MEDIZIN: Zur Fortbildung
Serie: Funktionelle Störungen – Funktionelle Herzbeschwerden
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Non-cardiac Chest Pain
Chest pain and palpitations are frequent symptoms in community and general medical settings. Many patients
have no underlying physical disease. Psychological factors are often implicated in the development of these
symptoms. A bio-psycho-social model integrates aspects of personality, predisposing physical conditions, and
psychosocial factors which may trigger the onset and chronification of functional cardiac symptoms. Treatment
should aim at interrupting the vicious circle of repeated somatic assessments and patients’ anxious preoccupation
with their cardiac function. Besides basic psychosocial counselling provided by primary care physicians, some
patients will need drug treatment and/or psychotherapy.
Key words: Non-cardiac chest pain, palpitations, anxiety, somatoform disorders, diagnosis, treatment,
psychosomatic medicine
Herzbezogene Beschwerden wie thorakale Schmerzen, Palpitationen und Dyspnoe zählen mit Prävalenzen
zwischen 10 und 25 Prozent zu den häufigsten Symptomen in der Bevölkerung sowie in allgemeinmedizinischen
und internistischen Praxen (16-20). Dabei ist in bis zu 70 Prozent eine körperliche Ursache nicht erkennbar und
dann auch mit weiterführender, teurer Diagnostik im Verlauf oft nicht zu sichern. Viele Patienten erhalten gegen
diese "funktionellen" Beschwerden keine hilfreiche Behandlung.
Nosologische Bemerkungen
Historisch existiert eine Vielzahl von Benennungen funktioneller Herzbeschwerden, die oft mit bestimmten
Vorstellungen von ihrer Genese verknüpft sind. Im deutschen Sprachraum liegt eine Fülle von Literatur zur
"Herzneurose" und "Herzphobie" vor, die eine klare, psychogenetische Kausalattribution enthält. Englische
Synonyma sind "soldiers heart", "anxiety neurosis" oder "neurocirculatory asthenia". Untersuchungen der 60er
und 70er Jahre beschrieben diese Krankheitsbilder als Phänomene des jungen Erwachsenenalters, während ihre
Prävalenz jenseits des 40. Lebensjahres drastisch abnehmen soll (5, 28). Retrospektiv kann freilich festgestellt
werden, daß es sich hierbei nicht um bevölkerungsrepräsentative Stichproben handelte, sondern um die Klientel
psychotherapeutischer Institutionen.
Herzbeschwerden ohne Herzkrankheit?
Erst mit Verspätung wurde deutlich, daß somatisch unzureichend erklärte kardiale Beschwerden auch bei älteren
Patienten relativ häufig vorkommen. Während diese Beschwerden vor Einführung angiographischer
Untersuchungsmethoden auf eine vermutete Koronarerkrankung (KHK)
zurückgeführt wurden, konnte seit Anfang der 70er Jahre gezeigt werden, daß unter erstmals
koronarangiographierten Patienten 10 Prozent bis 50 Prozent keine wesentliche Herzerkrankung aufweisen. Bei
diesen älteren Patienten, die im Gegensatz zu den jungen "Herzneurotikern" typischerweise von Kardiologen
oder Allgemeininternisten gesehen wurden, wurde - auch zur Befriedigung des ärztlichen Kausalbedürfnisses -
immer wieder versucht, eine internistische Ursache der Symptomatik zu identifizieren. Dabei fanden sich in
Subgruppen der Patienten unter anderen:
1 koronare Mikroangiopathien,
1 dynamische Koronarstenosen oder -spasmen,
1 eine Mitralklappenprolaps,
1 ösophageale Motilitätsstörungen,
1 thorakale Wirbelsäulenveränderungen und Muskelverspannungen,
1 eine Hyperventilationsneigung.
