THEMEN DER ZEIT
Haftungsansprüche infolge Arzneimittelschäden: Patienten bleiben auf der Strecke


Das Beispiel der Marktrücknahme des COX-2-Hemmers Vioxx zeigt, wie schwierig es für geschädigte Patienten ist, Schadensersatz gerichtlich durchzusetzen – trotz der 2002 eingeführten Beweislasterleichterung im Arzneimittelgesetz.
Fünf Jahre lang war Vioxx weltweit das umsatzstärkste Produkt des US-Pharmakonzerns Merck, bis es Anfang Oktober 2004 wieder vom Markt verschwand. Eine Langzeitstudie hatte ergeben, dass das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko bei Patienten, die das nichtsteroidale Antirheumatikum aus der Gruppe der selektiven COX-2-Hemmer über längere Zeit einnehmen, signifikant erhöht ist.
Die freiwillige Marktrücknahme verhinderte jedoch nicht, dass eine Welle von Schadensersatzforderungen und Klagen wegen illegaler Bewerbung des Mittels über den Hersteller hereinbrach. Während sich das Unternehmen in den USA mit der Justiz auf einen außergerichtlichen Vergleich in Höhe von knapp sieben Milliarden US-Dollar einigte, gehen Betroffene und deren Angehörige in Deutschland bislang leer aus. Grund hierfür sind die unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen, die es Patienten hierzulande deutlich schwerer machen, Haftungsansprüche durchzusetzen.
Spektakuläre Marktrücknahmen sind selten und beruhen meist darauf, dass sich weder die komplexe Behandlungsrealität noch die häufig notwendigen Langzeitanwendungen in den klinischen Prüfungen vor der Zulassung abbilden lassen. „Dies kann dazu führen, dass vor allem seltene Nebenwirkungen der Arzneimittel erst einige Zeit nach der Zulassung erkannt werden“, erklärt Prof. Dr. Walter Schwerdtfeger, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte.
Der Patient hat die Beweislast
Kommt es aber wie im Fall Vioxx zu einer Marktrücknahme, liegt die volle Beweislast beim potenziell Geschädigten, will er Haftungsansprüche gerichtlich durchzusetzen. „Der Patient muss eigentlich fast alles beweisen, und zwar so klar, dass das Gericht überzeugt ist. Das ist das große Problem“, sagt Rechtsanwalt Kai Miederer aus Berlin, der potenzielle Vioxx-Geschädigte vertritt. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH; Az: VI ZR 109/12) in einem Vioxx-Fall vom März dieses Jahres dürften die Chancen auf Entschädigung sogar noch weiter gesunken sein. Denn die Richter führten in ihrem Urteil aus, dass die mit der Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG) im Jahr 2002 eingeführte Beweislasterleichterung zugunsten der Patienten in vielen Fällen wirkungslos bleiben dürfte.
So sieht die Neuregelung des AMG in § 84 Abs. 2 zwar vor, dass Patienten auf Grundlage einer reinen Kausalitätsvermutung Haftungsansprüche geltend machen können. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber ihnen einen Auskunftsanspruch gegenüber den Herstellern und den Zulassungs- und Überwachungsbehörden eingeräumt. Da das Gesetz den pharmazeutischen Unternehmen aber zugleich das Recht zugesteht, die Kausalitätsvermutung wieder auszuhebeln, wenn diese nur eine mögliche andere Schadensursache benennen können, verkommt nach Meinung des Berliner Medizinrechtsanwalts Jörg Heynemann der Haftungsanspruch zum zahnlosen Tiger.
„Die Neuregelung des § 84 AMG ist im Ergebnis eine Nullnummer, denn die Beweiserleichterung läuft damit faktisch ins Leere“, sagt Heynemann, der zahlreiche Vioxx-Geschädigte vertreten hat. Für den Anwalt steht fest: „Die AMG-Reform ist auf ganzer Linie gescheitert.“ Vor dem Hintergrund der neuen Rechtslage könne ein haftungsrechtlich spezialisierter Medizinrechtsanwalt die Geltendmachung von Haftungsansprüchen aufgrund von Arzneimittelschäden nach § 84 Arzneimittelgesetz nur noch in Ausnahmefällen empfehlen, wenn keine andere Ursache als die Schädigung durch ein Arzneimittel denkbar ist, wie etwa bei Blutkonserven.
Von den mehreren Hundert Klagen gegen die deutsche Merck-Tochter MSD Sharp & Dohme GmbH, die hierzulande erhoben wurden, sind die meisten inzwischen mit Hinweis auf den fehlenden Kausalitätsbezug abgewiesen worden. Nur wenige Verfahren sind noch vor Gericht anhängig. Heynemann schätzt die Chancen auf Erfolg aber als äußerst gering ein. „Mir ist kein einziger Fall bekannt, in dem seit Einführung der Neuregelung des AMG ein pharmazeutischer Unternehmer verurteilt worden ist“, so der Medizinrechtler.
Unabhängige Gutachter fehlen
Über die genaue Zahl der Fälle lässt sich MSD mit Verweis auf noch laufende Verfahren nicht aus. Auch wehrt sich der Hersteller gegen den Vorwurf, bei Vioxx handele es sich um ein „fehlerhaftes“ Arzneimittel, da das Medikament nachweislich ein positives Nutzen-Risiko-Profil habe. Das Produkt sei daher kein geeignetes Beispiel für ein Arzneimittelhaftungsverfahren, erklärt Kurt Leidner, Sprecher des Unternehmens. Eine vergleichsweise Beilegung der Fälle wie in den USA ziehe MSD nicht in Erwägung. Jeder Fall sei anders gelagert und müsse nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden.
