

Die Ursache – schön, wenn man sie gefunden hat. Denn erst dann, und nur dann, kann man wirklich (und natürlich nachhaltig) etwas dagegen tun. Und zwar so richtig grundsätzlich, endgültig und prinzipiell.
Dieses mechanistische Denken steckt in vielen Köpfen, fast scheint es ein deutsches Spezifikum zu sein, nahezu faustisch. Goethe hätte es nicht favorisiert. Jedenfalls hat der liebe Gott die Unverschämtheit besessen, Krankheiten zuzulassen, bei denen selbst im wissenschaftlichen Zeitalter die Ursache unbekannt ist – trotz Laboruntersuchungen, Ganzkörperkernspintomographien, Genanalysen, von den überaus wichtigen, flächendeckend praktizierten Knochendichtemessungen ganz zu schweigen. Dies gilt insbesondere für psychische Erkrankungen. Für Hysteriker mal dramatisch, mal interessant, für Paranoiker hochverdächtig, für Anankasten unerträglich. Und alle können unerträglich für die Psychiater werden, trotz Balintgruppen und kontinuierlicher Supervision. Doch nicht nur Patienten, auch ihre behandelnden Ärzte dürfen mal genervt sein. Keine Sorge, für sie ist ebenfalls professionelle Hilfe im Angebot. Berufsspezifische Burn-out-Kliniken gibt es schließlich nicht nur für Lehrer, Polizisten oder Sozialpädagogen.
Bei dem manischen Schielen nach der Ursache springen auch somatische Krankheiten nicht aus der Reihe. Weder rheumatoide Arthritis, Pankreas-Karzinom, Morbus Hodgkin, Morbus Parkinson, Alzheimer, multiple Sklerose noch die arterielle Hypertonie, an der in den westlichen Industrienationen 50 Prozent der über 50-Jährigen erkrankt sind, können stolz von sich behaupten, ihre Ätiologie sei bekannt. Trotz intensivster Forschungsbemühungen tut sie uns diesen Gefallen nicht. Gleiches gilt für die Schizophrenie. Die betreffenden Patienten galten im Mittelalter als vom Teufel besessen oder von bösen Dämonen verhext, im Zuge der 68er-Revolte als eigentlich Gesunde (wenigstens für Psychiater mit kritischem Bewusstsein) und spätestens seit den 1980er Jahren überwiegend als Opfer einer biochemischen Entgleisung mit genetischem Hintergrund, flankiert von schicksalhaften soziologischen Umständen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Forschung und Wissenschaft sollen nicht diskreditiert werden. Ebenso wenig soll Esoterikern, Kaffeesatzlesern, Handauflegern oder Geistheilern der Weg geebnet werden. Dieser soll vielmehr geöffnet werden für ursachenfixierte Patienten, die sich auf die symptomatische Therapie (noch) nicht einlassen können und stattdessen stundenlang über das Drama der immer noch nicht gefundenen Ursache ihrer Erkrankung (manchmal auch Pseudoerkrankung) monologisieren. Einige wird man durch den Hinweis auf millionenfach erfolgreiche Blutdrucktherapien trotz unbekannter Ursache überzeugen können. Andere durch die Analogie vom sinkenden Schiff, wo Passagiere eilig in die Rettungsboote stürmen und niemand auf die Idee kommt, das schon längst überflutete Riesenleck abzudichten. So richtig schwierig wird es bei den Internetgläubigen mit fließendem Übergang zu Cyberchondern. Hier kann schon mal das kommunikative Geschick des Arztes an seine Grenzen stoßen. Oder an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit der entsprechenden Zeitgenossen. Das wiederum wäre ein neuer Markt für Power-Talking-Kurse, die diese Grenzen natürlich empathisch und behutsam überwinden werden. Aber vielleicht – aller Achtsamkeit und Empathie zum Trotz – wirkt hier ja auch der direkte Hinweis auf die digitale Demenz.
Ulrich, Gerald