KULTUR
Claude Bernard: Die Welt als Laboratorium


Der Wissenschaftstheoretiker und Physiologe wurde vor 200 Jahren geboren.
Zwei Hauptströmungen bestimmen im 19. Jahrhundert die Wissenschaftstheorie: Die Naturphilosophie auf der Grundlage der Gedanken Friedrich Wilhelm Schellings versucht, Geistes- und Naturwissenschaft einschließlich der Medizin zu verbinden. Ab etwa 1830 emanzipieren sich Naturwissenschaft und Medizin zunehmend von Philosophie und Theologie, zum ersten Mal nimmt die Naturwissenschaft eine Vorrangstellung ein. Kaum ein Vertreter der experimentellen Medizin hat ihre Grundlagen so sorgfältig bedacht wie der französische Physiologe Claude Bernard (1813–1878).
1813 in St. Julien im Departement Rhône geboren, studiert Bernard in Paris Medizin und promoviert in Medizin und Zoologie. Ab 1848 ist er Assistent von François Magendie am Pariser Hôtel-Dieu, später wird er Magendies Nachfolger am Collège de France. Magendie hat durch Beobachtung und Experiment bereits dazu beigetragen, eine spekulativ-romantische Naturwissenschaft zugunsten einer szientifischen Richtung zu verlassen.
Die Überwindung der Metaphysik in der Naturwissenschaft führt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Vielfalt der Methoden. An die Stelle einzelner Gelehrter tritt die „scientific community“, die nicht nur Ergebnisse liefert, sondern immer neue Fragen stellt und erörtert. In seinem theoretischen Hauptwerk „Einführung in das Studium der experimentellen Medizin“ (1865) beschreibt Bernard Vitalismus und Materialismus als Möglichkeiten, die Erscheinungen des Lebens zu betrachten. Am Vitalismus kritisiert er, dass dessen „Lebenskraft“ als immaterielles Prinzip naturwissenschaftlicher Forschung nicht zugänglich sei: „Die Gewohnheit, die Lebenskraft als Erklärung heranzuziehen, macht leichtgläubig und begünstigt das Eindringen von Irrtümern und Absurditäten in die Wissenschaft.“ Doch auch beim Materialismus ist Vorsicht geboten: Der kausalanalytische, wissenschaftliche Ansatz mit Methoden von Physik und Chemie erbringt entsprechende Ergebnisse, die nur physikalisch-chemisch gedeutet werden dürfen. Weder kann man so das Wesen der Materie erkennen, noch die Regelmäßigkeit und Harmonie physiologischer Vorgänge erklären: „Wir werden nie die Seele oder die Materie erkennen. Wir haben nur die Vorgänge zu untersuchen, die materiellen Bedingungen ihres Ablaufs zu erkennen und die Bedingungen ihres Auftretens festzustellen.“ Dabei bilden die einzelnen Tatsachen Bernard zufolge noch keine Wissenschaft, erst die Verallgemeinerung macht sie dazu. So verwahrt er sich gleichermaßen gegen eine „Überbewertung der Besonderheiten“ wie gegen ein „Übermaß der Verallgemeinerung“, das nicht mit der Wirklichkeit übereinstimme.
Bereits in seiner Dissertation beschäftigt sich Bernard mit der Verdauung und dem Zuckerstoffwechsel. Am Anfang steht die Erkenntnis, dass Rohrzucker unter Einwirkung von Magensaft vom Organismus aufgenommen werden kann. Eine mehr als zehnjährige Arbeit führt schließlich zur Entdeckung von Glykogen und seiner Synthese in der Leber. Dabei ist Bernard zeitlebens ein Verfechter auch grausamer Tierversuche. Berüchtigt ist sein Erwärmungsofen, in dem er 22 Kaninchen und 17 Hunde zunehmender Wärme aussetzte, bis sie starben. Eine Feier anlässlich Bernards 100. Geburtstag offenbart 1913 eine zerrissene Familie: Wegen der Tierversuche hatten seine beiden Töchter sich bereits zu seinen Lebzeiten von ihrem Vater abgewandt.
Christof Goddemeier
1. | Buchholz G: Die Medizintheorie Claude Bernards. Herzogenrath 1985. |