ArchivDeutsches Ärzteblatt42/2013Fetales Alkoholsyndrom: Oft fehldiagnostiziert und falsch betreut

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Fetales Alkoholsyndrom: Oft fehldiagnostiziert und falsch betreut

Becker, Gela; Hantelmann, Dorothea

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Deutlich erkennbar sind die Dysmorphien bei dem 15-jährigen Mädchen, weniger ausgeprägt sind sie bei dem 20-jährigen Mann. Beide haben das Vollbild FAS. Foto: FASD Deutschland
Deutlich erkennbar sind die Dysmorphien bei dem 15-jährigen Mädchen, weniger ausgeprägt sind sie bei dem 20-jährigen Mann. Beide haben das Vollbild FAS. Foto: FASD Deutschland

Durch eine erhöhte Sensibilisierung innerhalb der Ärzteschaft konnte die Unterdiagnostik der Fetalen Alkoholspektrumstörungen in den vergangenen Jahren verbessert werden. Im Erwachsenenbereich gibt es jedoch noch große, zum Teil strukturell bedingte Defizite.

Störungen aufgrund einer fetalen Alkoholexposition werden unter dem Oberbegriff der Fetalen Alkoholspektrumstörungen („Fetal Alcohol Spectrum Disorder“ – FASD) zusammengefasst; deren Vollbild wird als Fetales Alkoholsyndrom (FAS) bezeichnet. Die Prävalenz von FAS liegt in Deutschland zwischen 0,2 bis 8,2 pro 1 000 Geburten. „Das Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms tritt nach Expertenschätzung nur bei zehn Prozent aller Kinder mit pränatalen Alkohol-Folgeschäden auf. Das bedeutet, dass FASD eine der häufigsten angeborenen Erkrankungen darstellt, ohne als solche bislang erkannt und berücksichtigt zu werden.“ (1)

In der Diagnostik des Kinder- und Jugendlichenbereiches konnten in den vergangenen Jahren große Fortschritte erzielt werden, die im Dezember 2012 zur Veröffentlichung einer S3-Leitlinie geführt haben (siehe Kurzfassung der Klinischen Leitlinie in diesem Heft). Demgegenüber sind Diagnostik und Therapie im Erwachsenenbereich weit weniger entwickelt. Erwachsene mit FASD leben heute oft nicht oder fehldiagnostiziert sowie falsch behandelt in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, Justizvollzugsanstalten oder in der Obdachlosigkeit.

Problematisch ist zunächst die Diagnose. Denn alle äußeren Anzeichen wie faciale Auffälligkeiten, Wachstumsauffälligkeiten oder ein Microcephalus können sich „ausgewachsen“ haben – müssen es aber nicht. In der Arztpraxis ist die Überprüfung dieser äußeren Auffälligkeiten – trotz des verständlichen Widerwillens gegenüber der Messung von Kopfumfang und Gesichtsmerkmalen – wichtig, um eine Diagnose zu stellen. Sind keine sichtbaren Auffälligkeiten mehr vorhanden, sollten Hinweise auf eine intrauterine Alkoholbelastung eine besondere Bedeutung für die Nachdiagnostik erhalten. Hilfsweise können Kinderfotos und frühe diagnostische Unterlagen, gegebenenfalls auch Berichte von Jugendämtern, herangezogen werden.

Vorgenommen werden sollte die Diagnose von einem multiprofessionellen Team unter differenzialdiagnostischer Überprüfung der Überschneidung mit anderen Syndromen wie dem Williams-Syndrom oder dem Dubowitz-Syndrom (1). Fehldiagnosen können zudem entstehen, wenn FASD mit der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung verwechselt wird.

Bei Erwachsenen mit FASD können komorbide Störungen wie Depressionen, Angststörungen, Impulskontrollstörungen sowie ein erhöhtes Risiko für Suchterkrankungen, Auffälligkeiten im Sexualverhalten und dissoziale Entwicklungen hinzukommen (2, 3). In der Folge können massive Anpassungsstörungen an gesellschaftliche Normen in allen Lebensbereichen auftreten: mit Nichteinhaltung von Terminen, teils delinquentem Verhalten und begrenzter Lernfähigkeit.

Vielfältige Auswirkungen

Die Auswirkungen einer fetalen Alkoholexposition auf den kognitiven Bereich stellen sich im Erwachsenenalter vielfältig dar und reichen bis zu schwerer geistiger Behinderung. Die Folge sind Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die das Erfassen abstrakter sowie sozialer Relationen erheblich beeinträchtigen. Diese erklären sowohl die Tendenz zum sozialen Rückzug als auch die Angst vor neuen Situationen sowie Suggestibilität, Umtriebigkeit und Ausbeutbarkeit in jeglicher Hinsicht.