„In vielen Fällen haben gerichtliche Sachverständige bestätigt, dass die bei den Klägern vorbestehenden individuellen Risikofaktoren – und nicht Vioxx – die vorgebrachten Beschwerden erklären“, erläutert Leidner und bestätigt damit indirekt die vom BGH aufgestellte These der Wirkungslosigkeit der Arzneimittelhaftung aus Verbrauchersicht.
Der Internist und Gastroenterologe Prof. Dr. med. Siegfried-Ernst Miederer hat für eine solche Beweisführung zulasten der Patienten kein Verständnis: „Es gibt mit 60 oder 70 Jahren so gut wie keinen einzigen Patienten, der nicht einen anamnestisch erhebbaren oder labortechnischen Risikofaktor hat. Und wenn nur einer vorhanden ist, der deutlich ausgeprägt ist, sagt der Richter, das war’s. Das wissen natürlich die Pharmafirmen“, ärgert sich der Spezialist. Hinzu komme, dass die Richter in der Regel in Arzneimittelhaftungsverfahren auf externe Gutachter angewiesen seien, um die eingereichten Unterlagen fachlich beurteilen zu lassen. „Unabhängige und entsprechend qualifizierte Gutachter sind aber extrem rar“, sagt Miederer.
Viele Patienten könnten es sich zudem nicht leisten, einen Gutachter zu bezahlen, da die Rechtschutzversicherungen dies nicht immer abdeckten, während es für die Pharmafirmen kein Problem sei, einen ihnen genehmen Sachverständigen zu benennen und zu honorieren. Nach Meinung des Internisten müsste dringend ein zentrales Register von unabhängigen Gutachtern eingerichtet werden, auf das die Gerichte jederzeit zugreifen können.
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) führt zwar bereits eine Liste mit 145 Experten, die eingehend auf ihre Interessenkonflikte hin überprüft wurden. Aber auch Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der AkdÄ, glaubt, dass diese nicht ausreicht, um für Gerichtsverfahren genügend unabhängigen Sachverstand zur Verfügung stellen zu können, insbesondere wenn sich die Verfahren, wie in den Vioxx-Fällen, über mehrere Jahre hinziehen. „Für jemanden, der voll im Berufsleben steht, ist eine solche Gutachtertätigkeit nebenher zeitlich häufig nicht leistbar“, erklärt Ludwig. Viele der Sachverständigen scheuten daher den Aufwand.
Aus Sicht von Rechtsanwalt Miederer besteht ein grundlegendes Problem bei der Beweisführung darin, dass in Arzneimittelhaftungsfällen eine „Kette von gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungspunkten“ von den Klägern bewiesen werden muss. „In dieser Kette darf kein Glied fehlen, wenn die Klage Erfolg haben soll“, so Miederer. Noch weitgehend losgelöst vom Einzelfall sei der sehr schwierige und extrem umfangreiche Beweis zu erbringen, dass das Arzneimittel ein negatives Nutzen-Schaden-Verhältnis hat oder dass der Beipackzettel Angaben enthält, die nicht dem jeweiligen Wissensstand entsprechen.
Gesetz muss geändert werden
„Dann geht es erst so richtig in den individuellen Fall. Da muss der Patient beweisen, dass die Indikation stimmt, also dass er bezogen auf die Einnahme von Vioxx beispielsweise Arthrose oder Rheuma hatte. Dann muss er detailliert Rezepte oder Krankenkassenbescheinigungen vorlegen. Insbesondere wenn relativ wenige Verordnungen vorliegen, wird der Kläger akribisch gefragt, wann er das Medikament eingenommen hat – möglichst auf den Tag genau“, führt der Medizinrechtler aus. Wenn diese Hürde geschafft sei, gelte es, die Dosis zu belegen, denn die Studien basierten in der Regel auf 25 Milligramm. Erst dann folge der eigentliche Kausalitätsnachweis. „Jegliche Unsicherheit geht immer gleich zulasten des Patienten“, betont Mieder.
Peter Wewer, Leiter der Rechtsabteilung der AOK Nordost, die sich als eine von wenigen Krankenkassen bei Vioxx-Klagen für ihre Mitglieder starkgemacht hat, spricht sich deshalb dafür aus, das AMG zu überarbeiten: „Wir müssen von der Einzelfallhaftung wegkommen hin zu einer statistischen Beweislast.“ Patienten sollten Haftungsansprüche geltend machen können, wenn in einer Vielzahl von Fällen nachgewiesen werden konnte, dass immer wieder derselbe Schadensfall eingetreten ist.
Petra Spielberg
So steht es im Gesetz
§ 84 Arzneimittelgesetz regelt die Gefährdungshaftung:
(2) Ist das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet, den Schaden zu verursachen, so wird vermutet, dass der Schaden durch dieses Arzneimittel verursacht ist. Die Eignung im Einzelfall beurteilt sich nach der Zusammensetzung und der Dosierung des angewendeten Arzneimittels, nach der Art und Dauer seiner bestimmungsgemäßen Anwendung, nach dem zeitlichen Zusammenhang mit dem Schadenseintritt, nach dem Schadensbild und dem gesundheitlichen Zustand des Geschädigten im Zeitpunkt der Anwendung sowie allen sonstigen Gegebenheiten, die im Einzelfall für oder gegen die Schadensverursachung sprechen.
Die Vermutung gilt nicht, wenn ein anderer Umstand nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen.
Miederer, Siegfried Ernst