Bei einigen Patienten besteht also ein organmorphologisches Korrelat, oft allerdings mit fraglicher Relevanz für
die Symptomatik, bei anderen allenfalls eine Störung somatischer Funktionsabläufe. Herzbezogene Beschwerden
ohne relevante Herzerkrankung sind jedenfalls nicht zwangsläufig psychogen; andererseits schließt der
Nachweis einer organischen Veränderung eine wichtige Rolle psychischer Kausalfaktoren keineswegs aus,
sondern deutet eventuell eher auf ihren Wirkmechanismus hin. Ein monokausal eingeengter Terminus für das
mutmaßlich breitgefächerte Syndrom der funktionellen Herzbeschwerden ist somit weder angebracht noch für
ihr umfassendes Verständnis hilfreich.
Die Rolle psychischer Störungen
Erhöhte Angstbereitschaft
Häufig findet sich eine allgemein oder körperbezogen (hypochondrisch) erhöhte Angstbereitschaft. Diese kann
die formalen Kriterien einer generalisierten Angsterkrankung oder einer Panikstörung mit oder ohne
Agoraphobie erfüllen, deren definierende Symptomatik neben dem Angstaffekt vegetativ vermittelte funktionelle
Herzbeschwerden wie Tachykardie, Herzschmerzen oder Luftnot umfaßt.
Psychische Kausalfaktoren bei nicht kardialen Thoraxbeschwerden
Unter Patienten mit thorakalen Beschwerden und Ausschluß einer herzorganischen Ursache wird die Prävalenz
der Panikstörung mit rund einem Drittel und mehr angegeben (4). Daneben finden sich andere Formen von
Angsterkrankungen sowie depressive Störungen (3, 22, 30). Steht der depressive oder Angstaffekt gegenüber
einer als psychogen eingeordneten Herzsymptomatik eher im Hintergrund, kann nach ICD-10 die Diagnose einer
somatoformen autonomen Funktionsstörung gestellt werden. Damit wird die funktionelle Herzsymptomatik zur
eigenständigen (psychogenen) nosologischen Entität erklärt. Unklar ist aber, ob die Einordnung funktioneller
Herzbeschwerden unter eine der genannten Kategorien irgendeine therapeutische Relevanz besitzt.
Psychische Kausalfaktoren bei Palpitationen
Ähnlich liegt die diagnostische Situation bei den Palpitationen. So fanden sich bei 66 Prozent von 125
konsekutiven Patienten mit Palpitationen keine relevanten Herzrhythmusstörungen (1). Von diesen 82
vorwiegend weiblichen Patienten hatten 29 Prozent mindestens eine psychische Störung, am häufigsten eine
Panikstörung oder eine depressive Episode. Die psychisch gestörten Patienten gaben stärkere Palpitationen und
mehr Begleitsymptome an und suchten signifikant häufiger internistische Kliniken oder Notfallstationen auf als
psychisch unauffällige Patienten.
Ein integriertes Modell
Ein integriertes ätiopathogenetisches Modell funktioneller Herzbeschwerden ist in der Grafik vereinfacht
dargestellt. Es kann weder rein psychogenetisch noch rein kardial verstanden werden. Aufbauend auf
Vorläufermodellen (2, 31), gehen wir vielmehr von vielfältigen Wechselbeziehungen und Rückkopplungen
körperlicher, psychischer und sozialer Einflußgrößen aus: So beeinflussen psychische Faktoren (wie
Persönlichkeit, Konflikte, Streß, Angst) und Krankheitserfahrungen die Wahrnehmung und Interpretation sonst
meist unbemerkt ablaufender körperlicher Prozesse. Bestätigende Faktoren, etwa Reaktionen von familiärem
Umfeld oder Ärzten, tragen dann dazu bei, daß die wahrgenommene Körperfunktion oder die hierdurch
ausgelöste Angst als krankheitswertiges Symptom mit resultierender Beeinträchtigung erlebt wird. Dies hat
wiederum Rückwirkungen auf psychisches und körperliches Befinden: Es kann seinerseits einen Stressor
darstellen, eine vegetative Streßreaktion auslösen und zu einer weiteren Sensibilisierung des Patienten führen.
Reaktionen der Umgebung auf die Symptomdarbietung können den Patienten in seiner Meinung, körperlich
erkrankt zu sein, bestärken und so weiter. Individuell sind innerhalb des skizzierten Rahmens zahllose
unterschiedliche Verläufe möglich, die zu sehr unterschiedlichen Behandlungsoptionen führen können. Diese
können sowohl am somatischen Substrat als auch an psychosozialen Kausal- oder Chronifizierungsfaktoren
ansetzen. !
