrieben. Die Häufigsten sind die perkutane K-Draht-Osteosynthese, Platten- und Verriegelungsnagelosteosynthese.
Die perkutane K-Drahtosteosynthese eignet sich vor allem bei Frakturen ohne metaphysäre Trümmerzone. Die Technik ist technisch anspruchsvoll und erfordert die Möglichkeit der geschlossenen Reposition. Durch das minimalinvasive Vorgehen wird eine zugangsbedingte Kompromittierung der Kopfdurchblutung vermieden. Nachteile stellen die geringere Stabilität, Drahtkomplikationen wie Wanderung, Infektion sowie Gelenkperforation dar. In der Hand des Geübten können bei strenger Patientenselektion gute klinische Ergebnisse erreicht werden (12).
Die offene Reposition ermöglicht die bessere Manipulation der Frakturfragmente und erlaubt daher die Versorgung aller Frakturtypen mittels Plattenosteosynthese. Die Manipulation der Fragmente verschlechtert jedoch deren Durchblutung. Um die Entwicklung einer Schultersteife zu vermeiden, sollte eine frühfunktionelle Therapie ermöglicht werden. Durch die Einführung winkelstabiler Implantate konnte die operative Therapie deutlich verbessert und ein deutlicher Trend von der konservativen Therapie hin zur Osteosynthese beobachtet werden. Sie stellt heute das am häufigsten durchgeführte Verfahren dar (Abbildung 2). Die Stabilität der Osteosynthese konnte deutlich erhöht werden (13). Während das Konzept beim jüngeren Patienten weitestgehend gut funktioniert, bleibt die Versorgung der osteoporotischen Fraktur problematisch. Selbst winkelstabile Implantate finden im osteoporotischen Knochen oft nur schlechten Halt, und das Ziel der Übungsstabilität wird nicht erreicht. Bei osteoporotischen Frakturen ist die winkelstabile Plattenosteosynthese oftmals sogar zu stabil: Der osteoporotische Humeruskopfes sintert, während die Position der winkelstabilen Schrauben unverändert bleibt. Es kommt zum sogenannten „cutting out“, wobei die Schrauben ins Gelenk perforieren. Schon relativ früh zeigte sich, dass die Komplikationsrate der winkelstabilen Plattenosteosynthese etwa 25 % beträgt. Diese Zahlen wurden von Südkamp et al. in einer prospektiven Multicenterstudie bestätigt (14). Bei 52 (34 %) von 155 Patienten wurden 62 Komplikationen registriert. 40 % der Komplikationen waren auf operationstechnische Probleme zurückzuführen, wobei die häufigste die intraoperative Schraubenperforation des Humeruskopfes war. Weiterhin traten unter anderem Plattenbrüche (1,9 %), Impingement (2,6 %), Pseudarthrosen (2,6 %), Wundinfektionen (3,9 %), Repositionsverlust (7,1 %) und Kopfnekrosen (3,9 %) auf (14).
Nagelosteosynthesen versuchen die hohe Stabilität rigider Implantate mit der guten Weichteilschonung minimalinvasiver Verfahren zu vereinigen. Indikationen für die Nagelung bestehen bei ausgeprägter metaphysärer Trümmerzone oder Spiralfrakturen, die in den Humerusschaft übergehen. Jüngere Studien, die unterschiedliche moderne winkelstabile Platten oder Nägel miteinander verglichen, oder winkelstabile Platten mit Nägeln verglichen, konnten keinen klinischen Unterschiede feststellen (15, 16).
Die oft nur mittelmäßigen funktionellen Ergebnisse bei hohen Komplikationsraten der operativen Therapie des älteren Patienten führten zu einer kontroversen Diskussion in der aktuellen Literatur, ob die Osteosynthese beim älteren Patienten Vorteile gegenüber der konservativen Therapie bietet. So findet man in der jüngeren Literatur erste vergleichende Studien, darunter auch kleinere RCTs. Ein Nachweis, dass die operative Therapie der konservativen überlegen ist, konnten diese nicht erbringen. Sanders et al. konnten in einer Matched-pairs-Analyse von 18 Patienten, die mittels winkelstabiler Plattenosteosynthese versorgt wurden und 18 konservativ behandelten Patienten bessere klinische Ergebnisse und eine niedrigere Komplikationsrate in der konservativen Gruppe dokumentieren (17). Ähnliche Ergebnisse fanden Fjalestad et al. in einer Matched-pairs-Analyse 2005 und einer prospektiv randomisierten Studie 2012 (18, 19). Olerud et al. beschrieben in ihrer randomisierten Studie zwar tendenziell bessere funktionelle Ergebnisse für die operativ mittels winkelstabiler Platte versorgten Patienten im Vergleich zu konservativ therapierten (20). Dies ging jedoch mit einer Komplikationsrate mit der Notwendigkeit der operativen Revision in 30 % der operativen versus 0 % der konservativ behandelten Gruppe einher.
