THEMEN DER ZEIT
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: Hilfestellung zur Indikation
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Seit Mai liegt die aktuelle Revision des DSM-5 vor. Die mediale Kritik daran bezog sich vor allem auf die Befürchtung, normale Probleme würden durch einige neue Diagnosen übermäßig „psychiatrisiert“ beziehungsweise „medikalisiert“. Plädoyer für eine Versachlichung der Debatte
Die Frage, wie es um die Definition psychischer Störungen bestellt ist, wird im Rahmen der aktuellen Revision des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) heiß diskutiert (1). Dass die bisherige Störungsdiagnostik einige Schwierigkeiten hat, ist allgemein anerkannt. Hierzu zählen zum Beispiel die fast ausschließliche Basierung auf einem subjektivem Selbstbericht, die Heterogenität der diagnostizierten Menschen innerhalb der Störungsklassen oder der Mangel an eindeutigen Indikationen für Behandlung und Prävention.
Die Änderungen im DSM-5
Die allgemeine Definition einer psychischen Störung im DSM-5 hat sich gegenüber DSM-IV kaum verändert (Kasten). In Bezug auf die Gruppierung von Diagnosen wurden einige Veränderungen vorgenommen, die zum Teil durch Forschungsergebnisse nahegelegt wurden: zum Beispiel die Verschiebung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) von den Angststörungen zu einer neuen Gruppe von „Trauma- und stressbezogenen Störungen“ oder die Zusammenfassung von Substanzmissbrauch und -abhängigkeit in eine Gruppe von Störungen durch Substanzgebrauch, in der eine entsprechende Schweregradeinteilung eingeführt wurde. Explizites Ziel der Veränderungen war die Erhöhung der klinischen Nützlichkeit, was eine stärkere Betonung dimensionaler Aspekte (zum Beispiel Schweregrade, Ergänzung der Diagnosen um störungsübergreifende Skalen) und gewisse Anpassungen an die ICD erforderlich machte. Ferner erfolgte eine Hinzunahme neuer Diagnosen (die meist auch im DSM-IV bereits unter „Forschungskriterien“ enthalten waren), aber auch eine Zusammenlegung alter Diagnosen (die Gesamtzahl spezifischer Diagnosen wurde von 172 im DSM-IV auf 157 im DSM-5 reduziert). Einige Beschwerdebilder und Risikozustände, deren Krankheitswert von verschiedenen Interessengruppen nachhaltig postuliert wird (zum Beispiel „attenuated psychosis syndrome“, Burn-out-Syndrom), wurden nicht aufgenommen. Wesentlich für die Diskussion um eine potenzielle Ausweitung des Krankheitsbegriffs sind neben den neuen Diagnosen auch die Lockerung einzelner diagnostischer Kriterien (zum Beispiel bei ADHD, Depression bezüglich Trauerreaktion, Autismusspektrum).
Insgesamt betonen an der DSM-5-Entwicklung beteiligte Experten, dass die Veränderungen längst nicht so umfangreich waren, wie dies das große öffentliche Aufsehen vermuten lässt. Prominentester Kritiker des DSM-5 ist Allen Frances, der US-amerikanische Psychiater und ehemalige Vorsitzende der DSM-IV-Kommission, aber auch internationale Fachverbände und weitere Kolleginnen und Kollegen haben zum Beispiel in einem „statement of concern“ große Bedenken angemeldet (2). Diese beziehen sich zum Teil auf inhaltlich-methodische Aspekte, wie dem Vorwurf mangelnder Reliabilität und Validität, und den Prozess der DSM-5-Entwicklung, beispielsweise wurden externe wissenschaftliche Reviews und die sogenannten Field Trials nicht wie geplant vollendet. Vor allem aber wird vor einer übermäßigen „Psychiatrisierung“ beziehungsweise „Medikalisierung“ von „normalen Problemen“ gewarnt.
Das DSM-5 stelle eine Gefährdung der Patientensicherheit dar, indem diagnostische Schwellen herabgesetzt beziehungsweise neue Kategorien eingeführt werden. Dies führe zu falscher Etikettierung bei Personen, die besser ohne Störungsdiagnose aufgehoben wären, zu unnötigem und potenziell schädigendem Einsatz von Psychopharmaka und entziehe die Mental-Health-Ressourcen.