Grundsätzlich sind auf der Erscheinungsebene zwei Phänotypen zu unterscheiden, die häufig erst in der Adoleszenz sichtbar werden: Die eine Gruppe reagiert auf Reizüberflutung mit Angst und Rückzug, die andere mit Weglauftendenz und Umtriebigkeit. Beiden Gruppen gemein ist, dass die Betroffenen aufgrund ihrer hirnorganisch bedingten Suggestibilität jedem folgen, der nett zu ihnen ist. Deshalb sind sie stark gefährdet, ausgenutzt zu werden.

FASD im Erwachsenenalter zu diagnostizieren, ist schwer. Nicht weniger schwer ist es, die Betroffenen den richtigen Hilfesystemen zuzuordnen. Die Scheidegrenze bei der Zuordnung zu einer geistigen Behinderung liegt heute bei einem Intelligenzquotienten (IQ) von 69, der die Behinderung vom Normbereich trennt.

IQ-Tests zu sprachlastig

Erwachsene mit FASD haben nicht selten einen IQ von über 70 und damit eine Intelligenz im Normbereich (4). Infolge einer Einschränkung der Exekutivfunktion (5, 6) sowie weiterer Auffälligkeiten im Bereich des Zentralen Nervensystems (ZNS) sind sie jedoch oft nicht in der Lage, ihre Intelligenz angemessen zu nutzen. Auch bei maximaler Förderung wird es ihnen nicht mehr möglich sein, ein Leben ohne Betreuung führen zu können. Bei dem Versuch, diese Menschen zu verselbstständigen, werden sie chronisch überfordert. Das kann Auswirkungen auf ihren Gesundheitszustand haben. Denn diese Überforderung kann bei ihnen erhebliche Spannungszustände auslösen. Die Folgen sind seelische Störungen oder Suchterkrankungen.

Welche Auswirkungen die fehlende Diagnostik hat, zeigt ein Vergleich sekundärer Störungen bei Erwachsenen mit dem Vollbild FAS und solchen mit Fetalen Alkoholeffekten (FAE), also einem partiellen FAS. Weil erstere in den für sie angemessenen Einrichtungen adäquat betreut werden, liegen die sekundären Störungen bei ihnen niedriger als bei Menschen, die von fetaler Alkoholexposition weniger stark betroffen sind, die jedoch von der Gesellschaft nicht ausreichend geschützt werden

Vergleich sekundärer Störungen bei FAS und FAE (Partielles FAS)
Grafik
Vergleich sekundärer Störungen bei FAS und FAE (Partielles FAS)
(Grafik) (3).

Die heute durchgeführten IQ-Tests sind zu sprachlastig. In der Folge werden die nicht-sprachlichen, aber dennoch gravierenden Defizite der Betroffenen nicht selten übersehen, und es kommt zu falschpositiven Ergebnissen. Das Ziel muss es also sein, die Intelligenzdiagnostik mit Blick auf das klinische Bild im Bereich der Teilhabe zu relativieren und eine zielgerichtetere Zuordnung der Betroffenen in die vorhandenen Hilfesysteme zu erreichen. Dafür stehen heute bereits geeignete Tests zur Verfügung, zum Beispiel differenzierte neuropsychologische Verfahren, mit denen die Einschränkungen insbesondere der exekutiven Funktionen objektiviert werden können. Für ein Screening ist trotz fehlender Eichung für Deutschland das Verhaltensinventar zur Beurteilung exekutiver Funktionen (VIEF) empfehlenswert. Für die ZNS-Dysfunktion können zudem der Corsi-Block-Tapping-Test oder das Diagnosticum für Cerebralschädigungen (DCS) angewandt werden, für Einschränkungen der exekutiven Funktionen die Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) sowie der Regensburger Wortflüssigkeitstest (RWT). International gebräuchlich und hier inzwischen auch häufig verwandt werden „der Turm von London“ und der Wisconsin-Card-Sorting-Test.

Versorgungslücken schließen

Im Kinder- und Jugendlichenbereich wird sich die Situation chronischer Unterdiagnostik, zumindest was das Vollbild FAS betrifft, in den kommenden Jahren deutlich verbessern (7). Die Auswirkungen werden sich künftig auch im Erwachsenenbereich zeigen. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Zum anderen lassen sich durch die größere Sensibilisierung im Kinder- und Jugendlichenbereich nun auch für den Erwachsenenbereich Versorgungslücken konkretisieren:

