THEMEN DER ZEIT
Nocebo: Die dunkle Seite der menschlichen Einbildungskraft


Wissenschaftler verschiedener Disziplinen näherten sich auf einer Tagung einem in der Praxis noch wenig berücksichtigten Phänomen.
Böser Bruder des Placebo“: So lautet eine Beschreibung für den Nocebo-Effekt – ein Phänomen, bei dessen Erwähnung viele erst einmal mühsam herleiten müssen, worum es sich dabei handelt. Abgeleitet vom lateinischen nocere (schaden) und in Gegenüberstellung zum Begriff Placebo (ich werde gefallen) bedeutet Nocebo „Ich werde schaden“. Und so wie der Ausdruck Placebo-Effekt die positive Wirkung einer Scheinbehandlung bezeichnet, meint Nocebo-Effekt deren negative Folgen. Die Bedingung für seine Entstehung ist also das Wissen um etwaige schädliche Auswirkungen einer Therapie, der man sich zu unterziehen glaubt.
Für den Saarbrücker Internisten und Psychosomatiker Dr. med. Winfried Häuser zeigt sich im Nocebo-Effekt die „dunkle Seite der menschlichen Einbildungskraft“. Dabei wirkt die Macht der Einbildung nicht nur in Placebo-kontrollierten Studien. Ein Beispiel dafür liefert eine Studie mit männlichen Hypertonie-Patienten, die mit dem Betablocker Metoprolol behandelt und in drei Gruppen randomisiert worden waren (1): In der ersten Gruppe waren die Männer über die mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) einer erektilen Dysfunktion (ED) aufgeklärt worden. Den Mitgliedern der zweiten Gruppe hatte man nur mitgeteilt, dass sie Metoprolol erhalten würden, die mögliche Beeinträchtigung der Sexualität jedoch verschwiegen. Den Patienten im dritten Untersuchungsarm war zudem der Medikamentenname nicht genannt worden. Über die anderen mit Metoprolol assoziierten UAW hatte man sämtliche Teilnehmer der Studie informiert. Nach den Angaben in einem von den Patienten selbst auszufüllenden ED-Fragebogen (IIEF-Index) lag eine erektile Dysfunktion in der letzten Gruppe bei 8 Prozent vor, im zweiten Arm bei 13 Prozent und unter den vollständig über die Nebenwirkung informierten Studienteilnehmern bei 32 Prozent.
Die Studie weist auf das ethische Dilemma hin, das für den Arzt aus der Nocebo-Wirkung entsteht: Einerseits ist er zur Aufklärung des Patienten verpflichtet, andererseits läuft er Gefahr, gerade durch die Aufklärung seinem Patienten zu schaden und damit ein anderes ärztliches Gebot zu missachten: primum non nocere (zuerst nicht schaden).
Den klinischen und wissenschaftlichen Problemen, die durch die Nocebo-Wirkung entstehen, widmete sich vom 13. bis 15. September eine Veranstaltung im Tagungszentrum der Konrad-Adenauer-Stiftung am Comer See in Oberitalien. Organisiert wurde der Workshop vom Stuttgarter Medizinhistoriker Prof. Dr. Robert Jütte und unterstützt durch die Robert-Bosch-Stiftung. Vertreter verschiedener medizinischer Disziplinen, aber auch aus Psychologie, Linguistik, Rechtswissenschaft und Pharmazie trugen hier ihre Erkenntnisse zusammen.
Obwohl die Nocebo-Forschung ein vergleichsweise junges Gebiet ist und längst nicht so viele Studien vorliegen wie zum Placebo-Effekt, scheint das klinische Phänomen etabliert zu sein: Wie der Psychologe Prof. Dr. Winfried Rief, Marburg, referierte, brechen in kontrollierten klinischen Untersuchungen auch Patienten, die Placebo erhalten, ihre Teilnahme häufig wegen substanzspezifischer Nebenwirkungen ab. Überhaupt ähnelten die UAW in den Placebo-Armen oft verblüffend denen der Prüfmedikation. Bei unspezifischen Symptomen wie Müdigkeit oder Kopfschmerzen sei es jedoch schwer, zwischen einem Nocebo-Effekt und anderen Gründen zu unterscheiden. Dafür wären genauere Informationen über das Auftreten dieser Symptome in der interessierenden Population nötig, als sie üblicherweise vorliegen. Hier böte sich ein Ansatzpunkt für Versorgungsforschung – genauso wie etwa in Bezug auf die Wahrnehmung von Nebenwirkungen bei Impfungen in Abhängigkeit vom Ausmaß der Berichterstattung in den Medien.