Die Kritik zielt also auf ganz wesentliche gesellschaftliche Probleme ab, die im Zusammenhang mit der Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen entstehen können; weniger auf DSM-5-spezifisches. Manche Fehlentwicklungen – wie etwa das potenziell unsachgemäße Verschreiben von Psychopharmaka durch überforderte Primärärzte – sind nicht notwendigerweise ein Fehler des verwendeten diagnostischen Systems. Die Befürchtung, künftig könnten die Psychiater, Primärärzte und Psychologen gar nicht anders als „eigentlich Gesunden unnötige Therapien verschreiben“, ist schwer nachvollziehbar. Konsensuierte Klassifikationssysteme sollen eine Hilfestellung zur Indikation bieten. Es geht nicht darum, dass bestimmte heilkundliche Maßnahmen durch eine Diagnose-Bibel verordnet werden sollen.
Hilfreiche Kommentierungen
Außerdem wird bei den Kritiken oft übersehen, dass das DSM nicht nur eine Tabelle mit diagnostischen Kriterien, sondern auch umfangreiche Kommentierungen enthält, die genau dazu Stellung beziehen. Beispiel „Trauer und Depression“: Hier ist es zwar prinzipiell problematisch, dass möglicherweise normale beziehungsweise gesunde Trauerprozesse als Depression diagnostiziert werden, weil im DSM-5 Trauer als Ausschlusskriterium herausgenommen wurde. Schaut man allerdings in die allgemeine Definition einer psychischen Störung (Kasten) und dann im Kapitel zu affektiven Störungen in die Operationalisierung der Major Depression (Anmerkungen zur Differenzialdiagnostik für depressive Störung versus gesunde Trauerprozesse) wird man nichts finden, aus dem sich unmittelbar ableiten ließe, das DSM-5 wolle per Definition das Trauern psychiatrisieren. Eine Bewährung dieser Kriteriumsveränderung in der Praxis steht allerdings noch aus. Ein zusätzlicher Nutzen der Veränderung ist aber nicht abzusehen, da Trauernde, die sich über längere Zeit mit schweren depressiven Symptomen präsentieren (zehn bis 20 Prozent), trotz des bislang geltenden Ausschlusskriteriums in Ausnahmefällen auch schon heute nicht vom Gesundheitssystem abgewiesen, sondern weiterer Abklärung zugeführt worden wären.
Zusammenfassungen und Umklassifizierungen gegenüber dem DSM-IV ändern nichts an der Gesamtprävalenz psychischer Störungen. So erzeugt zum Beispiel die Aufhebung der bisher gültigen Differenzierung zwischen einem Substanzmissbrauch und einer Substanzabhängigkeit keine neuen Fälle, ebenso wie die Verschiebung von PTBS und Zwangsstörungen aus der Gruppe der Angststörungen an andere Orte. Wie es sich aber mit der Prävalenz psychischer Störungen infolge der neuen Kategorien verhält, die qua Definition größere Gruppen betreffen, ist derzeit noch nicht abzusehen. Beispiel DSM-5-Kategorie „Leichte kognitive Störung“, sehr ähnlich dem gängigen Konzept „Mild Cognitive Impairment (MCI)“: Fortschreitende Alterung führt auch bei Gesunden auf natürliche Weise und unvermeidlich zum Nachlassen von Gedächtnisleistungen und anderen kognitiven Funktionen. Ausgeprägtere, altersbedingte Leistungsbegrenzungen gehen mit funktionellen Beeinträchtigungen im Alltagsleben einher. Solche lediglich quantitativ ausgeprägteren Normvarianten des Alterns mit Alltagseinschränkungen werden im DSM-5 als Krankheit (MCI) neu eingeführt, obwohl diese neue Diagnose in den meisten Fällen eher eine Variante der Altersvergesslichkeit darstellt.
Trotz der in solchen Situationen erforderlichen Hilfeleistungen durch die Familie oder die von sozialen Trägern, ist dieser Schritt sachlich nicht zu rechtfertigen, zumal keine evidenzbasierte Therapie zur Verhütung einer Demenz oder zur Verbesserung der Gedächtnisleistungen existiert. Die Auswirkung der Hinzunahme der Diagnose in der klinischen Praxis hinsichtlich Überdiagnostizieren oder Fehlbehandlung bleibt also kritisch zu beobachten. Ebenso verhält es sich mit der „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“, bei der, wenn überdiagnostiziert, jugendliche Entwicklungsauffälligkeiten medikalisiert werden könnten. Auch hier besteht in besonderem Maße die Gefahr der Pathologisierung von alltäglichen Leidenszuständen sowie von natürlichen Anpassungs- und Entwicklungsprozessen.