  • Aufgrund des großen Bedarfs erscheint die Entwicklung einer länderübergreifenden Beratungsstelle für die Suche nach geeigneten Folgeeinrichtungen für den Erwachsenenbereich wünschenswert.
  • Die Entwicklung diagnostischer Leitlinien auch für erwachsene Menschen mit FASD sollte überprüft werden, auch wenn die Forschungslage hier sicherlich nicht das Niveau einer S3-Leitlinie erreicht.
  • Der Aufbau von Diagnosezentren für die Nachdiagnostik von Erwachsenen ist erforderlich, da Fachdienste und Ambulanzen auf die Recherche zur Alkoholanamnese sowie die umfangreiche neuropsychologische Testdiagnostik nicht ausgerichtet sind.
  • Zitierweise dieses Beitrags:
    Dtsch Arztebl 2013; 110(42): A 1944–5

Anschrift für die Verfasser
Dipl.-Psych. Gela Becker
Evangelischer Verein Sonnenhof e.V.
Neuendorfer Straße 60, 13585 Berlin
gb@ev-sonnenhof.de, www.fasd-beratung.de

@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4213

1.
Landgraf, M. Heinen, F. (2012) S3-Leitlinie. Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms. Verfügbar unter: www.awmf.org.
2.
Kellerman, T. (2000–2002) Secondary Disabilities in FASD. Verfügbar unter: www.come-over.to/FAS/fasconf.htm.
3.
Streissguth AP, Barr HM, Kogan J, Bookstein FL, Sampson PD, K O` Malley (2004) Risk Factors for Adverse Life Outcomes in Fetal Alcohol Syndrome and Fetal Alcohol Effects, Seattle: Universitiy of Washington.
4.
Juretko, K. (2006) Das Muster kognitiver Funktionsstörungen bei Patienten mit fetalem Alkoholsyndrom und fetalen Alkoholeffekten Schwerpunkt: Die Intelligenz. Verfügbar unter: http://fasd-deutschland.de/cms/upload/Fachbereich/Veroeffentlichungen/dokserv.pdf.
5.
Kolb und Wishaw (1993) Neuropsychologie, Spektrum Akademischer Verlag.
6.
Rasmussen,C. (2005) Executive Functioning and Working Memory in Fetal Alcohol Spectrum Disorder. Alcoholism: Clinical and Experimental Research, 29 (8)
7.
Paditz, E. (2012) FASD 2012 Alkoholgeschädigte Kinder und pränatale Alkoholexposition: wie oft? Verfügbar unter: http://www.kleanthes.de/neu-download-fasd/
Evangelischer Verein Sonnenhof e.V.: Dipl.-Psych. Gela Becker
Sozialpsychiatrischer Dienst Spandau: Dorothea Hantelmann
Vergleich sekundärer Störungen bei FAS und FAE (Partielles FAS)
Grafik
Vergleich sekundärer Störungen bei FAS und FAE (Partielles FAS)
1. Landgraf, M. Heinen, F. (2012) S3-Leitlinie. Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms. Verfügbar unter: www.awmf.org.
2.Kellerman, T. (2000–2002) Secondary Disabilities in FASD. Verfügbar unter: www.come-over.to/FAS/fasconf.htm.
3.Streissguth AP, Barr HM, Kogan J, Bookstein FL, Sampson PD, K O` Malley (2004) Risk Factors for Adverse Life Outcomes in Fetal Alcohol Syndrome and Fetal Alcohol Effects, Seattle: Universitiy of Washington.
4.Juretko, K. (2006) Das Muster kognitiver Funktionsstörungen bei Patienten mit fetalem Alkoholsyndrom und fetalen Alkoholeffekten Schwerpunkt: Die Intelligenz. Verfügbar unter: http://fasd-deutschland.de/cms/upload/Fachbereich/Veroeffentlichungen/dokserv.pdf.
5.Kolb und Wishaw (1993) Neuropsychologie, Spektrum Akademischer Verlag.
6.Rasmussen,C. (2005) Executive Functioning and Working Memory in Fetal Alcohol Spectrum Disorder. Alcoholism: Clinical and Experimental Research, 29 (8)
7.Paditz, E. (2012) FASD 2012 Alkoholgeschädigte Kinder und pränatale Alkoholexposition: wie oft? Verfügbar unter: http://www.kleanthes.de/neu-download-fasd/

Kommentare

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Avatar #886476
MaikenL
am Montag, 31. Mai 2021, 14:57

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Da werden Jugendliche abgelichtet im Internet, frei zugänglich für jeden der googeln kann ohne Rücksicht auf sie oder ihre Leben, ihre Zukunft.
Man weist dabei darauf hin auf angebliche Gesichtsauffälligkeiten, die auf FAS hinweisen. Es sind keine Objekte, die da zur Schau stehen. Es sind Menschen mit Recht auf Schutz des eigenen Bildes. Danke.

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