POLITIK
124. Hauptversammlung des Marburger Bundes: Stopp dem DRG-System in der jetzigen Form


Die Ärztegewerkschaft fordert grundlegende Korrekturen am Abrechnungssystem für Krankenhausleistungen. Rudolf Henke bleibt Vorsitzender des Bundesverbandes.
Dieses Signal wird die neue Bundesregierung kaum ignorieren können, wenn sie die Krankenhausfinanzierung tatsächlich grundlegend reformieren will, wie es führende Gesundheitspolitiker von Union und SPD wiederholt angekündigt haben: Die Hauptversammlung des Marburger Bundes (MB), oberstes Beschlussorgan der Klinikärztegewerkschaft mit inzwischen mehr als 114 000 Mitgliedern, hat die politisch Verantwortlichen aufgefordert, das flächendeckend angewandte DRG-System zur Abrechnung stationärer Leistungen durch ein differenziertes, dem Versorgungsbedarf entsprechendes Abrechnungssystem zu ersetzen. „Stopp dem DRG-System in der jetzigen Form!“, lautet der Titel des entsprechenden Beschlusses, den die knapp 200 Delegierten am 26. Oktober in Berlin mit großer Mehrheit fassten.
„Wir Ärzte werden zunehmend als Produktionsmittel instrumentalisiert und können unseren eigentlichen Auftrag am Patienten nicht mehr angemessen erfüllen“, betonte die Hauptversammlung. Dies führe verstärkt zu ethischen Konflikten in den Kliniken. Die kurative, helfende Medizin werde immer weiter marginalisiert. Ein alternatives System dürfe zwar weiterhin die Kalkulation bestimmter einfach standardisierbarer Leistungen anhand von Fallpauschalen beinhalten, müsse sich aber vordringlich an dem bestehenden, regional durchaus unterschiedlichen Versorgungsbedarf und der Versorgungsqualität ausrichten. Nur so könne der im DRG-System immanenten Dominanz ökonomischer Fehlanreize entgegengewirkt und damit der Gefahr medizinisch fragwürdiger Mengenausweitungen nachhaltig begegnet werden.
„Dieser Beschluss ist das Stoppschild für die Politik, dass es so nicht weitergeht“, unterstrich Dr. med. Hans-Albert Gehle vom MB-Landesverband Nordrhein-Westfalen/Rheinland-Pfalz und Mitglied des MB-Bundesvorstandes. Die Situation in den Kliniken werde allmählich unerträglich. „Wäre das DRG-System ein Medikament, müsste man es sofort vom Markt nehmen, weil zu viele Nebenwirkungen auftreten“, ergänzte Dr. med. Günter Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin.
„Wir Ärzte wollen eine Medizin, die das tut, was am meisten hilft, und nicht das, was am meisten bringt“, hatte der MB-Bundesvorsitzende Rudolf Henke bereits tags zuvor im öffentlichen Teil der Hauptversammlung betont, der sich ausschließlich dem Thema Krankenhausfinanzierung widmete. Voraussetzung dafür sei aber eine auskömmliche Finanzierung der Kliniken: „Im jetzigen DRG-System ist es so, dass jede Vorhaltung von Leistungen durch das Erbringen von Leistungen finanziert werden muss.“ Daraus ergebe sich dann letztlich der Vorwurf, in den Krankenhäusern würde zu viel operiert. Der MB-Vorsitzende plädierte dafür, bedarfsnotwendigen Krankenhäusern Versorgungszuschläge zu zahlen, um Druck aus dem System zu nehmen. Der gesetzlich bereits fixierte Sicherstellungszuschlag finde in der Praxis wegen seiner restriktiven Ausgestaltung kaum Anwendung. Das aktuelle DRG-System als 100-prozentiges Preissystem in Verbindung mit der strikten Deckelung der Preise führe zu einer „Erosion ethischer Grundsätze“ in den Kliniken, warnte Henke.
Problematisch sei insbesondere auch der Rückzug der Bundesländer aus der Investitionsfinanzierung: „Die Mitarbeiter in den Krankenhäusern leiden jeden Tag darunter, dass die Investitionsmittel nicht ausreichen“, so der Vorsitzende der Ärztegewerkschaft. Um notwendige Investitionen zu tätigen, seien die Krankenhäuser gezwungen, Betriebsmittel zu verwenden, die eigentlich den Klinikbeschäftigten zugute kommen sollten. Vor diesem Hintergrund plädierte Henke für eine von Bund und Ländern gemeinsam getragene „nationale Kraftanstrengung“ zur ausreichenden Finanzierung der Investitionskosten in den Krankenhäusern: „Krankenhausplanung und Krankenhausfinanzierung müssen in staatlicher Verantwortung bleiben.“ Eine Finanzierungsbeteiligung der Kassen an den Investitionen sei abzulehnen, weil dies immer mit einer Beteiligung der Kostenträger an der Planungsverantwortung verbunden sei.