Psycho-physiologische Interaktionen
Immer wieder wurde die Rolle harmloser physiologischer Veränderungen für die Entstehung und
Aufrechterhaltung von herzbezogenen Ängsten diskutiert. Andersherum stellt sich die Frage, wie es unter dem
Einfluß von Angst zu herzbezogenen Körpersymptomen kommen kann. Einige Beispiele sollen dies
verdeutlichen.
Psychovegetativer
Circulus vitiosus
Klassisch ist der vegetative Circulus vitiosus des Herzangst-Anfalls beziehungsweise der Panikattacke: Hier
wird beispielsweise eine einzelne Extrasystole oder eine leichte Tachykardie als Zeichen einer bedrohlichen
Herzerkrankung gedeutet und führt über den resultierenden Angstanstieg zur Sympathikusaktivierung mit dann
auch deutlicheren physiologischen Veränderungen wie zum Beispiel weiter zunehmender Tachykardie,
Hyperventilation oder Schwindel und weiterer Zunahme der Angst bis zur Panik.
Angst und Mitralklappenprolaps
Als ein anatomisches Korrelat von Panikstörungen oder funktionellen Herzbeschwerden wurde der
Mitralklappenprolaps (MVP) angesehen (26). Neuere Studien fanden dagegen bei Patienten mit
nichtischämischen Herzbeschwerden keine Unterschiede in der Symptomatik zwischen Patienten mit oder ohne
MVP (14, 25). Aus heutiger Sicht erklärt der MVP nur in den wenigsten Fällen mit etwa relevanter
Mitralinsuffizienz, gehäuften oder höhergradigen Rhythmusstörungen tatsächlich eine kardiale Symptomatik
ausreichend. Bei Patienten mit erhöhter Angstbereitschaft kann er dann gelegentlich auch Panikattacken
auslösen. In der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich aber um klinisch inapparente Normvarianten, die
weder mit funktionellen Herzbeschwerden noch mit Angsterkrankungen signifikant zusammentreffen, sondern
allenfalls der Befriedigung des Kausalbedürfnisses von Arzt und Patient dienen (25).
Funktionelle Beschwerden bei Koronarpatienten
Wie gelegentlich ein MVP kann auch eine KHK Auslöser einer (zusätzlichen) funktionellen Symptomatik sein.
Bekannt ist, daß etwa die relativ häufige Postinfarkt-Depression mit verstärkter subjektiver Symptomatik
einhergeht (20). An einem großen Kollektiv konnten wir zeigen (11), daß bei KHK-Patienten die
Symptomangaben mehr vom Ausmaß der Ängstlichkeit abhängen als vom kardialen Befund. Auch die
Häufigkeit pektanginöser Beschwerden während Belastungsischämie ist wesentlich durch psychische Variablen
beeinflußt (8, 10). In diesen Fällen handelt es sich freilich um organisch erklärbare Beschwerden, deren
subjektive Relevanz allerdings unter Mitwirkung psychischer Faktoren entsteht. Daneben kommen nicht selten
bei Koronarpatienten pektangiforme Beschwerden ohne nachweisbare Ischämie beziehungsweise Palpitationen
ohne dokumentierbare Rhythmusstörungen vor, die wiederum - mit oder ohne weitergehende psychische
Störung - auf dem Boden einer ängstlichen Aufmerksamkeit für normale physiologische Veränderungen am
Herzen oder seinen Nachbarorganen entstehen. Wie wichtig die kognitive Bedeutung der Symptomatik ist, zeigt
sich auch daran, daß selbst bei vollständig revaskularisierten Koronarpatienten immer wieder eine ausgeprägte
Herzangstsymptomatik mit häufigen pektanginösen Beschwerden beobachtet werden kann, die dann zur
Durchführung wiederholter Kontrollangiographien verleitet.
