MEDIZIN: Editorial
Dromologie: Der Krankheitsverlauf in klinischer Sicht


"Verlaufs-Aspekt" von großer Bedeutung
So wird unter den "Prinzipien der Medizin" (6) der "Verlaufs"-Aspekt als solcher geradezu stiefmütterlich
behandelt, indem er an verstreuten Stellen und nur ganz beiläufig erwähnt wird. Auch sonst habe ich nirgends
eine zusammenhängende Darstellung des Zeitfaktors bei den Krankheitsvorgängen gefunden. Dabei fällt im
Schrifttum, wenn der Blick erst einmal dafür geschärft ist, für den Gesichtspunkt des Krankheitsverlaufs eine
ganze Reihe von Formulierungen auf, denen jedoch durchweg die für einen Terminus unerläßliche spezifische
Prägnanz mangelt; genannt sei hier der häufig gebrauchte Ausdruck "Krankheitsentwicklung". Daß die
einfache Bezeichnung "Verlauf" als nicht hinreichend empfunden wird, um das damit gemeinte klinische
Anliegen deutlich genug ins Bewußtsein zu heben, wird an pleonastischen Wortverbindungen wie "zeitlicher
Verlauf", "Verlaufsgeschehen" oder gar "zeitlicher Krankheitsverlauf", schließlich auch "Verlaufsdynamik"
und "Chronodynamik" sichtbar. Fast als Kuriosa seien noch erwähnt: "Krankheitsmuster im Zeitablauf",
"filmischer Ablauf des Krankheitsgeschehens" und "metachronischer Verlauf". – Wenn man nach "Verlaufs"Termini im Englischen oder im Französischen und anderen romanischen Sprachen Ausschau hält, begegnet
man der gleichen begrifflichen Blässe.
Für den Gesichtspunkt des zeitlichen Ablaufs der Krankheitsvorgänge und die daraus zu entwickelnde Lehre
wird hier nun der Terminus Dromo-Logie vorgeschlagen. Dieser Terminus ist von seinen sprachlichen
Bestandteilen her dem Mediziner keineswegs fremd; hergeleitet vom griechischen Wort "drómos" (Lauf)
stellen die medizinischen Termini "Prodrom" und "Syndrom" zwei feste klinische Begriffe dar, denen das
Merkmal der zeitlichen Einordnung von Krankheitserscheinungen in den Krankheitsprozeß gemeinsam ist.
Dieser neue Terminus mit dem davon abgeleiteten Adjektiv "dromologisch" (wozu noch das "Dromogramm"
kommt) zeichnet sich durch die geforderte Prägnanz und Spezifität aus und liefert für die medizinische
Alltagssprache einen ebenso handlichen und geschmeidigen Fachausdruck, wie es Pathologie, Ätiologie,
histologisch, Hämogramm schon lange sind. Auch für den internationalen wissenschaftlichen wie klinischpraktischen Austausch dürfte der Terminus hilfreich sein.
Dromologie ist aber keinesfalls ein abstrakter theoretischer Begriff, sondern ist eine eminent wichtige ärztliche
Denk- und Sichtweise und geradezu eine eigene "klinische Dimension" (3), die in übergreifender Weise
Ätiologie, Pathogenese, Pathologie, Symptomatologie, Diagnostik, Therapie und Prognostik einbezieht.
So darf Dromologie auch nicht mit den statistischen Methoden zur Erfassung des Krankheitsverlaufs beim
einzelnen Patienten oder bei Patientengruppen gleichgesetzt werden. – Primär ist Dromologie ärztliches
Handeln am einzelnen Kranken.
Ein altes Prinzip
Dabei bringt die Dromologie substantiell an sich nichts Neues; in einer wissenschaftlich ausgerichteten
Medizin wurde sie schon immer praktiziert. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert die Fieberkurve, die sich
im Laufe der Zeit über die Registrierung von Körpertemperatur und Pulsfrequenz hinaus zu einem
Verlaufsbild, einem Dromogramm mit waagerechter Verlaufsachse und senkrechter Befundachse für die
verschiedensten klinischen Parameter entwickelt hat.
Neben "Längsschnitten" sind auch "Querschnitts"-Dokumentationen eine dromologische Struktur, so der gute
alte "Status praesens", und die Prognostik erweist sich ebenso als dromologischer Aspekt. Die Bestätigung der
Diagnose "ex juvantibus" (remediis) bedient sich eines entsprechenden Zeitschemas, und auch die
therapeutische Rätselfrage "propter oder post" hat dromologischen Charakter (1).