Die Finanzierungsverantwortung von der Planungsverantwortung zu entkoppeln werde nicht funktionieren, meinte auch Uwe Deh vom AOK-Bundesverband. Derzeit steuere das System auf eine schleichende Monistik zu, also eine Finanzierung der Kliniken nur noch durch die Krankenkassen – „und durch die Schuldenbremse für die Bundesländer ab 2020 wird deren Finanzierungsbereitschaft sicher nicht größer“. Wenn der Trend sich fortsetze und die Kassen die Krankenhäuser irgendwann nahezu allein finanzierten, müsse daraus auch eine Kompetenzerweiterung resultieren. Deh forderte unter anderem, für planbare Leistungen Spielraum für einen Qualitätswettbewerb unter den Krankenhäusern zu schaffen. Im Klartext dürfte das heißen, dass die Kassen für solche elektiven Leistungen selektiv Verträge mit einzelnen Krankenhäusern abschließen könnten.
Dr. med. Elke Buckisch-Urbanke war das alles zu theoretisch: „Meine Geduld ist am Ende. Während wir hier diskutieren, werden die Beschäftigten in den Krankenhäusern weiter in Geiselhaft genommen“, sprach die Vorsitzende des MB-Landesverbandes Niedersachsen vielen Delegierten aus der Seele. Wegen der Unterfinanzierung der Krankenhäuser – Niedersachsen als Flächenland mit einem relativ niedrigem Landesbasisfallwert ist hier besonders betroffen –, müssten die Ärzte und Pflegekräfte Notlagentarifverträge oder andere Sonderopfer akzeptieren. „Wenn ihr nicht zustimmt, geht das Krankenhaus insolvent, heißt es dann“, berichtete Buckisch-Urbanke. Inzwischen sei die Substanz in vielen Krankenhäusern gefährdet, ein Umsteuern überfällig.
Wie ein solches Umsteuern aus Sicht des MB aussehen sollte, zeigt ein Beschluss auf, den die Hauptversammlung auf Antrag des Vorstands nach intensiver Diskussion und zahlreichen Änderungen (vor allem initiiert durch Dr. med. Christian Köhne, Nordrhein-Westfalen/Rheinland-Pfalz), einstimmig verabschiedete. Durch das DRG-System gesetzte Fehlanreize müssten sofort korrigiert werden, heißt es darin: „Zumindest dort, wo eine Finanzierung mit Pauschalen an ihre Grenzen stößt, muss das System sinnvoll verändert werden.“ Dies betreffe Leistungen, die mit DRG-Pauschalen nicht sachgerecht vergütet werden können, wie zum Beispiel Extremkostenfälle, Leistungen der Organtransplantation und umfangreiche intensivmedizinische Leistungen, Ausgaben im Rahmen der Weiterbildung sowie zur Sicherstellung des Versorgungsauftrages von Plankrankenhäusern und die darüber hinausgehenden besonderen Aufgaben der Universitätsklinika sowie der Maximalversorger. Diese seien aus der Kalkulationsbasis der DRGs herauszunehmen und über krankenhausindividuelle Zuschläge auszugleichen.
Ungeduldig ist man beim MB, was die Umsetzung des beim 116. Deutschen Ärztetag in Hannover mühsam gefundenen Kompromisses zur Weiterbildung in der ambulanten Versorgung angeht. Den Weiterzubildenden in einer ambulanten Weiterbildungsstätte müsse garantiert werden, dass sie mindestens die gleichen tariflichen Konditionen wie an einer stationären Weiterbildungsstätte vorfinden, hatte das Ärzteparlament im Mai beschlossen. Ein Vertrag mit dem MB solle dies sicherstellen. Für die arbeitgeberseitige Vertragspartnerschaft werde zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und den betroffenen ärztlichen Berufsverbänden ein funktionsfähiges Organisationsmodell entwickelt. Dies ist bislang nicht erfolgt. Deshalb fordert die MB-Hauptversammlung die KBV nun auf, „möglichst bald das beschlossene Organisationsmodell vorzulegen, damit eine entsprechende Tarifgestaltung für die Vergütung der Weiterzubildenden an ambulanten Weiterbildungsstätten mit dem MB verhandelt werden kann“.
Keine Diskussion gab es bei der Wiederwahl des Vorsitzenden: Mit 177 der 194 gültigen Stimmen bestätigten die Delegierten Rudolf Henke, Internist, Präsident der Ärztekammer Nordrhein und CDU-Bundestagsabgeordneter, in seinem Amt. Zweiter Vorsitzender bleibt Dr. med. Andreas Botzlar, Bayern. Auch die weiteren Mitglieder des Bundesvorstandes wurden wiedergewählt.
Jens Flintrop