Auswirkungen auf Prävalenz
Die Prävalenz psychischer Störungen, so wie sie aktuell noch gemäß DSM-IV in epidemiologischen Studien erfasst werden, ist ohnehin hoch und mit großen Kosten verbunden. So zeigt zum Beispiel die aktuelle Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihre Zusatzuntersuchung „Psychische Gesundheit“ (DEGS1-MH; Robert-Koch-Institut und Technische Universität Dresden), dass etwa jede dritte Frau beziehungsweise jeder vierte Mann die Kriterien für mindestens eine der bereits jetzt zahlreichen zur Verfügung stehenden Diagnosen erfüllt (Zwölf-Monats-Prävalenz). Diese Zahlen können bei Verwendung des DSM-5 noch anwachsen. In den Versorgungsdaten der Krankenkassen findet man ähnlich hohe Gesamtprävalenzen.
Dies bedeutet aber nicht automatisch Behandlungsbedarf bei jedem Betroffenen, geschweige denn, dass diese Betroffenen „nicht normal“ seien – ebenso wie körperliche gehören psychische Gesundheitsstörungen zum menschlichen Leben dazu.
Zum Krankheitsbegriff
Das DSM-5 betont, dass psychische Störungen, wie sie im Klassifikationssystem beschrieben sind, in der Regel mit individuellem Leid oder einer erheblichen Beeinträchtigung der sozialen Teilhabe einhergehen. Implizit wird damit vorausgesetzt, dass jede psychische Störung eine im Bereich der Solidargemeinschaft der Versicherten behandlungsfähige Erkrankung ist. Die hier diskutierten Störungsbilder sind allerdings sehr heterogen, sie reichen von lebensbedrohlichen Delirien bis zu milden sozialen Phobien. Hilfreich für die Diskussion des Krankheitsbegriffs ist die im englischen Sprachgebrauch gegebene Differenzierung zwischen einerseits „disease“ als objektiv beziehungsweise qualitativ gestörte psychische Funktion, im Sinne der Bewusstseinstrübung, Desorientiertheit bezüglich Ort, Person und Zeit, der akustischen Halluzination et cetera. Allerdings sind manche der gestörten Funktionen zumindest innerhalb weiter Bereiche genuin dimensional, wie etwa Gedächtnis- oder Antriebsstörungen, so dass auch die „disease“-Bewertung mancher künstlicher Konventionen (zum Beispiel Grenzwerte) bedarf. Die weiteren Komponenten des Krankheitsbegriffs betreffen den individuellen Schaden, den die betroffene Person durch ihre Beschwerden erleidet. Dieser kann im Bereich des leidvollen Krankheitserlebens (illness) oder der Beeinträchtigung der basalen sozialen Teilhabe (sickness) bestehen. Unseres Erachtens ist nicht jedes Störungsbild, das im DSM-5, und auch schon in vorigen Versionen, benannt wird, eine Erkrankung in dem Sinn, dass alle diese drei Kriterien hinreichend erfüllt wären. Allerdings kann etwa ein an ausgeprägter Schüchternheit leidender Mensch, bei dem ohne eine klar identifizierbare basale Funktionsstörung das „disease“-Kriterium nicht zutrifft, dennoch von Psychotherapie profitieren, auch wenn diese leidvolle Schüchternheit keine Krankheit im engeren Sinne darstellt. Eine Solidargemeinschaft der Versicherten kann – analog zu Operationen bei entstellenden Fehlbildungen – entscheiden, dass eine solche Beeinträchtigung auch auf Kosten der Krankenkassen zu behandeln ist. In Deutschland beschäftigt sich aktuell eine Taskforce der DGPPN mit solchen Schwierigkeiten des Krankheitsbegriffs (3, 4).
Viele bereits dem DSM-IV inhärente Probleme befinden sich nach wie vor auch im DSM-5, so dass die Notwendigkeit der Einführung und Sinnhaftigkeit von DSM-5 teilweise angezweifelt werden (5). Aus Forschungsperspektive sind manche Unzulänglichkeiten der DSM-Diagnostik besonders evident, und es wird nach befriedigerenden Alternativen gesucht – gleichwohl wird auch vonseiten der Grundlagenforscher betont, dass im Sinne der klinischen Nützlichkeit ein kategoriales, störungsorientiertes Instrument wie das DSM derzeit noch unverzichtbar ist.