Ösophageale
Motilitätsstörungen
Eine häufige Alternativerklärung für thorakale Beschwerden betrifft die Funktionsstörungen des Ösophagus. So
kann eine ösophageale Motilitätsstörung zwar reproduzierbar mit den geklagten Beschwerden einhergehen.
Fraglich bleibt allerdings, ob sie im engeren Sinne hierfür ursächlich ist oder ob es sich nicht eher um einen
Ausdruck einer zum Beispiel psychogen bedingten vegetativen Imbalance handelt, die dann zu "funktionellen"
Spasmen führt. Bekannt ist eine hohe Prävalenz psychischer Störungen bei Patienten mit nicht kardialen
Thoraxschmerzen und dokumentierten ösophagealen Kontraktionsstörungen (7).
Damit ist die Kausalität zwar nicht zweifelsfrei geklärt; es soll aber noch einmal herausgestellt werden, daß es
sich bei den funktionellen Herzbeschwerden keineswegs um eingebildete, sondern um sehr reale und subjektiv
stark belastende Beschwerden handelt, an deren Zustandekommen neben psychischen auch physiologische
Prozesse beteiligt sein können.
Diagnostik
Zur somatischen Diagnostik gehört der Ausschluß einigermaßen wahrscheinlicher organmorphologischer
Veränderungen durch
1 Anamnese- und Befunderhebung,
1 Kardiale Diagnostik: EKG, Belastungstest; eventuell Langzeit-EKG, Echokardiographie,
Koronarangiographie,
1 kleine orientierende Labordiagnostik,
1 bei begründetem Verdacht extrakardiale Diagnostik wie Lungenfunktion, Röntgen (Thorax, Wirbelsäule,
Ösophagus), Endoskopie; eventuell weitere Spezialdiagnostik (etwa Nebennieren).
Allein die Durchführung gegebenenfalls invasiver Untersuchungen oder die Mitteilung ihres unauffälligen
Befundes bewirkt aber entgegen anderslautenden Auffassungen nur in der Minderzahl der Patienten eine
Beschwerdebesserung.
Wiederholte körperliche Abklärungen oder Spezialuntersuchungen mit geringem Erklärungswert sollten
möglichst vermieden werden. Ihre Durchführung sowie die hierbei häufigen Bagatellbefunde verstärken sonst
ungewollt die Überzeugung des Patienten von einer bislang nur nicht entdeckten schweren Körperkrankheit.
Damit wäre der Einstieg in die Chronifizierungsspirale aus immer wiederkehrenden, im Ergebnis unergiebigen
somatischen Abklärungen und zunehmender ängstlicher Organfixierung des Patienten erfolgt.
Psychosomatische Basisdiagnostik
Trotz des erheblichen Anteils psychischer Erkrankungen unter Patienten mit funktionellen Herzbeschwerden
erfolgt eine psychosomatische Diagnostik in der somatischen Routine nur selten (19). Eine psychische
Diagnosestellung per exclusionem oder eine unvermittelte Überweisung zum Psychotherapeuten ist allerdings
obsolet. Bewährt hat sich ein Screening mit einem kurzen Angst- und Depressionsfragebogen (13, 14).
Mindestens bei Patienten mit positivem Anhalt für das Vorliegen einer psychogenen Problematik oder
unauffälligen Organbefunden ist eine psychosomatische Anamnese- und Befunderhebung notwendig. Diese
erfolgt am besten innerhalb der Routineversorgung durch einen psychotherapeutisch qualifizierten Allgemeinarzt
oder Internisten (2). Er kann dem Patienten sowohl mit seinem körperbezogenen Erklärungsbedarf als auch mit
seiner Verängstigung und einer eventuell bestehenden psychischen Störung ein haltgebender Ansprechpartner
sein und ihn kompetent beraten. Dies ermöglicht dem Patienten, beide Seiten des Krankheitsbildes in ihrer
jeweiligen Bedeutung zu verstehen und mit dem Arzt weitere Maßnahmen zu planen.
