ArchivDeutsches Ärzteblatt47/2013Assistierte Reproduktion: Eher „beruhigende“ Daten zur geistigen Entwicklung

MEDIZINREPORT: Studien im Fokus

Assistierte Reproduktion: Eher „beruhigende“ Daten zur geistigen Entwicklung

Leinmüller, Renate

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Weltweit sind Schätzungen zufolge mehr als 5,5 Millionen Kinder mittels assistierter Reproduktion (ART) gezeugt worden. Die Verfahren bergen ein geringes, wenngleich signifikantes Risiko für Störungen der geistigen und psychischen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter, wie zwei skandinavische populationsbasierte Kohortenstudien ausweisen.

In der dänischen Studie (1) wurden Registerdaten verknüpft, um das absolute Risiko (AR) und die Hazard-Rate (HR) für geistige Entwicklungsstörungen allgemein und spezielle Krankheitsbilder zu bestimmen. In die Studie gingen 33 139 Kinder nach intrauteriner Insemination (IUI, mit und ohne ovarielle Stimulation) und In-vitro-Fertilisation (IVF, mit und ohne intrazytoplasmatischer Spermieninjektion [ICSI]) im Alter von 8 bis 17 Jahren ein. Kontrollen waren 555 828 spontan konzipierte Kinder.

Das Risiko für mentale Störungen bei IVF/ICSI-Kindern lag insgesamt nicht höher, abgesehen von Tic-Störungen mit grenzwertiger Signifikanz (HR 1,40; 95-%-Konfidenzintervall [KI]: 1,01–1,95; AR 0,3 %). Demgegenüber fand man bei IUI-Kindern ein zwar geringgradig, aber signifikant erhöhtes Risiko für mentale Störungen allgemein (HR 1,2; 95-%-KI: 1,11–1,31; AR 4,1 %), für autistische Störungen (HR 1,2; 95-%-KI: 1,05–1,37; AR 1,5 %), für hyperkinetische Störungen (HR 1,23, 95-%-KI: 1,08–1,40; AR 1,7 %), für Verhaltensstörungen (HR 1,21, 95-%-KI: 1,02–1,45; AR 0,8 %) und Tic-Erkrankungen (HR 1,51, 95-%-KI: 1,16–1,96; AR 0,4 %).

Die schwedische Studie (2) hatte zum Ziel, Assoziationen von Autismus und mentaler Retardierung aufzudecken, und korrelierte Daten von spontan und nach IVF konzipierten Kindern. In dieser Gruppe wurde zusätzlich nach unterschiedlichen IVF-Techniken differenziert. In die populationsbasierte prospektive Kohortenstudie gingen mehr als 2,5 Millionen Kinder ein, 30 959 (1,2 %) davon IVF-Kinder. 103 der 6 959 Kinder mit Autismus und 180 von 15 830 der mental Retardierten waren IVF-Kinder (1,5 bzw. 1,1 %).

Verglichen mit spontan konzipierten Kindern gab es kein erhöhtes Risiko für Autismus, aber ein geringgradig signifikantes Risiko für eine verzögerte geistige Entwicklung (Relatives Risiko [RR] 1,18; 95-%-KI: 1,01–1,36) der IVF-Mehrlinge. Bei IVF-Einlingen bestand dieser Unterschied nicht. Im direkten Vergleich beider Techniken ging die ICSI-Methode bei Einlingen mit einem höheren Risiko für mentale Retardierung einher als die IVF: Dies war sowohl beim Transfer frischer (RR 1,60; 95-%-KI: 1,00–2,57) als auch aufgetauter Embryonen (RR 2,36; 95-%-KI: 1,04–5,36) der Fall und bei Verwendung ejakulierter Spermien (RR 1,47; 95-%-KI: 1,03–2,09). Bei Mehrlingen, nicht aber bei Einlingen, wurde beim Einsatz testikulärer Spermatozoen ein signifikant erhöhtes Risiko für Autismus (RR 4,6; 95-%-KI: 2,14–9,88) und mentale Retardierung (RR 2,35; 95-%-KI: 1,01–5,45) gefunden.

Fazit: Die Ergebnisse dieser Studien mit vergleichsweise hohen Fallzahlen und langem Follow-up wertet Prof. Dr. med. Heribert Kentenich, Berlin, als „eher beruhigend“: Kleinere Untersuchungen hätten in der Vergangenheit ein höheres Risiko der ART-Techniken für Autismus und mentale Retardierung nahegelegt. „Ein gesundes Kind zu versprechen, ist im Rahmen einer Sterilitätstherapie nicht möglich“, so der Reproduktionsmediziner unter Verweis auf das bekannte erhöhte Risiko bei Zwillingen. Auch ART-Einlinge seien durch erhöhte Frühgeburtlichkeit und SGA (small for gestational age) stärker gefährdet.

„ICSI scheint möglicherweise mit besonderen Risiken behaftet zu sein, wie wir es aus einigen Studien zu Geburtsauffälligkeiten kennen“, meint Kentenich. „Auch die methodisch sehr gute schwedische Studie scheint dies zu bestätigen. Meine Schlussfolgerungen daraus: Die Indikation für ICSI muss differenziert gestellt werden, und es bedarf bei dieser Methode einer besonderen Aufklärung der ungewollt kinderlosen Paare.“ Dr. rer. nat. Renate Leinmüller

  1. Bay B, et al.: Fertility treatment and risk of childhood and adolescent mental disorders: register based cohort study. BMJ 2013; 347: doi: 10.1136/bmj.f3978 MEDLINE
  2. Sandin S, et al.: Autism and mental retardation among offspring born after In vitro fertilization. JAMA 2013; 310: 75–84. MEDLINE

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