ArchivDeutsches Ärzteblatt PP9/2013Psychoanalyse – léon Wurmser: Das terroristische Über-Ich

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Psychoanalyse – léon Wurmser: Das terroristische Über-Ich

Moser, Tilmann

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Ein Pionier in Sachen Über-Ich-Forschung heißt Léon Wurmser, ursprünglich Schweizer, jüdischer Arzt, später in die USA emigriert, lange Jahre klinischer Psychiater, danach weltweit gesuchter Lehranalytiker in New York, reisender Lehrer auch in Deutschland, verehrt von einer aufschauenden Schülerschar, die ihm jüngst zum 80. Geburtstag eine Festschrift gewidmet hat, mit einer Reihe von überaus klugen Aufsätzen zum Schicksal eines destruktiven Über-Ichs, die man in der Kürze nicht einzeln würdigen kann.

Die manchmal heilsame, bei früher Traumatisierung jedoch destruktive Instanz des Über-Ichs kann jede Lebensfreude lähmen und quälende Scham ebenso wie Rachsucht verursachen. Die Prozesse der Heilung oder wenigstens Milderung können Jahre dauern, und der Rezensent hat Wurmser bei den berühmten Lindauer Psychotherapiewochen vor vielen Jahren so andächtig wie kritisch zugehört, wo er stolz berichtete, wie nach einer sterilen Analyse von 1 400 Stunden im Gehorsam gegen die Regeln sich endlich doch noch etwas regte im therapeutischen Prozess. Das Publikum staunte über diesen Weltrekord an unerschütterlicher Geduld und verharrte kurz in stillem Staunen, bevor der Beifall losbrach.

Mit dem Skalpell seines Forscherdrangs öffnet Wurmser Schicht um Schicht die Abgründe der terroristischen Instanz und wird zum Pionier der Erforschung des Über-Ichs, doch nicht von dessen pragmatisch handhabbarer Heilung. Geniale Analyse und therapeutischer Umgang sind nicht dasselbe. Warum? Weil er als eingefleischter Freudianer eisern daran festhielt, dass auch die destruktivste Seele sich durch das enge Bett von Übertragung und Gegenübertragung quälen muss, um sich im fühlenden Mitleiden und Mitdenken des Analytikers zu entgiften.

Der Mitherausgeberin Beate Steiner, die den längsten und gründlichsten Beitrag geliefert hat, fällt es in ihrer dankbaren Verehrung des Meisters schwer, anzuerkennen, dass sie rein therapeutisch weit über ihn hinausgewachsen ist, indem sie die klassische Psychoanalyse verbindet mit therapeutischer „katathymer Imagination.“ Das heißt, sie arbeitet zuerst vorsichtig um das Trauma herum mit Bildern und Metaphern, die einen allmählichen Zugang erlauben, wobei sie ihre Rolle wechseln kann: Sie schlägt Bilder und Themen vor, in die sich der Patient versenken kann, und bei denen er therapeutische Hilfskräfte mobilisiert, die ihn stützen und stellvertretend in seinen Seelenkampf eintreten. Die Anteile des grausamen Über-Ichs werden benannt und zu eigenen Unterinstanzen ernannt, es findet ein Kampf zwischen destruktiven und hilfreichen Anteilen statt, bei dem die Analytikerin Regie führt und sich nicht rettungslos verstricken lässt in die bedrohlichen Fußangeln der quälenden Wiederholungsbeziehungen, die der Patient an sie herantragen oder ihr aufzwingen will. Mit ähnlichen Verfahren arbeitet auch die analytische Gestalttherapie oder die analytische Körperpsychotherapie. So wird Beate Steiner zur Pionierin auf den Schultern eines Pioniers, dem sie die theoretischen Fundamente ihrer neuen Therapieform verdankt. Tilmann Moser

Beate Steiner, Ulrich Bahrke (Hrsg.): Der „innere Richter“ im Einzelnen und in der Kultur. Klinische, soziokulturelle und literaturwissenschaftliche Perspektiven. Psychosozial-Verlag, Gießen 2013, 254 Seiten, kartoniert, 29,90 Euro

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