Psychodynamische
Hintergründe
Bei der "Herzneurose" können oft Trennungskonflikte gegenüber hochambivalent besetzten Personen
diagnostiziert werden, an die die Patienten symbiotisch gebunden sind (5). Dabei lassen sich ein offen
symbiotischer und ein pseudounabhängiger Typus unterscheiden (28). Weniger ist bekannt über
psychodynamische Hintergründe funktioneller Herzbeschwerden bei den älteren Patientenkollektiven aus
kardiologischen Einrichtungen. Systematische Untersuchungen hierzu fehlen fast vollständig. Nach unserer
klinischen Erfahrung handelt es sich oft um Patienten mit bislang kompensierter Angstbereitschaft. Gerät bei
diesen Patienten das häufig zwanghaft-narzißtische Lebensarrangement mit relativ rigidem äußerem Rahmen
und starkem Streben nach etwa beruflicher Anerkennung aus dem Gleichgewicht, kann es zur manifesten
psychogenen Erkrankung kommen. Destabilisierende Faktoren sind typischerweise altersbedingt eintretende
oder zumindest drohende Verluste von wichtigen Bezugspersonen, sozialen Rollen oder körperlicher Integrität
und Leistungsfähigkeit, letzteres beispielsweise im Rahmen einer organischen Herzerkrankung. Die
Destabilisierung kann - auch durch Reaktivierung früherer, eventuell kriegsbedingter Traumata - zu
Anpassungsstörungen, depressiven Episoden oder Panikstörungen mit begleitender Herzsymptomatik oder auch
zu rein körperbezogen erlebten "somatoformen" Herzbeschwerden führen (15).
Verlauf
Die Angaben zum Spontanverlauf funktioneller Herzbeschwerden sind wenig ermutigend. Bei Patienten nach
KHK-Ausschluß konnten Follow-up-Untersuchungen über Zeiträume von ein bis elf Jahren zwar eine niedrige
Rate von Myokardinfarkten oder Todesfällen nachweisen; der subjektive Verlauf war aber durchweg
unbefriedigend. So bestanden weithin (12, 21, 24, 27):
1 bei über 50 Prozent mindestens unverändert starke Beschwerden,
1 bei über 50 Prozent Einnahme von Herzmedikamenten,
1 bei bis zu 100 Prozent Behinderungen in täglichen Aktivitäten,
1 eher schlechtere subjektive Verläufe als bei vergleichbaren Koronarpatienten, insbesondere signifikant mehr
Körpersymptome und häufigere Rehospitalisierungen wegen extrakardialer Probleme, und
1 zahlreiche weitere Probleme einschließlich anhaltender psychischer Beeinträchtigungen.
Persönlichkeitsmerkmale
und Verlauf
Der unbefriedigende Verlauf ist nur zum kleinsten Teil auf Erkrankungen anderer Organsysteme
zurückzuführen. Die wesentliche Verlaufsvorhersage ergibt sich vielmehr aufgrund bestimmter
Persönlichkeitsmerkmale (12, 32). Insbesondere die Somatisierungsneigung zum Zeitpunkt der initialen
Diagnostik sagt nach zweijähriger Beobachtungsphase das Fortbestehen von Herzbeschwerden und hierdurch
bedingten Behinderungen voraus.
Therapie
Psychodynamische Prozesse und Persönlichkeitsmerkmale bieten einen der Ansatzpunkte der Therapie. So
gehört die psychodynamische Psychotherapie insbesondere in Deutschland zur Standardbehandlung (junger)
"Herzneurotiker". Ihre Wirksamkeit wurde immer wieder klinisch beschrieben, kontrollierte randomisierte
Studien fehlen jedoch weitgehend.
Einige Studien untersuchten den Effekt psychopharmakologischer oder psychotherapeutischer Interventionen bei
Patienten mit Thoraxschmerzen und ausgeschlossener Koronarerkrankung. Dabei blieb unbeachtet, welche
psychische Störung möglicherweise bei den Patienten vorlag.
So konnte mit Imipramin - unabhängig vom antidepressiven Effekt - eine signifikante Symptombesserung
erreicht werden (6). Der Langzeiterfolg dieser Behandlung ist aber unklar.