Ein wichtiger dromologischer Gesichtspunkt für das medizinisch-ärztliche Handeln ist die Wahl des richtigen
Augenblicks. – Bei den Griechen war der richtige Augenblick für das Handeln, der Kairos, ein wesentliches
philosophisches Anliegen, das als ein alle Lebensbereiche umspannendes Ereignis verstanden wurde. Aber
auch die spezielle medizinisch-klinische Bedeutung des Kairos, das Erkennen und Ergreifen des richtigen
Augenblicks, kann nicht hoch genug veranschlagt werden, zumal auch dieses ereignishaft werden kann.
Beispiele der Anwendung
Als ein vielfältiges dromologisches Beispiel stellt sich die Physiologie und Pathologie der Schwangerschaft dar.
Die Pathologie der Tuberkulose wie die der Syphilis waren in ihren klassischen Zeiten von der dromologischen
Deskription beherrscht. Auch die Infektionskrankheiten im engeren Sinn mit ihrem typischen Auftreten und
Verschwinden der Symptome erweisen sich als ein weiteres wichtiges Gebiet der dromologischen Sichtweise.
Schließlich seien noch die in der Psychiatrie bedeutsamen dromologischen Strukturen Phase und Schub,
Exazerbation, Episode und Rezidiv, Chronizität, Relikt und Defekt genannt.
Nach dem zweiten Weltkrieg haben die Spätschäden nach Fleckfieber-Enzephalitis zum Teil erhebliche
versorgungsrechtliche Probleme aufgeworfen, da diese Schäden nicht selten erst nach Jahren – meistens mit
zunächst ganz unspezifischen Symptomen – klinisch manifest wurden und dann von den behandelnden Ärzten
kaum als solche erkannt werden konnten. Zwar war in diesem Zeitpunkt die "Wehrdienstbeschädigung" selbst
therapeutisch ebensowenig mehr angehbar wie schon in der sehr kurzen akuten Krankheitsphase. Dafür aber
stieg – je später, desto eher – das Risiko von Fehlbegutachtungen, da das Krankheitsbild als solches im
klinischen Gesichtsfeld der nachfolgenden Ärztegeneration nicht mehr in Erscheinung trat – auch ein
dromologischer Vorgang, aber zugleich bereits ein medizingeschichtlicher Aspekt! (4, 2).
Ein neurologisches Krankheitsbild, das erst seit einigen Jahren mit seinen pathogenetischen Zusammenhängen
voll in den Gesichtskreis der Ärzte gerückt ist, stellt die aus dem Diabetes mellitus hervorgehende diabetische
Polyneuropathie dar, bei welcher es ganz entscheidend auf die Frühbehandlung und somit auf die
Früherkennung ankommt, damit die sonst fast unabwendbaren desolaten Endzustände verhindert werden (5). –
Ein hochaktueller dromologischer Fall!
Abschließend sei festgestellt: Wenn die Aufmerksamkeit erst einmal auf den Zeitfaktor gelenkt worden ist,
wird man in seinem ärztlichen Überlegen und Handeln die Dromologie bewußter bedenken und wird sich –
wenn der Terminus Eingang in die Fachsprache gefunden haben wird – mittels dessen kurz und prägnant
verständlich machen können.
Literatur
1. Brandt T, Dichgans J, Diener HC (Hrsg): Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. Verlag
Kohlhammer, Stuttgart Berlin 1988 (Spontanverlauf als therapeutisches Kriterium).
2. Delius L, Fahrenberg J: Psychovegetative Syndrome. Georg Thieme Verlag. Stuttgart 1966 (Seite 227:
Fleckfieber-Spätschäden)
3. Groß Rudolf: Zur klinischen Dimension der Medizin – Beiträge zu einigen Grundlagen und Grundfragen. In
der Reihe: Interdisciplina, hrsg. von Paul Lüth. Hippokrates Verlag, Stuttgart 1976
4. Kluge E (Nervenarzt): Neurotische Fehlhaltung oder Versagen nach Fleckfieber? Über das Mißvergnügen an
der "Neurose" (Schilderung "auf Grund einer Krankengeschichte . . . was einem Menschen widerfahren ist").
Ztschr.: Der medizinische Sachverständige 1963, Seite 198–200
5. Mehnert Hellmut, Standl Eberhard: Handbuch für Diabetiker, 5. Auflage. TRIAS Thieme Hippokrates Enke.
Stuttgart 1991
6. Rothschuh Karl E: Prinzipien der Medizin – ein Wegweiser durch die Medizin. Urban & Schwarzenberg,
München–Berlin 1965
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-1257–1258
[Heft 19]
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Gottfried Odenwald
Nervenarzt
Felsenstraße 31/3
89518 Heidenheim