Verschweigen oder aufklären
Viele Faktoren begünstigen die Entstehung von Nocebo-Effekten. So neigen ängstliche Patienten eher zur Entwicklung von Nocebo-Symptomen. Der Regensburger Anästhesist Prof. Dr. med. Ernil Hansen verwies auf die Bedeutung von Erwartungshaltungen, die durch die persönliche Umgebung oder auch durch Medienberichte geschürt würden, und führte eine Studie aus Neuseeland an, in der es um die Angst vor Infraschall aus Windkraftanlagen ging: Probanden, die einen Film über die vermeintlichen Gefahren von Infraschall gesehen hatten, gaben in einem anschließenden Experiment sowohl nach zehnminütiger Exposition gegenüber Infraschall als auch nach Schein-Exposition vermehrt Beschwerden an (2).
Im Zentrum der Erörterungen stand die Frage, ob man Patienten zu ihrem Nutzen unerwünschte Wirkungen von Therapien verschweigen dürfe – im Arztgespräch oder auch auf Beipackzetteln. Folgt man der Rechtsprechung, so wie sie der ehemalige Chirurg und Medizinrechtler Dr. med. Helge Hölzer, Sindelfingen, zusammenfasste, ist die Antwort eindeutig: Nein. Die Gerichte seien der Auffassung, dass Ärzte ihre Patienten vollständig über die Risiken von Behandlungen aufklären müssten. Die Basis für diese Einschätzung bilde die Annahme, Menschen seien in ihrer Entscheidungsfindung vollständig autonom, sogar in der Krankenrolle. Auch in die Arzneimittelregulation hat die Nocebo-Problematik noch keinen Eingang gefunden, erläuterte der Pharmazeut und ehemalige Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Prof. Dr. Harald G. Schweim, Bonn. Er wies darauf hin, dass eine wesentliche Bedeutung des Beipackzettels darin bestehe, durch Erwähnung von UAW möglichst viele Haftungsgründe für die Hersteller auszuschließen.
Eine Verbesserung der Packungsbeilage mahnte Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig an, Präsident der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ). Er schlug vor, sie um eine „Drug Facts Box“ zu erweitern, in der die wichtigsten Informationen zu Wirkungen und Nebenwirkungen für Patienten verständlich und evidenzbasiert dargestellt würden. Dabei seien grafische Darstellungen von Wahrscheinlichkeiten oft verständlicher als schriftliche. Gleichzeitig beschränkten sich Drug Facts Boxes auf die wesentlichen Aspekte und überließen die Patienten nicht den überbordenden Informationen herkömmlicher Packungsbeilagen.
Robert Jütte bündelte die ethische Debatte und hob dabei die Bedeutung der Aufklärung in der medizinischen Praxis hervor, zeigte aber auch Auswege aus dem Nocebo-Dilemma. Zum Beispiel könne man einem Patienten das Nocebo-Phänomen erklären und ihm anbieten, ihn über weniger gravierende UAW nicht zu informieren. Wichtig sei, dass der Patient im Sinne einer gemeinsamen Entscheidungsfindung in eine solche Praxis einwillige. Auch komme es bei der Aufklärung auf den Kontext an (Framing). Statt zu betonen, dass eine UAW – im Sinne der BfArM-Definition – häufig vorkomme, könne man auch betonen, dass 95 Prozent der Patienten diese Nebenwirkung nicht erlebten.
Wert offener Kommunikation
Tatsächlich entscheidet der Behandlungsrahmen viel: So war Winfried Rief der Ansicht, dass die Bedeutung reiner Information für eine erfolgreiche Behandlung überschätzt werde, und zwar schon allein deshalb, weil viele Fakten von den Patienten schlicht vergessen würden. Unterschätzt werde demgegenüber der Faktor emotionale Aufgehobenheit. Zur Aufgehobenheit gehöre beispielsweise, dass man dem Patienten vermittle, beim Auftreten von Nebenwirkungen helfen zu können. Auch Prof. Dr. med. Claudia Witt, Berlin, betonte den Wert des Framing und der offenen Kommunikation mit dem Patienten, bilanzierte aber: „Meine Hypothese ist, dass es im Praxisalltag schwerer ist, Nocebo-Effekte zu vermeiden als Placebo-Effekte auszulösen.“
Prof. Dr. med. Christopher Baethge
Medizinisch-Wissenschaftliche Redaktion des Deutschen Ärzteblattes
1. | Cocco G. Erectile Dysfunction after Therapy with Metoprolol: The Hawthorne Effect. Cardiology 2009; 112: 174–7 CrossRef MEDLINE |
2. | Crichton F, Dodd G, Schmid G, Gamble G, Petrie KJ: Can Expectations Produce Symptoms From Infrasound Associated With Wind Turbines? Health Psychol 2013; Mar 11 (Epub ahead of print) CrossRef MEDLINE |
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