Die Ergebnisse aktueller Psychotherapiestudien sind uneinheitlich. So zeigte eine kurze Gesprächsintervention
durch eine kardiologische Krankenschwester keinen Erfolg (29).
Dieselbe Arbeitsgruppe konnte dagegen mit einer kognitiv-behavioralen Gruppentherapie (maximal zwölf
Sitzungen) eine signifikante Beschwerdebesserung gegenüber einer Kontrollgruppe erzielen, die auch einige
Monate nach Therapieende teilweise weiterbestand (23). Ihr Therapieangebot bestand aus
1 Informationen über Art und Prognose der Beschwerden,
1 Suche nach Alternativen zu "katastrophisierenden" subjektiven Konzepten der Patienten,
1 Förderung eines veränderten Umgangs mit der Symptomatik unter Einschluß von Entspannungs- und
Atemübungen,
1 allmählicher Steigerung körperlicher Aktivitäten zur Überwindung des Vermeidungsverhaltens und
1 lösungsorientierter Bearbeitung psychosozialer Belastungen sowie der hierdurch entstehenden Gefühle von
Angst und Streß.
Diese zwei Studien belegen, daß eine fachgerecht durchgeführte Psychotherapie bei Patienten mit funktionellen
Herzbeschwerden offenbar wirksam und einer einstündigen Beratung durch eine psychotherapeutisch nicht
qualifizierte Kraft - wie sie günstigenfalls in der somatischen Routine stattfindet - überlegen ist. Keine klare
Differentialindikation ergibt sich für die verschiedenen fachgerecht eingesetzten Therapieverfahren.
Vergleichende Untersuchungen zwischen kognitiv-behavioralen und psychodynamischen Behandlungen fehlen
für Patienten mit funktionellen Herzbeschwerden. Beide Verfahren haben sich jedoch in der Behandlung der
häufig zugrundeliegenden Angsterkrankungen oder depressiven Störungen als wirksam erwiesen (9).
Hinweise zum Umgang mit dem Patienten
Sinnvollerweise wird ein Großteil der Versorgung im Rahmen der hausärztlichen Praxis erfolgen. Hier werden
die meisten Patienten von einer guten psychosomatischen Grundversorgung profitieren (Ernstnehmen der
körperlichen Symptomatik inclusive Durchführung der in jedem Einzelfall indizierten, angepaßten kardialen
Erstdiagnostik, ausführliche Erörterung der Befunde und ihrer Bedeutung, gegebenenfalls Erklärung der
Relevanz von Bagatellbefunden, Beachtung psychosozialer Auslösungs- und Chronifizierungsfaktoren).
Symptomatisch können bei Patienten mit einer herzbezogenen Hauptsymptomatik Betablocker zur
Durchbrechung des vegetativen Circulus vitiosus oder zur Unterdrückung angstauslösender Extrasystolen (etwa
beim MVP) hilfreich sein. Von einem unkritischen Einsatz von Psychopharmaka ist abzuraten. Neuroleptika
oder Tranquilizer sollten wegen des Spätdyskinesie- beziehungsweise Abhängigkeitsrisikos nur gegen akute
Angst, nicht aber längerfristig verordnet werden. Dagegen scheint eine Behandlung mit Antidepressiva, wenn
auch erst nach mehrwöchiger Dauer, eine zumindest zeitweise Symptombesserung bei akzeptablen
Nebenwirkungen zu ermöglichen.
Bei persistierenden Beschwerden, anhaltenden psychosozialen oder innerpsychischen Konflikten und/oder
Bestehen schwerer psychischer Grunderkrankungen, etwa schwerer Panikstörungen oder depressiver
Erkrankungen, ist eine fachärztliche Psychotherapie erforderlich. Akute Krisensituationen oder chronifizierte
Verläufe mit multiplen Somatisierungssymptomen oder starken sozialen Beeinträchtigungen sowie immer
wiederkehrenden Notfalleinweisungen stellen in Einzelfällen eine Indikation für stationäre Psychotherapie dar.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-131-136
[Heft 3]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Priv.-Doz. Dr. med.
Christoph Herrmann
Klinik für Psychosomatik und
Psychotherapie
Universität Göttingen
Von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen
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