ArchivDeutsches Ärzteblatt PP9/2013Psychoanalyse: Jenseits der Worte verstanden werden

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Psychoanalyse: Jenseits der Worte verstanden werden

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Der Säuglingsforscher Daniel Stern hinterlässt eine markante Lücke in der psychotherapeutischen Forschungslandschaft. Foto: Wikipedia
Der Säuglingsforscher Daniel Stern hinterlässt eine markante Lücke in der psychotherapeutischen Forschungslandschaft. Foto: Wikipedia

Der 2012 verstorbene Psychiater Daniel Stern hat mit seinen Beiträgen zur psychoanalytischen Entwicklungspsychologie und zum Verständnis der frühkindlichen Entwicklung wesentliche Impulse gesetzt, zuletzt mit seinem Konzept des „Gegenwartsmoments“. Er hat aber auch heftige Kontroversen ausgelöst.

Vera Kattermann

Wie eigentlich geschieht Veränderung in Psychotherapien? Wodurch wird sie bewirkt? Seitdem Sigmund Freud vor mehr als 100 Jahren die Psychoanalyse entwickelte, sucht die Zunft nach Antworten auf diese Frage. Lange Zeit herrschte recht einmütiger Konsens über die Notwendigkeit der psychoanalytischen Methode: Einfälle, Kindheitserinnerungen, Traumberichte und auch die Beziehung zum Analytiker werden auf ihre unbewusste Bedeutung hin untersucht, die verdrängten seelischen Konflikte darin aufgespürt und ähnlich archäologischen Grabungen in Schichten abgetragen, um sich schließlich im nachvollziehenden Verstehen aufzulösen. Die Psychoanalyse als Redekur: Das Sprechen als Maschenwerk der Einsicht gilt bis heute als zentraler Agens der Veränderung.

Frage nach den Wirkfaktoren

Eine Gruppe von US-amerikanischen Psychoanalytikern hat sich die Frage nach Wirkfaktoren in Psychotherapien noch einmal neu gestellt. Ihr berühmtestes Mitglied, der Säuglingsforscher Daniel Stern, ist im November 2012 gestorben und hinterlässt eine markante Lücke in der psychotherapeutischen Forschungslandschaft. Der Psych-iater, 1999 mit dem Sigmund-Freud-Preis ausgezeichnet, hat mit seinen Beiträgen zur psychoanalytischen Entwicklungspsychologie und zum Verständnis der frühkindlichen Entwicklung wesentliche Impulse gesetzt, zuletzt mit seinem Konzept des „Gegenwartsmoments“, aber auch heftige Kontroversen ausgelöst. Manche schimpften sogar, er habe das Konzept des Unbewussten, Kernstück der psychoanalytischen Theorie, verraten und verkauft. Grund genug, den originellen Beitrag des Forschers für das Verständnis therapeutischer Veränderung noch einmal zu würdigen.

Sterns Forschungen zur Interaktion zwischen Müttern und ihren Babys zeigen, dass sich lange vor Beginn der sprachlichen Repräsentationen eine nichtsprachliche Bewusstseinsebene entwickelt. Mutter und Kind stehen in kontinuierlichem wechselseitigem Such- und Austauschprozess darüber, wie sie Kontakt, Bindung und Nähe herstellen und halten. Dies bildet nach Stern den Grundstein für das sogenannte implizite Beziehungswissen, das er als unbewusst charakterisiert. Unbewusst nicht etwa weil es aus innerseelischem Schmerz verdrängt werden musste, sondern weil es statt in sprachlichem Denken in vorsprachlichen Erfahrungen verankert ist, in Gefühlen, Körpersensationen, in nicht beschreibbaren Grundbefindlichkeiten. Gerade deswegen erscheint es uns gleichsam selbstverständlich, unhinterfragbar. Dieses implizite Beziehungswissen aber bildet nach Auffassung Sterns und seiner Kollegen den Dreh- und Angelpunkt von seelischen Störungen und ihrer Bearbeitung. Eine implizite Beziehungserfahrung könnte auf sprachlicher Ebene etwa lauten: „Immer wenn ich mich besonders bemühe, Kontakt zu anderen herzustellen, erlebe ich Desinteresse oder gar Rückzug. Deswegen lohnt es sich nicht, es überhaupt zu versuchen.“ Eine Ausgangserfahrung von Depression und sozialem Rückzug?