Bei diesen neueren prospektiven Studien handelt es sich um kleinere Studien, die nicht aussagekräftig genug sind, um diese nun uneingeschränkt auf die Therapie zu übertragen. Sie zeigen Tendenzen, geben Anhalt zum Nachdenken, sollten aber auch nicht überbewertet werden.
Die Metallentfernung winkelstabiler Implantate muss aufgrund des hohen Komplikationspotenzials bis hin zur sekundären Humeruskopfnekrose durchaus kritisch betrachtet werden. Gerade beim älteren Patienten muss davon abgeraten werden, wenn nicht implantatspezifische Beschwerden bestehen oder eine Arthrolyse durchgeführt werden muss.
Endoprothese – Obwohl moderne winkelstabile Platten- und Nagelsysteme zur Verfügung stehen, können viele proximale Humerusfrakturen nicht sinnvoll rekonstruiert werden. Bei 3- und 4-Fragmentfrakturen des proximalen Humerus besteht nach aktueller Studienlage dann die Indikation zur prothetischen Versorgung, wenn das Kalottenfragment selbst mit Spongiosaverlust fragmentiert oder hohl ist, eine fortgeschrittene Osteoporose besteht oder nach fehlgeschlagener Osteosynthese eine Revision unter Erhalt des Kopfes aussichtslos ist (Abbildung 3).
Für ein gutes Ergebnis nach Versorgung einer proximalen Humerusfraktur mit einer Frakturprothese sind die Einheilung der Tuberkula und deren regelrechte Positionierung, die Wiederherstellung der korrekten Höhe des Humeruskopfes sowie die richtige Rekonstruktion sowohl des lateralen Offsets als auch der Retroversion entscheidend. Um diesen Forderungen gerecht zu werden, wurde das Design der Frakturprothesen sukzessive weiterentwickelt.
Trotz dieser Weiterentwicklungen fällt bei der Analyse der eigenen Ergebnisse und der Ergebnisse in der Literatur auf, dass die Funktion des Schultergelenkes nach endoprothetischer Frakturversorgung oft enttäuschend und nicht vergleichbar mit den Ergebnissen nach Prothesenimplantation bei Omarthrose ist. Die Patienten sind jedoch in der Regel schmerzarm (21, 22).
Bei vielen älteren Patienten besteht bereits vor der proximalen Humerusfraktur eine Läsion der Rotatorenmanschette. Man kann anhand sonographischer Daten davon ausgehen, dass Patienten ab dem 60. Lebensjahr zu 28 %, ab dem 70. Lebensjahr zu 50 % und ab dem 80. Lebensjahr zu 80 % eine Ruptur der Rotatorenmanschette aufweisen (23). Bei diesen Patienten findet man häufig schlechte Ergebnisse nach der Versorgung mit einer Frakturprothese. Durch ihr besonderes Design eignen sich inverse Prothesen insbesondere für Patienten, die eine relevante Läsion der Rotatorenmanschette haben.
Da ein gutes klinisches Ergebnis einer inversen Prothese eine regelrechte Funktion des M. deltoideus voraussetzt, muss präoperativ die Funktionsfähigkeit des N. axillaris sichergestellt sein. Die Daten in der Literatur für diese Art der Frakturversorgung sind noch gering. In der Literatur findet man ebenfalls eingeschränkte Bewegungsumfänge bei der Versorgung proximaler Humerusfrakturen mit einer inversen Prothese (24). Diese ist aber mit den Ergebnissen der konventionellen Frakturprothetik vergleichbar. Nach aktueller Studienlage ist die inverse Frakturprothese eine Option für die Versorgung nicht rekonstruierbarer proximaler Humerusfrakturen von Patienten über 65 Jahren mit nicht rekonstruierbaren Defekten der Rotatorenmanschette. Kritisch ist jedoch, dass Rückzugsmöglichkeiten nach fehlgeschlagener inverser Prothese rar sind und Langzeitergebnisse weitestgehend fehlen. Aufgrund des hohen Komplikationspotenzials und fehlender Rückzugsmöglichkeiten sollte die inverse Endoprothetik erfahrenen Operateuren vorbehalten bleiben.