Krankheitskonzepte sollten nur dann ausgeweitet werden, wenn dadurch klinisch relevantes Leiden besser als bisher erkannt werden kann, und manche der neuen, leichteren Diagnosen – für die es zumal wie bei leichter kognitiver Störung gar keine Therapien gibt – sind problematisch. Es bleibt kritisch zu beobachten, ob sich diese neu hinzugekommenen Diagnosen in der klinischen Praxis bewähren, oder ob sie bei zweifelhafter Auslegung möglicherweise einer Medikalisierung von Zuständen und Prozessen Vorschub leisten, für die eigentlich nicht das Gesundheitssystem zuständig ist. Bei einer Ausweitung von Krankheitsdiagnosen ist zu beachten, dass sie einen medizinischen Hilfebedarf kennzeichnen; hiervon sind Krisen-, Leidens- und Risikosituationen abzugrenzen, die durch Eigeninitiative zur Lebensstiländerung, zur Selbsthilfe sowie durch Unterstützung im Familien- und Freundeskreis bewältigt werden können. Es steht zu befürchten, dass durch manche im DSM-5 vorgenommene Grenzverschiebung dieses unverzichtbare persönliche und gesellschaftliche Potenzial der Anpassung und Regeneration nicht mehr angemessen zum Tragen kommt.
Bei den gegebenen begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems muss zudem bedacht werden, dass mit Einführung neuer Diagnosen neue Leistungsansprüche entstehen. Dies kann in der Konsequenz zu einer Vernachlässigung der Versorgung von Menschen mit den bereits jetzt als Diagnose existierenden – insbesondere den schweren – psychischen Erkrankungen führen. Letztendlich ist es also eher eine gesellschaftliche als wissenschaftliche Frage, welchen Stellenwert die Förderung psychischer Gesundheit sowie die Prävention und Behandlung psychischer Störungen erhalten.
Das DSM-5 hat nicht den Anspruch, für die nächsten 20 Jahre in Stein gemeißelt zu sein, sondern es ist ein „living document“: Angesichts der nach wie vor bestehenden Probleme der Diagnostik psychischer Störungen soll in Zukunft auch bereits in kürzeren Zeitabständen nachgesteuert werden.
Entwicklung der ICD-11
Das in Deutschland gültige Diagnosesystem, die ICD-10, ist zumindest in einigen Störungsbereichen (zum Beispiel F3 und F4) erstens „weicher“ als das DSM-5 (zum Beispiel für Depression nur vier anstatt fünf Mindestsymptome) und zweitens „unpräzise-ausgeweiteter“ (zum Beispiel „Mixed-Anxiety-Depression“-Diagnose). Und sie ist drittens auch nicht wie das DSM mit den genannten wichtigen Kommentierungen und Handreichungen zum sachgemäßen Gebrauch ausgestattet. Es ist zu hoffen, dass die Diskussion einzelner kritischer Veränderungen im DSM-5 hier in die entsprechenden Beratungen bei der Entwicklung hin zur ICD-11 eingeht.
- Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2013; 110(49): 2364–8
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. Frank Jacobi
Klinische Psychologie und Psychotherapie, Psychologische Hochschule Berlin,
Am Köllnischen Park 2, 10179 Berlin
f.jacobi@psychologische-hochschule.de
@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4913
Definition im DSm-5
A mental disorder is a syndrome characterized by clinically significant disturbance in an individual’s cognition, emotion regulation, or behavior that reflects a dysfunction in the psychological, biological, or developmental processes underlying mental functioning.
Mental disorders are usually associated with significant distress or disability in social, occupational, or other important activities. An expectable or culturally approved response to a common stressor or loss, such as the death of a loved one, is not a mental disorder.
Socially deviant behavior (e. g., political, religious, or sexual) and conflicts that are primarily between the individual and society are not mental disorders unless the deviance or conflict results from a dysfunction in the individual, as described above.
Universitätsklinikum Bonn: Prof. Dr. med. Maier, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin: Prof. Dr. med. Heinz
1. | APA: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th Edition. Arlington: American Psychiatric Association. Umfangreiches ergänzendes Material und Quellen 2013: www.dsm5.org |
2. | Plattform DSM-5-Kritik: http://dsm5response.com |
3. | Heinz A: Der Krankheitsbegriff im Spannungsfeld. Psyche im Fokus, 2013; 1(2): 12–5. |
4. | Maier W et al.: Wann wird seelisches Leiden zur Krankheit? Zur Diskussion um das angekündigte Diagnosesystem DSM-V, 2013. http://www.dgppn.de/publikationen/stellungnahmen/detailansicht/article/141/wann-wird-se.html |
5. | Casey BJ et al.: DSM-5 and RDoC: progress in psychiatry research? Nature Reviews Neuroscience 14, 2013: 810–14. CrossRef MEDLINE |
6. | NIMH Research Domain Criteria: www.nimh.nih.gov/research-priorities/rdoc/nimh-research-domain-criteria-rdoc.shtml |
Döpfmer, Susanne; Heintze, Christoph