Spielraum für Veränderung

Genau hier eröffnet sich im Verständnis von Daniel Stern und seinen Kollegen der eigentliche Spielraum für therapeutische Veränderung: Der Patient erfährt im Kontakt mit seinem Therapeuten oder seiner Therapeutin das „Zueinanderfinden“ und „Miteinander-Sein“ auf neuartige Weise, schöpft Mut, Neues zu probieren und Handlungsfreiheiten zu erweitern. Worum es eigentlich in Psychotherapien gehe, beziehe sich auf dieses nicht bewusste, implizite Wissen. Die Vergangenheit lebe primär in der Erfahrung fort und nicht in der Sprache, so Stern. Also Schluss mit Deuten, Verstehen, Entschlüsseln? Na ja, lässt sich einwenden, irgendwas müssen Patient und Therapeut ja schließlich miteinander tun. Sprechen wird dann bedeutsam eher als gemeinsames Handlungsgeschehen, denn als Mittel der Aufklärung. So nahmen die Forscher auch Behandlungsprotokolle unter die Lupe und fanden heraus, dass es sowohl alltägliche, scheinbar belanglose, wie auch eindrückliche und besonders denkwürdige Momente im Geschehen zwischen Therapeut und Patient sind, die das Tor der Veränderung öffnen. Der therapeutische Prozess zeichnet sich nach ihrer Auffassung immer auch durch Chaos aus – ein Chaos an Ungenauigkeit, an Mehrdeutigkeit, an unüberschaubarer Komplexität. Dieses Chaos ist das kreative Potenzial der therapeutischen Begegnung, es ist gut für überraschende Momente, für die Aufregung einer neuen Erfahrung. Schritt für Schritt schaffen Therapeut und Patient in den Sitzungen gemeinsam Inseln des guten „Auf-einander-Eingestimmt-Seins“. Glückt diese Abstimmung und passiert dabei etwas spürbar Neues, so entsteht, was Stern den „Gegenwartsmoment“ nennt, der in beiden gänsehautartige Gefühle der Bezogenheit und des Verstehens bewirkt. Der Therapeut, die Therapeutin erscheint also nicht mehr als Mittler emotionaler und intellektueller Einsicht, nicht mehr als Objekt der Übertragung von früheren Erfahrungen mit Mutter oder Vater, sondern als verfügbares, sich einstimmendes Gegenüber in der therapeutischen Begegnung.

Der eigentlich neue und originelle Beitrag der Stern-Forschergruppe gründet im Beharren auf der zentralen Bedeutung vorsprachlicher Begegnung als eigentlich relevantes therapeutisches Geschehen. Und dieses Infragestellen der ausschließlichen Notwendigkeit von Deutungen unbewusster, also verdrängter Abwehrleistungen rüttelt natürlich an den Grundfesten des psychoanalytischen Selbstverständnisses und löste entsprechend hitzige Polemiken aus. Kritisch einwenden gegen diese Hypothesen lässt sich ja auch, dass vielleicht nicht alle Störungen, die Patienten in die Therapie führen, auf dysfunktionalem implizitem Beziehungswissen basieren. Geht es nicht manchmal viel umfassender um Schwächen in der Ich-Struktur und um frühkindliche Traumen, die tatsächlich aufzudecken und in ihren seelischen Folgen zu deuten sind? Oder sind auch diese wiederum nur Ausdruck von kindlichen Beziehungstraumen, die das implizite Beziehungswissen drastisch markieren? Diese Ungenauigkeit bleibt eine spannende Frage, die Daniel Stern seinen Kolleginnen, Kollegen und Nachfolgern hinterlässt. Verlässt man aber die Dimension von Entweder-oder-Wahrheiten, so kann der Beitrag von ihm und seiner Forschergruppe eine hilfreiche und willkommene Erweiterung und Ergänzung des therapeutischen Verständnisses bedeuten. Denn das Aufzeigen einer dritten Dimension therapeutischer Veränderung gibt ein plastischeres Verständnis davon, wonach Patienten sich im Kern sehnen: umfassend und vielleicht auch jenseits der Worte verstanden zu werden.

  • Zitierweise dieses Beitrags:
    PP 2013; 12(9): 408–9

Anschrift der Verfasserin
Dr. phil. Dipl.-Psych. Vera Kattermann
Nollendorfstraße 20
10777 Berlin

1.
Stern DN et al.: Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma. Frankfurt: Brandes & Apsel 2012.
1.Stern DN et al.: Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma. Frankfurt: Brandes & Apsel 2012.

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