Fazit
Die aktuelle Datenlage erlaubt keine Festlegung eines standardisierten, evidenzbasierten Behandlungsschemas für die proximale Humerusfraktur. Durch die Einführung der winkelstabilen Osteosynthese wurde die Indikation für die Osteosynthese deutlich ausgeweitet. Die proximale Humerusfraktur des jüngeren Patienten kann dank dieser modernen Implantate meist übungsstabil versorgt werden; die des älteren bleibt jedoch weiterhin problematisch. Daher werden Therapiealternativen wie die konservative Therapie oder endoprothetische Versorgung kontrovers diskutiert. Auch wenn erste randomisierte Studien Vorteile der konservativen Therapie gegenüber der osteosynthetischen Versorgung beim älteren Patienten zeigen, muss hier beachtet werden, dass diese Studien an kleinen, heterogenen Kollektiven mit kurzem Nachuntersuchungszeitraum ohne Einbeziehung aller Therapieoptionen durchgeführt wurden. Diese Studien lassen sich daher nicht verallgemeinern, zeigen aber, dass die konservative Therapie durchaus als Therapieoption in Betracht gezogen werden sollte. Sie dürfen jedoch nicht zu dem Rückschluss führen, dass jede proximale Humerusfraktur des älteren Patienten konservativ behandelt werden sollte. Andererseits zeigen sie jedoch auch deutlich, dass nicht jede Fraktur operativ angegangen werden muss. Gerade beim älteren Patienten – auch bei 3- und 4-Fragmentfrakturen – sollten die Dislokationsgrenzen von Neer nach Möglichkeit eingehalten und geprüft werden, ob eine stabile Fraktursituation im Sinne der von Neer postulierten „one part fracture“ vorliegt und damit ein konservativer Therapieversuch gestartet werden kann.
Eine Entscheidung für eine bestimmte Therapie muss immer vom erfahrenen Unfallchirurgen zusammen mit dem Patienten in Zusammenschau mit seinen individuellen Bedürfnissen und Charakteristiken wie zum Beispiel biologisches Alter, Komorbiditäten, Knochenqualität und Frakturmorphologie getroffen werden. Gerade die Entscheidung, ob eine Fraktur konservativ oder operativ behandelt werden sollte, bedarf einer profunden Beurteilung der Frakturmorphologie und -stabilität und weitgehender Erfahrung in der Therapie der proximalen Humerusfraktur, um dem Patienten die Vor- und Nachteile wie auch die Prognose der unterschiedlichen Therapieoptionen aufzeigen zu können.
Interessenkonflikt
PD Dr. Burkhart wurden Reise- und Kongresskosten von Tornier und Stryker erstattet. Ferner haben Prof. Müller und er einen Workshop zur Schulterendoprothetik mit Tornier veranstaltet. PD Dr. Dietz erhielt Reisekosten und Vortragshonorare von Axomed, Honorare für klinische Auftragsstudien von Synthes und Tantum AG sowie Forschungsgelder von Synthes, Mathys AG und Tantum AG. Prof. Bastian nahm Reisekostenerstattung von Medartis und Vortragshonorare und Teilnahmegebühren für einen Kongress von der AO Foundation, Deutschland, an. Prof. Müller erhielt Reisekosten von Tornier, Stryker, Synthes und Medartis sowie Vortragshonorare von Synthes. Prof. Hoffmann und Dr. Thelen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 10. 4. 2012, revidierte Fassung angenommen: 29. 4. 2013
Anschrift für die Verfasser
PD Dr. med. Klaus Josef Burkhart
Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie
Universitätsklinikum Köln, Kerpener Straße 62, 50937 Köln
klaus.burkhart@uk-koeln.de
Zitierweise
Burkhart KJ,Dietz SO, Bastian L, Thelen U, Hoffmann R, Müller LP:
The treatment of proximal humeral fracture in adults.
Dtsch Arztebl Int 2013; 110(35−36): 591−7. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0591
@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
PD Dr. med. Burkhart, Dr. med.Thelen, Prof. Dr. med. Müller
Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Mainz: PD Dr. med. Dietz
Klinik für Orthopädie, Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Klinikum Leverkusen: Prof. Dr. med. Bastian
Abteilung für Unfallchirurgie und Orthopädische Chirurgie, BG Unfallklinik Frankfurt am Main:
Prof. Dr. med. Hoffmann
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